01.07.2007

Vor Greenpeace in die Knie gehen?

Analyse von Thomas Deichmann

Wie der Hamburger Verein Großunternehmen „soziale Verantwortung“ abringt, damit ganze Branchen in Aufruhr versetzt und beim Verbraucher Ansehen gewinnt.

Umwelt- oder Verbraucherschutzvereine protestieren seit Anfang des Jahres verstärkt gegen Rückstände chemischer Pflanzenschutzmittel bei Obst und Gemüse im Frischsortiment von Supermarktketten. Bei Hunderten von Beprobungen wurden sie nachgewiesen, zum Teil sogar oberhalb der gesetzlichen Grenzwerte. Greenpeace und Foodwatch würden die Rückstandstoleranzen am liebsten auf null gesetzt sehen. Ihre Kampagnen zeigen Wirkung: Anfang April 2007 hat die Metro-Gruppe (mit Real und Kaufhof) als vierter Großkonzern des Lebensmittelhandels auf die „Pestizidbremse“ getreten. Die Handelskette duldet jetzt von ihren Hauslieferanten nur noch maximal 70 Prozent der gesetzlich zulässigen Rückstände in Obst- und Gemüsewaren. Anfang Mai zog die Tengelmann-Gruppe nach, und wenige Wochen später folgte schließlich auch Edeka. Zuvor hatten schon Lidl, Aldi und die Rewe-Gruppe ähnliche Qualitätsstandards implementiert. Alle sechs führenden Einzelhandelsketten mit Lebensmittelsortiment haben nun neue firmeneigene Normen eingeführt.

Da zurzeit viel über die Notwendigkeit gesünderer Ernährung debattiert wird, wirkt es sympathisch, dass sich Greenpeace und andere Vereine engagieren. Doch das Ergebnis ihrer Arbeit ist fragwürdig. Ernährungswissenschaftler zeigen sich schon besorgt, dass immer mehr Verbraucher einen Bogen um die Obst- und Gemüsestände in den Supermärkten machen, seit Anfang des Jahres häufig von „Giftobst“ und „Giftgemüse“ die Rede ist. Hinzu kommt der anhaltende Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsverlust des „offiziellen Verbraucherschutzes“, für den in diesem Fall das Bundesinstitut für Risikobewertung zuständig ist. Verunsichert sind aber auch die Landwirte, die die Discounter beliefern. Ihre Rechtssicherheit wird durch die hauseigenen Normen geschwächt, weil die gesetzlichen Vorgaben plötzlich als nicht mehr sicher genug gelten.

Zweifelsohne gibt es immer und überall schwarze Schafe, denen es das Handwerk zu legen gilt. Aber ebenso war es schon immer problematisch, die Ignoranz oder kriminelle Energie von Einzeltätern zum Anlass zu nehmen, eine gesamte Branche zu diskreditieren – oder, wie es derzeit passiert, ein im Grunde gut funktionierendes Überwachungssystem infrage zu stellen. Bedroht das im Supermarkt angebotene Obst und Gemüse wirklich die Gesundheit der Verbraucher? Von vereinzelten groben Verstößen gegen die Qualitätspflichten einmal abgesehen, kann dies verneint und für die Verbraucher Entwarnung gegeben werden.

Unbestreitbar ist, dass man Agrochemikalien nicht unnötig in die Lebensmittelkette bringen sollte. Um dies zu erreichen, beproben die zuständigen Behörden Jahr für Jahr Tausende von Lebensmitteln. Bei einem nur geringen Prozentsatz stellen sie Überschreitungen der Grenzwerte fest. Bei etwa 40 Prozent aller Obst- und Gemüseproben werden überhaupt keine Chemikalienreste festgestellt. Der Grund: Ein Bauer bringt die kostspieligen Chemikalien sparsam aus und ohnehin nur dann, wenn es agrartechnisch notwendig ist – wenn also bestimmte Raupen, Käfer oder Krankheiten im Umlauf sind, die seine Ernten bedrohen.
Äpfel zum Beispiel sind anfällig und entsprechend pflegeintensiv. Spinnmilben, Blattläuse, Schorf oder der berüchtigte Apfelwickler laben sich gerne an ihnen. Ohne modernen Pflanzenschutz gäbe es weder die Qualität noch die Vielfalt oder Menge des aktuellen Apfelangebots. Die gesetzlichen Grenzwerte für Pestizid-, Herbizid- oder Fungizidrückstände bei Obst und Gemüse orientieren sich neben gesundheitlichen Aspekten an solchen agrartechnischen Notwendigkeiten und am begleitenden Minimierungsgebot. Ziel ist es, den Chemikalieneinsatz in der Landwirtschaft so gering wie möglich zu halten. In Feldversuchen, die in der Regel über zwei Jahre andauern, wird im Rahmen der Zulassungsverfahren getestet, welche Mengen erforderlich sind, um einen gewünschten Schutzeffekt zu erzielen. Diese Informationen wandern in Gebrauchanweisungen für die Pflanzenschutzmittel.

„Die aktuelle ‚Giftdiskussion‘ ist überzogen: Die festgesetzten Grenzwerte liegen weit unterhalb der Menge, die eine gesundheitsschädliche Wirkung für den Verbraucher haben könnte.“

Grenzwerte werden also oft missverstanden. Wird ein gesetzlicher Grenzwert überschritten, heißt das noch lange nicht, dass man beim Verzehr des Obstes sogleich gesundheitlichen Schaden davonträgt. Das agrartechnische Minimierungsgebot ist nämlich immer den toxikologischen Gesichtspunkten untergeordnet. Die festgesetzten Grenzwerte liegen auf jeden Fall weit unterhalb der Menge, die eine gesundheitsschädliche Wirkung für den Verbraucher haben könnte – und zwar mindestens das Hundertfache unterhalb von Chemiekonzentrationen, bei denen in Tierversuchen erste Symptome der Gesundheitsbeeinträchtigung festgestellt wurden.

Die aktuelle „Giftdiskussion“ entpuppt sich vor diesem Hintergrund als überzogen. Verschwiegen wird in den aktuellen Kampagnen auch der enorme Nutzen der Agrochemie. Pflanzenschutzmittel dienen dazu, Krankheiten und Fraßschädlinge einzudämmen und Unkräuter im Zaum zu halten. Ohne diese Techniken hätten wir binnen Monaten Ernährungsengpässe in Europa. Die Erfindung von Pflanzenschutzmitteln war ein bedeutender Fortschritt, mit dem Hungerskatastrophen aus Europa verbannt werden konnten. Wer sie pauschal als „Chemiegift“ verteufelt, sollte sich die Konsequenzen ihrer Verbannung vor Augen führen.

Allerdings scheint man dies im Lebensmittelhandel vergessen zu haben, seit Greenpeace die Kampagne gegen Pestizide intensiviert hat. Jedenfalls haben sich die großen Handelsketten auf einen Wettstreit eingelassen, bei dem der Hamburger Verein den Schiedsrichter spielt. Die Konkurrenten bemühen sich seit einigen Monaten um neue hauseigene Sicherheitsnormen, um von Greenpeace gelobt zu werden.
Vor zwei Jahren begann Greenpeace, den hart umkämpften Lebensmittelmarkt mit Pestizidvorwürfen aufzumischen. Im Dezember 2005 wurde zum ersten Mal ein „Gift-Preis“ für die „maximale Pestizidbelastung“ vergeben. Greenpeace hatte dafür Untersuchungsergebnisse vorgelegt, nach denen Obst und Gemüse von Lidl mit Rückständen von Pflanzenschutzmitteln am stärksten belastet war. Lidl mit einem Marktanteil von etwa zehn Prozent des Frischeangebots in Supermärkten wurde damit zum Angriffsziel der Kampagne.
Der Discounter hatte Ende 2003 schon einmal vor Greenpeace kapituliert und als erste große Supermarktkette versichert, kein „Gen-Food“ ins Regal stellen zu wollen (auch hier wartet man bis dato auf den Nachweis, dass der Einsatz der Gentechnik in der Land- und Lebensmittelwirtschaft dem Menschen schaden könnte). Dieses Mal sollte Lidl jedoch die volle Kampagnengewalt von Greenpeace zu spüren bekommen. Nach Protesten vor der Konzernzentrale in Neckarsulm und vor Hunderten von Supermärkten litt der Discounter ab Ende 2005 unter starken Umsatzeinbrüchen. Die Unternehmensführung bemühte sich, die Pestizidvorwürfe zu entkräften. Doch der Zug war abgefahren, zumal Greenpeace keine Ruhe ließ und mit ausländischen Organisationen auch noch die Forderung erhob, Lidl solle europaweit das Angebot an Ökolebensmitteln erhöhen.

Lidl ergriff die Flucht nach vorne. Der Discounter ließ sich fortan das Geschäftemachen von Greenpeace mitdiktieren. Bereits im Februar 2006 wurde die „Optimierung der Qualitätskontrolle“ bei Obst und Gemüse kundgetan. Hauslieferanten dürfen seither nur noch sogenannte „QS-zertifizierte“ Ware liefern. Zusätzlich zu diesem Prüfsystem sind neue Grenzwerte für Chemikalienrückstände, die etwa ein Drittel unter den gesetzlich zugelassenen Toleranzen liegen, festgesetzt worden. Wer sich nicht daran hält und nach einer ersten „Zuwiderhandlung“ weiter mit Lidl im Geschäft bleiben möchte, muss vor der nächsten Anlieferung kostspielige Nachweise erbringen. Durch die neuen Normen kann nun auch solches Obst als minderwertig zurückgewiesen werden, das allen gesetzlichen Qualitätsanforderungen entspricht.

Ein einzelnes Produkt wird durch die Unterschreitung von offiziellen Grenzwerten nicht gesünder. Neben dem moralischen Autoritätsgewinn für Greenpeace profitieren davon die Analysefirmen. Der Deutsche Fruchthandelsverband schätzt die aktuelle Zahl der durch den „Gifthype“ zusätzlich durchgeführten Beprobungen bei Obst und Gemüse pro Jahr auf 80.000 – andere Sachkundige sprechen von bis zu 140.000. Bedenkt man, dass für eine Analyse 200 Euro zu zahlen sind, kommt man bei der vorsichtigeren Schätzung auf jährliche Kosten von 16 Mio. Euro, die auf die Verbraucher umgelegt werden. Darüber hinaus verursacht auch die Organisation der neuen Prüfsysteme hohe Zusatzkosten.

Die Mühe hat sich gelohnt: Beim zweiten „Supermärkte-Pestizid-Vergleich“ für 2006, der Anfang 2007 vorgestellt wurde, belegte Lidl im Greenpeace-Ranking einen Spitzenplatz. Wieder waren mehrere Hundert Proben für den Vergleich herangezogen worden. Die Kriterien für ihre Auswertung wurden aber anscheinend auch unter „politischen“ Gesichtspunkten ausgewählt. Der Industrieverband Agrar (IVA) monierte, dass sich die „Rangliste der Supermärkte gravierend ändern“ würde, wenn man einzelne Produkte aus dem Sortiment herausnähme. Tatsächlich wäre Lidl beim neuen Ranking wieder hinten gelandet, hätte man bei der Errechnung der Greenpeace-Rangliste Tafeltrauben ausgeklammert. Die Metro-Gruppe meldete ebenfalls Protest an. Die Kriterien der Rangliste seien gegenüber 2005 verändert worden, weshalb Lidl nun gut abgeschnitten habe. Greenpeace dementierte den Zusammenhang.

Lidl ist zum neuen Greenpeace-Liebling avanciert. Dazu beigetragen haben dürfte auch die im Juni 2007 schon wieder aufgekündigte Vereinbarung von Juli 2006, nach der der Discounter das Greenpeace-Magazin in seinen über 2600 Filialen in ganz Deutschland ins Verkaufssortiment aufnahm. Das Manager-Magazin (2/07) behauptete Anfang des Jahres, seither seien 150.000 Exemplare und damit etwa die Hälfte der Gesamtauflage zweimonatlich gegen Vorauskasse direkt an Lidl ausgeliefert worden, wobei „nur einige Tausend zum stolzen Stückpreis von 4,90 Euro einen Käufer“ gefunden hätten. Lidl wollte hierzu keine Stellungnahme abgeben, wohl aber Jochen Schildt, Chefredakteur des Greenpeace-Magazins. Er bestätigte im April 2007 den Deal mit Lidl, den er als „normales Verkaufgeschäft“ bezeichnete: „Wir verkaufen die Hefte, die dann von Lidl weiterverkauft werden.“ Die im Manager-Magazin genannte Zahl von 150.000 Heften sei zu hoch, Lidl kaufe so viele Hefte, wie der Discounter meine, weiterverkaufen zu können. Nicht verkaufte Ausgaben würden „recycelt“, die tatsächliche Verkaufsquote kenne er nicht.
Brauchte er auch nicht, denn Lidl konnte nicht (wie ein normaler Zeitungsverkäufer und im Pressegrosso üblich) nur die verkauften Exemplare abrechnen. Der Discounter musste stattdessen für die komplett bestellte Menge geradestehen. Bei einem handelsüblichen Rabatt auf den Coverpreis und später behaupteten 60.000 an Lidl verkauften Heften mit einem Herstellungspreis von je einem Euro klingelten mit jeder Magazinausgabe gut und gerne 100.000 Euro in der Redaktionskasse.
Eine Nachfrage beim Leiter einer großen Filiale in Frankfurt am Main ergab, dass pro Ausgabe etwa 50 Exemplare des Greenpeace-Magazins angeliefert werden. Davon würden drei bis vier, in Ausnahmefällen auch einmal fünf Hefte verkauft. Der Rest werde zurück an das Lidl-Zentrallager geschickt. Man kann davon ausgehen, dass sie dort in den Abfall wandern. Es gebe auch Filialen, so der Filialleiter, wo kein einziges Heft verkauft würde. Hochgerechnet gehen also selbst bei reduzierten 60.000 an Lidl verkauften Heften immer noch mehr als 50.000 ins Altpapier – nicht gerade ein Beitrag zur Ressourcenschonung. Nachdem der Deal zwischen Lidl und Greenpeace-Magazin von Novo, Die Welt, „Stern TV“ und dem NDR aufgegriffen wurden, wurde der Vertrag gekündigt. „Greenpeace-Magazin ab Heft 5/07 nicht mehr bei Lidl“, hieß es Ende Juni in einer Meldung. „Wir hätten nie gedacht, dass diese Kombination unsere Glaubwürdigkeit in Frage stellen könnte“, sagte Roland Hipp, Kampagnengeschäftsführer von Greenpeace Deutschland.

Mit dem Greenpeace-Magazin bei Lidl konnte man leben. Problematischer erscheint, dass infolge der Pestizid-Kampagne funktionierende, wissenschaftsbasierte Regelwerke zur Gewährleistung hoher Sicherheitsstandards bei Lebensmitteln ausgehebelt werden und dass gesundes Obst plötzlich als ungenießbar erscheint. Verfechter der altbewährten Sicherheitspraxis (Wissenschaftler und Behördenvertreter) erscheinen wie unglaubwürdige Mitglieder eines Chemiekartells, Greenpeace und Co. als Retter der Menschheit. Ob das uns den Weg in eine gute Zukunft weist?

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