01.05.2002

Warum Deutschland bei den Luschen angekommen ist

Analyse von Stefan Chatrath

Über den Niedergang des deutschen Fußballs.

Hans Meyer, Trainer von Borussia Mönchengladbach, bringt die Misere des deutschen Fußballs auf den Punkt: „Ich könnte Ihnen auf Anhieb 30 Spieler nennen, die in der deutschen Nationalmannschaft nie den ganz großen Durchbruch geschafft haben, über die der deutsche Fußball aber heute glücklich wäre, wenn er sie zur Verfügung hätte: Spieler wie etwa Thomas Allofs, Uwe Bein oder Holger Fach.“ Und in der Tat leidet die deutsche Nationalmannschaft, einst Aushängeschild des deutschen Fußballs, an einem Mangel an herausragenden Spielern. Nur wenige Talente haben sich in den letzten Jahren in den Vordergrund spielen können: Sebastian Deisler, Michael Ballack und Sebastian Kehl stehen ziemlich allein auf weiter Flur. Zwar konnte unter Teamchef Rudi Völler der Absturz der deutschen Nationalmannschaft erst einmal gebremst werden. Doch wie konnte es so weit kommen, dass Deutschland nicht mehr zur absoluten Weltspitze zählt und bei der kommenden Weltmeisterschaft in Ostasien schon das Erreichen der Runde der letzten Acht als großer Erfolg gilt?

Nachwuchsarbeit – 20 Jahre nicht viel passiert…

1993 legte der frühere Bundestrainer Berti Vogts der Führungsspitze des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) ein 46-Thesen-Papier vor. Kurz zuvor war die deutsche Jugend-Nationalmannschaft bei der U20-Weltmeisterschaft in Australien in der Vorrunde gescheitert. Vogts sah daher dringenden Handlungsbedarf in Sachen Nachwuchsarbeit. Auf dem Weg vom DFB-Vorstand über die Vorstände der Regional- und Landesverbände bis hin zu den Verbandstrainern blieben jedoch die meisten seiner Forderungen auf der Strecke. Von den Erfolgen der Vergangenheit geblendet, verweigerten zahlreiche DFB-Funktionäre und -Trainer die Gefolgschaft: „Was umgesetzt wurde, waren schwere Geburten, die sich über drei, vier Jahre hinzogen, etwa die Gründung der Jugend-Regionalligen“.[1] Für Gernot Rohr, lange Jahre Jugendkoordinator bei Girondins Bordeaux, kein Einzelfall: „In Deutschland ist 20 Jahre nicht viel passiert.“

Sowohl der DFB als auch die Bundesligavereine haben es versäumt, das Ausbildungssystem junger Nachwuchskicker rechtzeitig zu reformieren, so dass der Abstand zur absoluten Weltspitze in der jüngeren Vergangenheit kontinuierlich angewachsen ist. Während andere Nationen schon früh erkannten, dass die klassische Nachwuchsförderung an ihre Grenzen stößt, setzten DFB und Bundesligavereine noch auf die herkömmlichen Konzepte: Anstatt, wie in den meisten führenden europäischen Fußballnationen längst geschehen, ein System der fußballerischen Elitenbildung aufzubauen, vertraute man weiterhin auf eine breitensportbasierte Nachwuchsarbeit. Eine eklatante Fehleinschätzung, wie die letzten großen Turniere zeigten. Die Strategie, Talente vornehmlich aus dem Breitensport zu rekrutieren, ist aus mehreren Gründen kaum noch tauglich, um international konkurrenzfähig zu bleiben.

Ausdünnung und Strukturwandel des Breitensports

Schon seit geraumer Zeit klagt der DFB, mit über sechs Millionen Mitgliedern der Welt größter Fußballverband, über nachlassendes Interesse vor allem der 14- bis 18-jährigen Nachwuchsspieler. Immer mehr Jugendliche springen ab. Die Austrittsquote liegt derweil bei 60 Prozent. In den letzten 15 Jahren musste ein Rückgang um 20 Prozent auf nunmehr 490.000 Vereinsmitglieder verzeichnet werden: „Sportliche Betätigungen wie Jogging, Bodybuilding oder Squash scheinen den Freizeitbedürfnissen in einer individualisierten Welt näher zu kommen als eine mit dem Mief der fünfziger Jahre behaftete Vereinstümelei“.[2]
Da von einem Zusammenhang zwischen der Anzahl an Nachwuchssportlern insgesamt und der Anzahl für den Leistungssport geeigneter Talente ausgegangen werden kann, hat dieser Trend für einen Spitzensport, der auf personelle Ressourcen aus dem Breitensport angewiesen ist, eine problematische Konsequenz: Es gibt schlichtweg weniger Talente als früher.

So mancher begabte Jugendliche geht dem deutschen Fußball aufgrund des veränderten Freizeitangebots verloren. Noch zu Beginn der achtziger Jahre waren organisiert sporttreibende Jugendliche im Regelfall in nur einem Verein organisiert. Inzwischen ist die Mehrfachmitgliedschaft jedoch üblicher geworden als die Einfachmitgliedschaft: Vor allem Basketball zieht die jungen Talente vermehrt in sein Lager. Studien zufolge gehören inzwischen bis zu zwei Drittel der organisiert sporttreibenden Jugendlichen zwei bzw. mehr als zwei Vereinen an.

“Es gibt schlichtweg weniger Talente als früher.”

Diese Tendenz zur Mehrfachmitgliedschaft, aber auch die erhöhte Quote Jugendlicher, die dem Fußball gänzlich den Rücken kehren, verweisen auf einen strukturellen Wandel des Breitensports: Zu den Sportvereinen wird heutzutage keine Dauerbindung gesucht, sondern eine flüchtige und unverbindliche Beziehung. Für einen aus dem Breitensport rekrutierenden Spitzenfußball stellt dies ein nicht zu unterschätzendes Problem dar: Da die Anforderungen an die professionellen Fußballspieler in der jüngeren Vergangenheit rasant angestiegen sind, ist deren Spezialisierung schon im jungen Alter wichtiger denn je. Andernfalls ist heutzutage ein Vorstoß in die absolute Leistungsspitze kaum noch möglich. In Frankreich werden daher die jungen Talente schon im Alter von neun Jahren in fußballbetonten Schulen zusammengezogen, in denen sie dann systematisch auf den Profifußball vorbereitet werden. Ambitionierte Nachwuchskicker können so optimal gefördert werden und laufen seltener Gefahr, in ihrer sportlichen Entwicklung zu stagnieren, da die Konkurrenz zu ebenfalls sehr ehrgeizigen Mannschaftskollegen leistungsfördernd wirkt.

Wertewandel im Breitensport

Zwar ist das Sportkonzept der Vereinsjugendlichen weiterhin durch eine ausgeprägte Leistungs- und Konkurrenzorientierung charakterisiert. Doch zu den traditionell sportveinsbezogenen Motiven wie Leistung und Wettkampf, deren starke Ausprägung Vereinsmitglieder und Nicht-Vereinssportler deutlich voneinander unterscheidet, gesellt sich verstärkt ein weiteres Motivbündel :Gesundheit im ganzheitlichen Sinn, Fitness und Körpererfahrung gewinnen an Bedeutung und verändern die vormals einheitliche Wertestruktur des Breitensports.[3]„Das klassische Vereinsmitglied mit traditionellem Sportverständnis steht nun Angehörigen von Bevölkerungsgruppen gegenüber, deren sportive Bedürfnisse nicht“ – oder nur bedingt – „auf die Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen ausgerichtet sind“.[4]
Die Stellung des leistungsbezogenen Fußballs im Breitensport relativiert sich durch diesen Wandel der Wertestruktur zwangsläufig: Da Sportvereine nach wie vor auf die Gewinnung neuer Mitglieder angewiesen sind, bedeutete für zahlreiche Vereine die Heterogenisierung sportbezogener Bedürfnisse und Ansprüche die Notwendigkeit, ein entsprechend vielfältiges Sportangebot bereitzustellen. In diesem Sinne war die Entstehung neuer Abteilungen und Kurssysteme sowie die Beschäftigung neuer, speziell qualifizierter Übungsleiter ein zwangsläufiger Schritt, der jedoch bei gegebener finanzieller Ausstattung zu Lasten des fußballtspielenden Nachwuchses ging: Sportvereine verstehen sich vermehrt als „innovative Breiten- und Freizeitsportanbieter“.[5]
Es kann also nicht verwundern, dass die klassische breitensportbasierte Nachwuchsförderung zum Scheitern verurteilt ist: Vor allem angesichts des Struktur- und Wertewandels im Breitensport ist eine solche Herangehensweise nicht mehr zeitgemäß. Das ausgeklügelte System der fußballerischen Elitenbildung hat sich unter den veränderten Bedingungen als die bessere Alternative erwiesen. In Frankreich werden die Früchte eines solchen Modells nun geerntet: Fast der komplette Nationalmannschaftskader durchlief das französische Ausbildungssystem. Thierry Henry, 24-jähriger Weltklasse-Stürmer von Arsenal London, verkörpert das Resultat dieser Ausbildung: technisch versiert, dynamisch, beidfüßig, kopfballstark und taktisch geschult.

Hohes Spielniveau – hohe Anforderungen

Der systematische Aufbau einer Fußballer-Elite ist auch deshalb vonnöten, da die Anforderungen an den Spitzennachwuchs rasant gestiegen sind. Athletik der Spieler und Schnelligkeit des Spiels haben ein hohes Niveau erreicht: „In den frühen Siebzigern hat ein Mittelfeldspieler über 90 Minuten zwischen vier und fünf Kilometer Laufstrecke hinter sich gebracht, heute sind es zwischen acht und elf“.[6]Auch als Abwehrspieler reicht es heute nicht, nur den Ball treffen zu können. In einer Mannschaft auf höchstem Niveau muss heutzutage jeder imstande sein, ein Offensivkonzept mitzutragen: „Basis für den Erfolg ist die technische Perfektion aller Spieler. Denn die Spielaufgaben werden, egal auf welcher Position, immer komplizierter“, bilanzierte die Fachzeitschrift Fußballtraining nach der Europameisterschaft 2000. Und weiter: „Die Zeiten festgefügter, unflexibler Spielsysteme mit festen Positionsaufgaben für jeden einzelnen Spieler sind vorbei. Europameister Frankreich präsentierte im Turnierverlauf gleich zwei unterschiedliche Systeme mit breitem Aktionsspielraum vor allem in der Offensive für jeden Akteur“.[7]Die systematische Schulung junger Nachwuchskicker muss daher heutzutage früher und intensiver betrieben werden. Wo kann dies besser geschehen als in fußballbetonten Schulen bzw. Fußball-Internaten?

So gesehen relativieren sich dann auch die vielen Klagen über den fehlenden Straßenfußball als Hauptursache für die Talfahrt des deutschen Fußballs: „Die Idee vom Straßenfußballer, der sich spielerisch zum Star entwickelt, ist heute nicht viel mehr als ein Wunschgedanke“, so eine einschlägige Studie.[8]

Das Bosman-Urteil

Das Niveau der Fußball-Bundesliga hat sich insbesondere im Zuge des so genannten „Bosman-Urteils“ noch einmal deutlich erhöht: Am 15. Dezember 1995 erklärte der Europäische Gerichtshof die bis dato geltenden Ausländerbeschränkungen im Spitzenfußball für nichtig. Die Profivereine konnten nunmehr weltweit ausschließlich nach Leistungskriterien rekrutieren, ohne auf die Herkunft der Spieler achten zu müssen. In der Folge stieg der Ausländeranteil in der Fußball-Bundesliga deutlich an – von 18,6 Prozent in der Saison 1995/96 auf 47,8 in der abgelaufenen Spielzeit. Unter den veränderten Bedingungen ist es für junge deutsche Spieler zunehmend schwieriger geworden, sich durchzusetzen: Durch das „Bosman-Urteil“ wurde das sportliche Leistungsprinzip radikalisiert. Die Ansprüche an den Spitzennachwuchs sind dementsprechend erneut deutlich gestiegen. Die Nachwuchskicker müssen heutzutage in der Lage sein, sich gegen eine immer größer werdende Konkurrenz zu behaupten. Die Vereine haben seit dem „Bosman-Urteil“ die Möglichkeit, dem Risiko des langfristigen und in seinem Ausgang unsicheren Aufbaus von Talenten auszuweichen, indem sie kurzfristig fertige, zumeist ausländische Spieler unter Vertrag nehmen. „Und deshalb müssen wir den Jugendlichen klarmachen, dass sie, wenn sie im Spitzenfußball Fuß fassen wollen, hart an sich arbeiten müssen. Vielleicht härter als die Generationen vorher“, sagt Dietrich Weise, mittlerweile Projektleiter der Talentförderung beim DFB.

“Das „Bosman-Urteil“ hat die Versäumnisse von DFB und Bundesligavereinen in der Nachwuchsförderung schonungslos offengelegt.”

Bei aller ausländischen Konkurrenz: Es ist keinesfalls so, dass gegenwärtig keine viel versprechenden Talente mehr in die Bundesliga nachrücken würden. Aus dem U20-Nationalteam, das 2001 bei der Weltmeisterschaft in Argentinien erstmals seit 14 Jahren wieder die Vorrunde überstand, haben inzwischen elf von 18 Spielern den Sprung in die Profikader geschafft. Eine erstaunliche Quote, die nur in den achtziger Jahren übertroffen wurde. Solche starken Jahrgänge sind jedoch leider immer seltener geworden. Das „Bosman-Urteil“ hat die Versäumnisse von DFB und Bundesligavereinen in der Nachwuchsförderung schonungslos offen gelegt. Statt schon frühzeitig auf Reformen zu setzen und junge Talente vom Grundschulalter an systematisch auf die spätere Profikarriere vorzubereiten, hat man sich bis in die späten neunziger Jahre schlichtweg geweigert, der Realität ins Auge zu schauen. Noch in der Saison 1998/99 wehrte sich der damalige Manager von Werder Bremen, Willi Lemke, vehement gegen den Aufbau einer Fußballer-Elite: „Diesem Prinzip der Auslese will der SV Werder Bremen nicht folgen. Wir haben auch einen gesellschaftspolitischen Auftrag! Wir sind dazu verpflichtet, den Kindern eine Freizeitbeschäftigung anzubieten, ihre Leistungsbereitschaft zu fördern, ihnen solidarisches Verhalten und Teamgeist beizubringen.“

Eine Rückkehr in die absolute Weltspitze wird jedoch ohne konsequente Entwicklung eines Systems der fußballerischen Elitenbildung kaum möglich sein. Das scheinen mittlerweile auch der DFB und die Vereine erkannt zu haben. Mit elf Millionen Euro jährlich will der DFB die Nachwuchsarbeit ankurbeln. Ein bundesweites Stützpunktsystem wurde eingerichtet; die Bundesligavereine wurden dazu verpflichtet, eine eigene Nachwuchsförderung mit sportlicher, medizinischer und pädagogischer Betreuung aufzubauen. Ob und wann die ergriffenen Maßnahmen fruchten, muss abgewartet werden. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass dies gut zehn bis 15 Jahre dauern kann: Die englische „Football Association“ (FA) errichtete schon 1984 ein zentrales Leistungszentrum in Lilleshall, doch für das Nationalteam zahlt sich dies erst seit Mitte bzw. Ende der neunziger Jahre aus. Bekanntester Absolvent der FA-Fußballschule ist daher auch nicht ohne Grund ein Spieler, der erst seit einigen Jahren international für Furore sorgt: Michael Owen, dreifacher Torschütze beim 5:1-Triumph der Engländer in München gegen eine desolate deutsche Mannschaft.

Mit Blick auf die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland bleibt die Hoffnung, dass die hierzulande entwickelten Programme zur Nachwuchsförderung vielleicht schneller greifen. Und wenn nicht, wäre das auch kein Beinbruch – solange die Holländer zu Hause bleiben und die Franzosen nicht schon wieder gewinnen.

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