01.07.2007

Von Natur aus gedopt!

Kommentar von Matthias Heitmann

Ein persönliches Geständnis von Matthias Heitmann.

Ja, ich bin gedopt. Täglich. Ich trinke jeden Morgen einen Espresso, um auf Touren zu kommen, und abends gelegentlich ein Bier, um zu entspannen. Ich nehme Schmerztabletten, wenn mein Schädel brummt, und ich putze mir die Zähne, damit mein Gebiss länger hält, als es die Natur vorgesehen hat. Ich verhalte mich also eigentlich prinzipiell unnatürlich, wehre mich gegen Krankheit und Verfall – gegen den natürlichen Kreislauf des Lebens.


Meinen Körper habe ich – ob bewusst oder nicht – mit zuweilen durchaus zweifelhaften Mitteln und einer artfremden Lebensweise so gestaltet, dass ich einigermaßen in ihm zurechtkomme. Ich habe ihn an das angepasst, was ich bin und sein wollte. Das ist nicht immer gesund, aber erlaubt. Mein Körper schüttet beständig Hormone und andere Stoffe aus, die regelmäßig meine Stimmungen schwanken lassen. Zudem manipuliere ich ihn unentwegt mit Kohlenhydraten, auf dass er mehr leisten möge.


Es gibt viele Menschen, die mehr aus ihrem Körper herausholen als ich. Ihre Ziele sind andere als meine. Um sie zu erreichen, brauchen und gebrauchen sie ihren Körper. Und sie beeinflussen ihn sehr gezielt: Sie trainieren täglich und bringen ihn dazu, Belastungen standzuhalten, die nicht normal sind. Sie quälen sich an Hanteln und Gewichten, vollführen seltsame Bewegungen auf absonderlichen Trainingsmaschinen und treiben ihren Puls in schwindelerregende Höhen. Sie dehnen und verknoten ihre Gliedmaßen und schneiden dabei fürchterliche Grimassen. Sie absolvieren Höhentraining, um widerstandsfähiger zu werden. Sie machen auf ihre Art, genauso wie ich, ihren Körper zum Werkzeug ihres Willens. Wir alle leben streng genommen unnatürlich, und alle formen sich – ob gewollt oder nicht – ihren eigenen Körper. Jeder macht das. Bodybuilding im tatsächlichen Sinne.

„Um ihre Leistungen zu verbessern, greifen Menschen zu Hilfsmitteln. Alle Menschen. Schon immer.“


Um ihre Leistungen zu verbessern, greifen Menschen zu Hilfsmitteln. Alle Menschen. Schon immer. Um in rauen Klimazonen überleben zu können, hüllten sie sich dereinst in Tierfelle. Um ihre Beute erlegen zu können, benutzten sie Faustkeile. Um artfremde Nahrung essen zu können, hielten sie sie über das Feuer. Um länger leben zu können, nahmen sie Pflanzen zu sich, die ihre Körper gegen Krankheiten schützten. Sie bauten Häuser, um weniger Körperenergie gegen die Kälte zu verbrauchen. Sie gestalteten ihre Nahrung so, dass sie kräftiger und größer wurden. Sie fingen an, Pflanzen künstlich zu erzeugen, da sich dies als vorteilhaft erwies. Sie verwandelten ungenießbare Gräser in Getreide und wilde Bestien in einfach zu erlegende Haustiere.


Was wären die Menschen ohne Hilfsmittel? Sie wären nicht annähernd so menschlich. Hilfsmittel sind menschlich, sie ermöglichen uns, Leistungen zu erbringen, für die wir rein physisch nicht gebaut sind. Unser Gehirn ermöglicht es uns, die Begrenztheiten unserer Physis zu überwinden, ja manchmal sogar, diese Begrenztheit ganz zu vergessen. Beständig vergrößern wir unsere Möglichkeiten. Unser stärkster Muskel ist unser Verstand. Um diesen weiterzuentwickeln, tun wir die unnatürlichsten Dinge: Wir verbringen Jahre sitzend und zuhörend, wir zwingen unsere Augen auf klein gedruckte Schriftzeichen (und wenn sie dieser Belastung nicht gewachsen sind, setzen wir ihnen gnadenlos geschliffene Gläser vor, damit sie doch tun, was wir wollen), wir machen ein einseitig mentales Höchstleistungstraining, denn andernfalls wären wir in unserer Welt nicht lebensfähig. Meine Mutter sagte früher immer, ich solle viel Fisch essen, denn das sei gut fürs Hirn. Ich hasste Fisch. Die Welt, ein Doping-Sumpf?


Wo liegen die Ursachen dafür, dass zwischen verschiedenen Arten der Leistungssteigerung so vehement unterschieden wird? Man könnte es sich leicht machen und sagen, der Unterschied läge darin, dass einige verboten seien und andere nicht. Doch das ist zu einfach. Regeln haben dann einen Sinn, wenn sie ein konkretes Ziel verfolgen und sich gleichzeitig an lebensweltlichen Wirklichkeiten und klar bestimmbaren Unterschieden orientieren.


Welche Ziele werden mit dem Dopingverbot verfolgt? Ein sauberer, gerechter sportlicher Wettbewerb, sagen manche. Doch ist es gerecht, wenn manche Sportler, da sie die finanziellen Mittel dazu haben, in Hightech-Labors trainieren können und andere nicht? Ist es „fair“, große Menschen gegen kleine antreten zu lassen? Warum gilt jemand, der sich zweimal im Jahr ein intensives Höhentraining leistet, um im Flachland bessere Leistungen zu bringen, als „natürlicher“ und „ehrlicher“ als jemand, der sich Eigenblut – also nicht einmal etwas „Körperfremdes“ – injiziert? Sind Gebirgsbewohner eigentlich immer gedopt? Wo liegt die angeblich so klare Grenze zwischen Vitamin-C-Präparaten und Epo, die viele dazu bringt, das eine zu nehmen und gleichzeitig das andere zu verteufeln? Ob ich mir Hilfsmittel in die Blutbahn spritze oder sie nur auf dem Körper trage – wo liegt der moralische Unterschied?


Doping sei ungesund, argumentieren andere. Das mag stimmen. Andererseits üben Leistungssportler ihren Sport nicht aus, um gesund zu bleiben. Sie verbrauchen ihren Körper, um Ziele zu erreichen. Körperkraft ist Mittel zum Zweck. Ist die Leistung erbracht, ist der Körper nicht selten ein Wrack, der Mensch aber oft ein Held.


Die moralische Ablehnung von Doping erklärt sich nicht dadurch, dass jemand offensichtlich gegen eine klar umrissene Spielregel verstoßen hat. Sie rührt vielmehr von einem sehr seltsamen Verständnis dessen her, was als „natürliche“ oder „menschliche“ Leistung angesehen wird. Dabei macht doch menschliche Leistung – und menschliches Leben insgesamt – gerade aus, dass natürliche Grenzen beständig durchbrochen werden. Wenn Doping als willentlich herbeigeführte unnatürliche Leistungssteigerung definiert würde, wären wir alle überführt. Doch die Definition ist viel banaler, denn sie existiert nicht: Doping ist, was auf der Liste eines Sportverbandes steht. Wir sollten froh sein, dass es vor ein paar Zehntausend Jahren noch keine Sportverbände und Listenschreiber gab. Mit Sicherheit hätten sie den Einsatz des Faustkeils wegen unlauteren Wettbewerbs verboten.

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