01.04.2014

Wahlkampf der siamesischen Regulierungszwillinge

Kommentar von Johannes Richardt

Dass ausgerechnet die beiden EU-Spitzenkandidaten Martin Schulz und Jean-Claude Juncker die von ihnen mitzuverantwortende Brüsseler Regulierungswut in Ihren Wahlkämpfen kritisieren, wirkt wenig glaubwürdig. Welches Kalkül könnte dahinter stecken? Von Johannes Richardt

In noch nicht einmal zwei Monaten sind wir, damit sind in diesem Fall alle Besitzer einer „Unionsbürgerschaft“ laut Art. 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gemeint, dazu aufgerufen, das europäische Parlament zu wählen. Die Wahl fällt in eine Zeit großer Herausforderungen für den Kontinent. Spätestens durch die Eurokrise sind viele der Widersprüche, ungelösten Probleme und Konfliktlinien des europäischen Einigungsprojekts offen zu Tage getreten.

Da gleichzeitig die Kompetenzen des Parlaments erweitert wurden und das Votum der Stimmberechtigten erstmals bei der Benennung des zukünftigen Präsidenten der Europäischen Kommission zumindest „berücksichtigt“ werden muss – der größten Parlamentsfraktion soll das Vorschlagsrecht eingeräumt werden, so dass diesmal alle wichtigen Parteienbündnisse mit europaweiten Spitzenkandidaten antreten – wären die Voraussetzungen für einen zwar nicht unbedingt lupenrein demokratischen aber doch kontroversen und klärenden Europawahlkampf eigentlich so gut wie nie.

Nur: von solch einem Wahlkampf bekommt man bisher leider nichts mit. Und das liegt auch ganz maßgeblich an den zwei Kandidaten, auf die die Wahl zum Kommissionspräsidenten aller Wahrscheinlichkeit nach hinauslaufen wird: dem Christdemokraten Jean-Claude Juncker und dem Sozialdemokraten Martin Schulz. Nicht nur, dass beide wenig inspirierende Politikerpersönlichkeiten sind, sie stehen auch Parteien vor, die auf europäischer Ebene programmatisch noch austauschbarer sind als ihre bereits in hiesigen Verhältnissen kaum unterscheidbaren großkoalitionären Pendants.

„Eine positive Vision für den Kontinent? Fehlanzeige!“

So ist es auch kein Wunder, dass die Beiden, die zu allem Überfluss auch noch ein freundschaftliches Verhältnis miteinander verbindet, noch nicht einmal den Versuch unternehmen sich inhaltlich voneinander abzugrenzen. Nur der Ton unterscheidet sich ein bisschen: Juncker (eher zynisch-technokratisch), Schulz (eher menschelnd-technokratisch); die politische Rhetorik ist gleich: Ein bisschen Mea Culpa und das Gelöbnis der Besserung ob des immerhin inzwischen deutlich so benannten „Demokratiedefizits“, ein wenig Schwarzmalerei hinsichtlich der Zukunft des Kontinents (Demografie, weltweit sinkendes wirtschaftliches und politisches Gewicht etc.), natürlich noch die Beschwörung des „alternativlosen Friedensprojekts EU“ und bei beiden läuft es dann auf den mahnenden Zeigefinger gegenüber dem Wähler hinaus, doch bloß nicht den gefährlichen „Populisten von rechts und links“, sondern den „guten Europäern“ (also ihnen…) die Stimme zu geben – eine positive Vision für den Kontinent? Gute Gründe für die Fortführung des europäischen Integrationsprozesses? Oder doch wenigstens das Bennen der echten Herausforderungen, vor denen wir stehen? Fehlanzeige!

Stattdessen scheinen die siamesischen Politzwillinge, deren politischen Karrieren beide aufs engste mit den technokratischen Strukturen des europäischen Machtapparats verzahnt sind, ausgerechnet die Brüsseler Regulierungswut als Wahlkampfthema für sich entdeckt zu haben: „Europa muss nicht den Durchlauf von Duschköpfen regulieren“, hat sich Martin Schulz unlängst gegenüber der Welt einsichtig gezeigt. Juncker zog letzte Woche in einem Interview mit The European nach und verkündete in Zukunft ebenfalls die Finger von Olivenölkännchen & Co. lassen zu wollen. „Wir haben genug Nonsense gemacht“, so seine bestechende Selbsterkenntnis, die ja laut Sprichwort der erste Schritt zur Besserung sein soll.

„Man darf berechtigte Zweifel haben, dass ausgerechnet das aktuelle europäische Führungspersonal zum Umsteuern bei der Regulierung in der der Lage ist.“

Zweifelsfrei ist die völlig aus dem Ruder gelaufen Brüsseler Regulierungspolitik ein Thema von hoher Symbolkraft. Sie wird völlig zu Recht kritisiert. Die offensichtliche Absurdität (und Freiheitsfeindlichkeit!) vieler Verordnungen, Richtlinien, Direktiven und Vorschriften – mein persönlicher All-Time-Favorit: die legendäre EU-Schnullerkettenverordnung – macht sie zu einem dankbaren Fressen für Kommentatoren. Und gerade vor dem Hintergrund der ökonomischen Verwerfungen in den Krisenstaaten ist die himmelschreiende Überflüssigkeit vieler dieser Regeln noch deutlicher zu Tage getreten – so deutlich, dass jetzt noch nicht mal diejenigen, die uns das Ganze eingebrockt haben, drum herum zu kommen scheinen, das Thema anzugehen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich wäre es sehr begrüßenswert, wenn sich ein gewichtiger politischer Wille zu formieren begänne, der die zunehmende Durchregulierung aller Lebensbereiche wenn nicht gleich stoppen so doch zumindest verlangsamen würde. Man darf aber berechtigte Zweifel haben, dass ausgerechnet das aktuelle europäische Führungspersonal zum Umsteuern in der Lage ist. Es ist wahrscheinlicher, dass nicht echte Einsicht in das Problem, sondern eher die Furcht vor einem Wahlerfolg der „Populisten“ Juncker und Schulz zu ihren Statements bewegt hat.

Gerade der Brüsseler Regulierungswahn verweist auf den fundamentalen Konstruktionsfehler der Europäischen Union, der bisher nie ernsthaft angegangen wurde und bei dem auch zweifelhaft ist, ob er überhaupt reformierbar ist: Die EU ist ein in ihrem Kern zutiefst undemokratisches Gebilde, bei dem es schon seit Gründung vor allem darum ging, die Bürger von der Politik möglichst fernzuhalten. Das Mikromanagement der Gesellschaft durch eine immer kleinteiligere Alltagsregulierung, vom Gurkenkrümmungsgrad über Glühbirnenverbote bis zum „Nichtraucherschutz“, ist das Ergebnis des Fehlens echter Politik und damit einhergehend einer fortschreitenden Verantwortungslosigkeit der nationalen und europäischen Politikeliten.

„Im Versuch individuelles Verhalten von oben zu steuern, verkehrt sich der demokratische Gedanken der politischen Repräsentation von menschlichen Interessen in sein krasses Gegenteil.“


Weder Schulz oder Juncker in Europa noch Merkel und Gabriel auf nationaler Ebene sind willens oder fähig die großen politischen Herausforderungen unserer Zeit anzupacken, Ziele zu formulieren und dafür um Mehrheiten zu streiten. Deshalb setzen sie so sehr auf die Alltagsregulierung vor allem im Verbraucher-, Gesundheits- oder Umweltschutz. Sie meinen, hier wenn schon nicht als echte politische Führungspersönlichkeiten so doch wenigstens als Freund und Beschützer der Bürger punkten zu können.

Mit vielen eher technischen Normierungen etwa hinsichtlich der Vereinheitlichung von Steckdosen, Handyaufladegeräten oder anderen Industriestandards, kann man ja leben. Richtiggehend demokratiezersetzend wirken hingegen die explizit volkspädagogische EU-Normen, die den Menschen etwa „gesundheitsbewusstes“, „antidiskriminierendes“ oder „ressourcenschonendes“ Verhalten eintrichtern sollen. In dem Versuch individuelles Verhaltens von oben zu steuern, verkehrt sich der demokratische Gedanken der politischen Repräsentation von menschlichen Interessen in sein krasses Gegenteil.

Dabei fehlt es im gesamten EU-Konstrukt an klaren Zurechnungsstrukturen für ernsthaftes demokratisches Handeln. Statt der Austragung echter politischer Interessengegensätze geht es in Brüssel um Konsensfindung unter weitestgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist einer der Gründe, weshalb die EU so empfänglich für alle möglichen Partikularinteressen (Konzerne, NGOs, Lobbyisten aller Art) ist, die oft als treibende Kräfte hinter der vielgestaltigen Regulierungspolitik stehen. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit, geschweige denn einen europäischen Demos, dem die EU-Regulierer Rechenschaft ablegen müssen Auch haben in diesem unübersichtlichen Spiel weder die nationalen Regierungen, der europäische Rat, die EU-Kommission noch das Europäische Parlament klar erkennbar den Hut auf. Verantwortlichkeiten werden hin und her geschoben und der Bürger blickt am Ende überhaupt nicht mehr durch, wen er eigentlich für politische Entscheidungen zur Rechenschaft ziehen soll, sucht im besten Fall nach Alternativen zum etablierten Politikmodus oder wendet sich im schlimmsten Fall frustriert von der Politik ab.

„Die Wähler sind zu klug, nicht zu bemerken, dass es aktuell ganz andere Themen gibt, die nach politischen Lösungsvorschlägen schreien.“

Hierbei ist nicht nur den Eurokraten die Schuld zu geben. Oft verzichten nationale Regierungen bewusst auf ihre Gestaltungsmacht, wenn sie beim Durchsetzen unpopulärer Maßnahmen auf das berühmte Spiel über Bande setzen – sprich: über die EU-Ebene Entscheidungen durchsetzen, die ihnen gegenüber der heimischen Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar erscheinen, um danach mit dem Finger auf die doofen Bürokraten in Brüssel zeigen zu können.

Vor diesem Hintergrund ist eines klar: Das technokratische Zweckmäßigkeits- und Effizienzdenken und der erzieherische Eifer, die sich im ständig wachsenden Regelwerk der Brüsseler Beamtenschaft ausdrücken, werden sich nicht von heute auf morgen über Bord werfen lassen, nur weil ein paar Mitglieder der europäischen Eliten plötzlich in trauter Eintracht zur Einsicht gelangen, dass ein paar Richtlinien und Direktiven weniger vielleicht helfen könnten, die Wahlchancen von AfD, Front National, Syriza, UKIP etc. zu verringern.

Die Wähler sind zu klug, nicht zu bemerken, dass es aktuell ganz andere Themen gibt, die nach politischen Lösungsvorschlägen schreien. Wie wäre es zum Beispiel mit der Schuldenkrise, der chronischen Wachstumsschwäche der europäischen Volkswirtschaften oder den sozialen Verwerfungen in Süd- und Südosteuropa? Wieso hört man von den Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft so wenig dazu? Junckers deutsche EVP-Kollegin Frau Merkel würde wahrscheinlich sagen, dass man die Menschen mit so was nicht unnötig beunruhigen will. Aber man wird am Wahltag wohl an der Wahlbeteiligung und am Ergebnis für die „Populisten“ ablesen können, dass manch einer das Gerede über Duschköpfe, die man jetzt auf einmal doch nicht mehr regulieren möchte, auch als eher abtörnend empfinden könnte.

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