01.09.2001

Von England lernen

Analyse von Hartmut Schönherr

Oder warum Gerhard Schröder wieder einmal Orwell lesen sollte.

„Margaret Thatcher glaubte an die Privatisierung. Tony Blair hingegen mag einfach reiche Leute.“ So beschrieb Charles Moore, Herausgeber des konservativen britischen Daily Telegraph in der New York Review vom 19. Juli 2001, den markantesten Unterschied zwischen Margaret Thatcher und Tony Blair.

Gerhard Schröder scheint auch darin Blair als Vorbild zu akzeptieren. In einem Interview für die erste Ausgabe des Magazins Life&Style vom März 1999 erklärte Schröder kurz nach dem Regierungswechsel: „Jeder soll nach seiner Fasson Anzug und Haarschnitt tragen.“ Auf einer Fotostrecke von Peter Lindbergh im gleichen Magazin demonstrierte er mit Brioni-Anzug und Kaschmirmantel, wessen Fasson ihm dabei besonders am Herzen lag.

Feudalisierung der Aufklärung

Nun soll es auch einem Bundeskanzler nicht verwehrt sein, sein Salär in Designer-Klamotten anzulegen. Aber als inoffizielle Regierungserklärung hätte man doch gerne anderes gehört als ein Bekenntnis zur Anzugfreiheit. Mit Wehmut erinnert sich manch Antiklerikaler an die Zeiten, als der Satz von der „eigenen Fasson“ sich noch auf Religion bezog, nicht auf Maßanzüge – als Reaktionäre aufgeklärt wurden, während heute eher das Gegenteil sich abzeichnet. Die sich einst als Aufklärer gaben, Schröder, Fischer, Trittin und andere, finden wir immer häufiger auf Positionen, die Aufklärung auf ihre feudalen Kerne zurücknehmen, sei es in arbeitsmarktpolitischer Klientelbedienung, sei es im Einsatz von Krieg als Mittel der Politik, sei es in ökologischem Savonarolatum.

"Die Dialektik der Aufklärung hat in Deutschland deren einstige Avantgarde erwischt."

Die Dialektik der Aufklärung hat in Deutschland deren einstige Avantgarde erwischt. Neofeudalisierung schlägt zu Buche, soweit das Auge reicht. Das zeigt sich unverhüllt bislang vor allem auf der symbolischen Ebene. Das zentrale Bild der Lindbergh-Fotostrecke in Life&Style präsentiert uns Gerhard Schröder in einem Kaschmir-Mantel zu 4000 Mark, mit hochgeschlagenem Kragen und eng um den Körper gezogenem Tuch. Die linke Hand rafft den Aufschlag, die rechte schiebt sich napoleonisch darunter. Dass Gerhard Schröder damit ein Zeichen gesetzt hat, erwies unlängst ein Beitrag von Roland Nelles in der Woche, dem sozialgrünen Zeitgeistorgan. Dort findet sich unter dem Titel „Der Vize-Kanzler“ ein Foto von Wolfgang Clement, das diesen in Zweireiher und weich fließendem Mantel zeigt – am Sockel einer antikisierenden Säule (30/2001, S.7). Über die politische Substanz Clements weiß Nelles unter anderem zu berichten, dass der Ministerpräsident es verstehe, seinen Chauffeur zu dirigieren!

Schröder selbst erneuerte unlängst seinen Anspruch, der wirkliche und einzige Kaiser im Lande zu sein. Er zeigte sich, unter anderem im Spiegel (27/2001, S.38), flankiert von seinen Lieben: Mutter, Schwester, Cousinen plus Ehemänner – so was hat uns nach Wilhelm II. nur noch die Queen zugemutet.

Kurze Geschichte des Mantels

Ein guter Politiker, so Bismarck, zeichne sich durch den raschen Griff aus, mit dem er den „Mantel Gottes“ fasse. Gemeint waren günstige geschichtliche Gelegenheiten – etwa die zur Reichsgründung 1871. Helmut Kohl sprach nicht mehr von Gott, sondern vom „Mantel der Geschichte“, als der 1989 an ihm vorbeirauschte und von ihm ergriffen wurde. Die Folgen sind bekannt: Unter dem dunklen Mantel der Macht erstickten rasch die Blütenträume der neuen Bundesländer. 1998 machte ein kluger Biograph Kohls, Patrick Bahners, aus dem Mantel einen Buchtitel: Im Mantel der Geschichte. Helmut Kohl oder Die Unersetzlichkeit. Das war kurz vor der Abwahl des unersetzlichen Kohl, womit der Mantel wieder herrenlos in der Luft umherflatterte. So kam der Mantel zu Schröder – vom „Mantel Gottes“ über den „Mantel der Geschichte“ zum Kaschmirmantel säkularisiert.

Orwell revised

Lange, dunkle Mäntel gehören in Orwells 1984 zum Kapitalistenklischee. Es ist einer der Treppenwitze der Geschichte, dass ausgerechnet Sozialdemokraten nun meinen, dieses Klischee für ihren Erfolg ausfüllen zu müssen. George Orwell (mit bürgerlichem Namen Eric Arthur Blair) hatte seine Bücher nicht nur, wie bis zum Überdruß kolportiert wird, gegen eine ferne Bedrohung durch den Stalinismus geschrieben, sondern im vollen Bewusstsein, dass auch die alten Demokratien des Westens den Keim des Totalitarismus in sich tragen – gerade in ihren fortschrittlichst sich dünkenden Gruppen, wie er diesen, solidarisch mahnend, vorhielt. Allerdings artikulierte er diese Sorge in wenig gelesenen Texten wie dem Appendix zu 1984, dem Nachlass-Vorwort zur Farm der Tiere und der Essaysammlung Der Weg nach Wigan Pier.

Auf die Aktualität dieser Texte hat erst unlängst Noam Chomsky hingewiesen, als er die Sprachregelungen westlicher Politiker und Medien zu den Jugoslawien-Konflikten mit dem „Newspeak“ („Neusprech“) verglich, das Orwell im Appendix zu 1984 so vorstellt: „Die Neusprache war die in Ozeanien eingeführte Amtssprache und zur Deckung der ideologischen Bedürfnisse des ‚Engsoz’ erfunden.“ (George Orwell: 1984, Ullstein Vlg. 1984, S.274). Wobei „Engsoz“ für „Englischer Sozialismus“ stand.

Die „Neusprache“ ist bei Orwell gekennzeichnet als semantische Volte um 180 Grad, wie wir sie etwa vom „Minuswachstum“ der Kohl-Zeiten her kennen. Chomsky sah Big Brothers Amtssprache unlängst in Rambouillet und im Kosovo-Friedensabkommen wieder am Werk, wo von Frieden die Rede war und Gewalt praktiziert wurde. Nachzulesen in seinem aufschlussreichen Buch Der neue militärische Humanismus (S.177ff).

Wohlmeinendes Verschweigen

Für Chomsky sind die massiven Vertreibungen von Albanern im Kosovo eindeutig Folge, nicht Ursache der NATO-Bombardements. Und zwar vorhergesehene, bewusst inszenierte Folge – zur Ursache selbst in kritischen Medien umgedeutet durch „vorsätzliche Unwissenheit“ (S.12ff). Zur näheren Erklärung verweist Chomsky auf das Vorwort (in der deutschen Ausgabe: Nachwort) zur Farm der Tiere. Dort tadelt Orwell die freiwillige Selbstzensur von Intellektuellen im Dienste der guten Sache als „intellectual cowardice“ – als intellektuelle Feigheit, die durch eine heillose Angst vor dem Beifall von der falschen Seite charakterisiert sei:

„Was man sage, stimme möglicherweise, doch es sei ‚inopportun‘ und ‚spiele in die Hände‘ dieses oder jenes reaktionären Interesses.“ (George Orwell: Farm der Tiere, Diogenes Vlg. 1982, S.190). Orwell geht so weit, diese wohlmeinenden Thematisierungsverbote mit faschistischen Tendenzen zu verbinden: „Doch wie viel von dem gegenwärtigen Hang zu faschistischen Denkweisen läßt sich auf den ‘Anti-Faschismus’ der vergangenen zehn Jahre und die Skrupellosigkeit zurückführen, die er nach sich gezogen hat?“ (S.195).

Was er im Detail beschreibt, erinnert fatal an den Umkreis der „political correctness“ unserer Gegenwart:

„Zu jeder Zeit gibt es eine Orthodoxie, ein Meinungssystem, von dem angenommen wird, daß es alle rechtdenkenden Leute ohne zu fragen akzeptieren werden. Es ist nicht eben verboten, dies oder jenes zu sagen, aber es ist ‘unschicklich’, es zu sagen, so wie es zu viktorianischer Zeit ‘unschicklich’ war, in Gegenwart einer Lady Hosen zu erwähnen. Jeder, der die herrschende Orthodoxie anzweifelt, sieht sich mit verblüffender Wirksamkeit zum Schweigen gebracht.“ (S.185f)

Gesellschaftsschlussverkauf

Innerhalb von nur zwei Jahren hat die rot-grüne Regierung ihre großen Projekte allesamt verkauft, die Verursachersteuer (fälschlich „Ökosteuer“ genannt) an den Autowahn, die Gesundheitsreform an die Pharmaindustrie, die Rentenreform an das Versicherungswesen und den Arbeitsmarkt an die Gewerkschaften sowie den BDI zu gleichen Teilen.

Und dies mit den besten Absichten! Selbst Schröders Kaschmirmantel könnte als Symbol sozialdemokratischer Glücksversprechen gelesen werden: Schaut her, solche Mäntel könnt Ihr Euch bald alle leisten. Derartiges hat Orwell in Der Weg nach Wigan Pier bereits scharfsichtig als Kaschierung von Klassendifferenzen beschrieben: „... die Nachkriegsfabrikation von billigen Kleidern und die allgemeine Milderung der Umgangsformen haben die oberflächlichen Verschiedenheiten der Klassen vermindert“ (George Orwell: Der Weg nach Wigan Pier, Diogenes Vlg. 1982, S.130).

Der „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung vom 25. April 2001 zeigt deutlich, dass die Reichtumsschere in Deutschland in den 90er Jahren hinter der Fassade einer gut gekleideten Gesellschaft wieder heftig auseinander ging. Und es gibt keine Hinweise, dass dieser Prozess gestoppt wäre.

Aus der Furcht vor der 2/3-Gesellschaft ist längst die Ahnung einer 1/3-Gesellschaft geworden. Einer Gesellschaft, die sich 2/3 ihrer Bevölkerung als Konsumenten, Wohnungsmieter, Wahlvolk und Dienstleister hält – bei Reproduktionsverweigerung aufzufüllen durch Einwanderer.

Projekt Schubumkehr

Das geplante Einwanderungsgesetz, gepriesen als Wende zu einem weltoffeneren Deutschland, enthält in seinem Kern die Verfassung einer neofeudalen Gesellschaft, in der die Oberschicht sich wieder ihre Handlanger, vom Chauffeur bis zum Computerspezialisten, je nach Bedarf auf einem globalen Markt einkauft.

Deutschland war, im Westen wie im Osten, einmal an Projekten beteiligt, die vorsahen, Bildung, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zu exportieren. Inzwischen erscheinen diese Werte hierzulande als Importartikel. Einwanderern wird zugemutet, das Rentensystem und den bröckelnden Wohlstand zu sichern sowie die Defizite der Bildungs- und Ausbildungspolitik auszugleichen.

"Orwell schrieb seine Bücher im vollen Bewusstsein, dass auch die alten Demokratien des Westens den Keim des Totalitarismus in sich tragen."

In Orwells Big-Brother-Staat ist die Arbeit dem Ministerium für „Plenty“ zugeordnet, dem Versorgungs- und Wirtschaftsministerium, die Bildung dem Ministerium für „Truth“ – gemeinsam mit Unterhaltung, Nachrichtenwesen und den Schönen Künsten. Wackere Sozialdemokraten sind dabei, diese Entflechtung von Wissen und Arbeit an ihr Ende zu bringen, nachdem ihr einstmals emanzipatorisches Potenzial verraucht ist.

Immer weniger Arbeiten benötigen immer mehr Wissen. Und immer mehr Arbeiten benötigen immer weniger Wissen. Die Politik aber ist dazu übergegangen, dieses Dilemma nur noch zu verwalten – nach Maßgabe der feudalen Teilung in „Schollenbindung“ (gewerkschaftlich gesichert von der Lehre bis zur Rente) bei einfachen Arbeiten, „Lehenssicherung“ (Statusgarantie und Freizügigkeit) bei anspruchsvollen.

Der fettbäuchige Fortschritt

Es würde Politikern gut tun, vor allem das zwölfte Kapitel von Der Weg nach Wigan Pier wieder einmal genau zu lesen. Dort wendet sich Orwell gegen die „fettbäuchige Version des ‚Fortschritts’“ (S.184), deren Versprechen sich auf das Ideal des rundum domestizierten und domestizierenden Spießbürgers reduzieren lassen.

Diese Fortschrittsvision – längst parteienübergreifender Konsens geworden –gewinnt Wirklichkeit als technologisch hochgerüstete, durch dezisionistisches Raubrittertum modernisierte Variante der mittelalterlichen Lehensgesellschaft.

Statt Blut, Boden und Begabung sind die beherrschten Territorien nun Wissen, Lebenswelten und Gene. Innovation ist nur als börsengängig noch respektiert, als orthodoxiekompatibel erwünscht – ganz analog zur Ordo-Welt des Christentums, die gegen die Versuchungen unendlicher Bestimmbarkeit das Prinzip göttlicher Vollkommenheit stellte, das heute zum Prinzip der Markt- und Standortoptimierung verkommen ist.

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