23.05.2020

Wann wird Deutschland den wirtschaftlichen Abschwung ernsthaft bekämpfen?

Von Sabine Beppler-Spahl

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Foto: andreas160578 via Pixabay / CC0

Die deutsche Wirtschaft war schon vor dem Coronavirus in einer Krise.

Corona wird alles verändern? Das gilt nicht für die Neigung unserer Regierung, sich an den Status quo zu klammern. 

Offiziell soll die Kanzlerschaft von Angela Merkel mit den Parlamentswahlen im Herbst nächsten Jahres enden. Doch niemand Geringeres als Innenminister Horst Seehofer hat die Spekulationen darüber angeheizt, dass sie für eine fünfte Amtszeit kandidieren werde: „Wir können froh sein, dass wir in dieser Situation eine solche Kanzlerin an der Spitze unseres Landes haben“, sagte er der Bild am Sonntag. Er könne nicht bestreiten, den Gedanken einer fünften Amtszeit häufiger im politischen Berlin gehört zu haben, fügte er auch noch hinzu.

Seehofers Worte sollten nicht allzu ernst genommen werden, aber sie weisen doch auf die lästige Angewohnheit mancher Entscheidungsträger der Politik  hin, sich hinter Mutti zu verstecken. Solange Merkel die richtigen Zustimmungsraten zu bekommen scheint, ist offensichtlich alles in Ordnung. Dahinter steckt ein undemokratischer Instinkt, der uns ermutigt, an dem festzuhalten, was wir kennen. Aber das wird dem Land nicht gut tun. Stattdessen sollten wir die Krise nutzen, um die Politik der Regierung mehr denn je zu hinterfragen und zu reflektieren.

Tiefste Rezession seit 1945

Die Wirtschaft ist ein Bereich, den wir kritisch beobachten müssen. Deutschland schlittert in die tiefste Rezession seit 1945. Immer mehr Kommentatoren weisen auf die verheerenden Auswirkungen des Shutdowns hin. Laut Prognosen der Deutschen Bank vom Mai könnte das BIP im zweiten Quartal dieses Jahres  um 14 Prozent schrumpfen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zum Vorjahr (April 2019) um über 400.000 angestiegen ist und für 10,1 Millionen Arbeitnehmer aus 751.000 Unternehmen Kurzarbeit angemeldet wurde. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, bekannte, dass ihm diese Zahlen doch schon „ein bisschen den Atem stocken lassen" hätten.

Dies seien die Zeiten des Staats, so heißt es häufig, und das stimmt. Nicht nur der Shutdown wurde von oben verhängt, sondern der Staat greift auch auf beispiellose Weise in die Wirtschaft ein. So hat die Regierung Hilfspakete in Milliardenhöhe für Unternehmen geschnürt. Rund 50 Milliarden Euro entfallen auf Zuschüsse für kleine und mittlere Unternehmen, 500 Milliarden auf Steuerstundungen und 256 Milliarden auf andere finanzpolitische Hilfen. Die Regierung hat auch Geld für Unternehmensbeteiligungen bereitgestellt. Insgesamt plant sie Ausgaben von über einer Billion Euro. Ein solches Maß an staatlichen Eingriffen hat es in der Bundesrepublik noch nie gegeben.

Und dennoch besteht die Gefahr einer drohenden Insolvenzwelle. Der Branchenverband der Deutschen Hotels- und Gaststätten (Dehoga) warnte im April davor, dass bis zu 70.000 seiner Mitgliedsbetriebe im Laufe des Jahres schließen müssten. Ein Drittel der Hotels und Restaurants seien in Existenznot.

Obwohl angesichts des Ausmaßes und der Einzigartigkeit der Krise vieles davon zu erwarten war, wird den Problemen, mit denen Deutschland bereits vor der Covid-19-Epidemie konfrontiert war, nicht annähernd genug Aufmerksamkeit geschenkt. Die Wirtschaft weist seit vielen Jahren Schwächen auf. Schon im vergangenen Jahr, lange bevor das neue Virus in die Schlagzeilen geriet, war von einer drohenden Rezession die Rede. Das BIP betrug 2019 nur 0,6 Prozent, und im Dezember meldete das  Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dass es mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit im neuen Jahr rechne.

Schlimmer noch: Deutschland kämpft seit Jahren mit einem schleppenden Produktivitätswachstum - von 2012 bis 2017 betrug das durchschnittliche Produktivitätswachstum nur 0,8 Prozent. Das viel gepriesene „Beschäftigungswunder" resultierte vor allem aus einem expandierenden Dienstleistungssektor, der schlecht bezahlte und wenig produktive Arbeitsplätze schuf, von denen viele heute gefährdet sind. Anfang Februar dieses Jahres berichtete die F.A.Z., dass der Anteil der Industrie am BIP von 23 Prozent im Jahr 2016 auf 21,5 Prozent im Jahr 2020 gesunken sei. Der Artikel trug die treffende Überschrift „Die schleichende Deindustrialisierung".

„Der langsame wirtschaftliche Abschwung wird von den politischen Entscheidungsträgern weitgehend ignoriert.“

Der langsame wirtschaftliche Abschwung wird von den politischen Entscheidungsträgern weitgehend ignoriert. Es ist keine Überraschung, dass sie kein Interesse an einer kritischen Debatte über deren Ursachen und Folgen haben. Anstatt Visionen und Ideen darüber zu entwickeln, wie das Wachstum wieder hergestellt werden kann, predigen führende Politiker Zurückhaltung und Bescheidenheit. So z.B. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, der in seiner Corona-Ansprache unsere Verwundbarkeit betonte und sagte: „Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, […] dass es immer nur schneller, höher, weiter geht.“

Den Preis für den wirtschaftlichen Einbruch aber werden nicht alle in gleichem Maße zu bezahlen haben – trotz der ständigen Beschwörungen, dass Corona uns alle treffe. Eine  Kultur der niedrigen Erwartungen wird den Ärmsten am meisten schaden. Ein Beispiel sind die über 7,6 Millionen Minijobber, die weder Kurzarbeitergeld noch Arbeitslosenunterstützung erhalten, selbst wenn ihre Arbeitsplätze wegfallen. Dann gibt es auch diejenigen, die wenig oder keine Ersparnisse haben, auf die sie in der Krise zurückgreifen könnten.

Schon vor der Krise gab es große Disparitäten zwischen den reicheren und den ärmeren Regionen Deutschlands, wie eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung von 2019 über das verfügbare Pro-Kopfeinkommen zeigt. In den reichsten Regionen (vor allem in Bayern und im industriellen Süden) liegt dies bei im Durchschnitt 25.000 Euro pro Jahr (in manchen Regionen bei über 35.000 Euro), während es in den ärmsten Gebieten (in Nordrhein-Westfalen oder im Osten Deutschlands) im Schnitt bei 20.000 Euro oder weniger liegt.

Kein Interesse an Reformen

Das Hauptziel der Regierung ist es, die Krise zu überleben und den Status quo aufrechtzuerhalten. Sie hat kein Interesse an grundlegenden Reformen. Trotz der schweren Zeiten, die vor ihr liegen, hält sie an ihren umstrittensten Projekten fest. Eines davon ist die ineffiziente Energiewende, die den Strom in Deutschland so teuer macht (teurer als in jedem anderen europäischen Land). Auch an der Rolle Deutschlands innerhalb der EU oder der Eurozone wird die Regierung nichts ändern wollen. Trotz des jüngsten Verfassungsgerichtsurteils zu den Staatsanleihenkäufen (PSPP) der EZB  wird die Regierung niemals erwägen, von der Zwangsjacke einer gemeinsamen Währung abzurücken – ungeachtet des Leids, das die Einheitswährung in vielen Ländern verursacht.

„Es wäre ein schrecklicher Fehler, sich darauf zu verlassen, dass Mutti Merkel – oder jeder andere in ihrer Regierungskoalition – den Weg aus dieser Krise weisen wird.“

Aber was immer die Regierung auch wünscht: Wir durchleben eine Zeit großer Veränderungen. Es wird des Engagements vieler bedürfen, um sicherzustellen, dass diese Veränderungen gut und menschlich sind und in unser aller Interessen erfolgen. Es wäre ein schrecklicher Fehler, sich darauf zu verlassen, dass Mutti Merkel – oder jeder andere in ihrer Regierungskoalition – den Weg aus dieser Krise weisen wird.

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