01.09.2006

Vollmacht vom Froschkönig

Analyse von Michael Bross

Vollmacht vom Froschkönig

Von der „fünften Gewalt“ im Staat ist in letzter Zeit viel zu lesen. Gemeint sind die Interessenvertreter und Lobbyisten von Unternehmen und Verbänden, die in Berlin und Brüssel die Gesetzgebung beeinflussen. Aufsehen erregt dieses Thema vor allem immer dann, wenn Vetternwirtschaft im Spiel ist oder ein Thema verhandelt wird, bei dem die Interessen der verschiedenen Gruppen und Institutionen besonders heftig aufeinanderprallen.


Warum gibt es eigentlich soviel Lobbying in Deutschland? Liegt es vielleicht einfach daran, dass der Staat alles regeln will? Die Menschen, die Politik machen und staatliche Verwaltung betreiben, sind offenbar der Auffassung, man müsse die Menschen hierzulande stets anleiten und umerziehen. Diese Oberlehrermentalität führt dazu, dass wir längst zu einer so genannten „rent seeking“-Gesellschaft geworden sind, die ihre Probleme vorzugsweise durch Umverteilung zu lösen versucht. Das in letzter Zeit verstärkte Lobbying des Mittelstandes erscheint dann als Versuch, die Notbremse zu ziehen, da die Betroffenen zunehmend das Gefühl haben, dass ihre Interessen nicht berücksichtigt werden, oftmals nicht einmal bekannt sind und die Wünsche anderer Gruppen auf ihrem Rücken und zu ihren Lasten befriedigt werden sollen. Sie wollen mit am Tisch sitzen, wenn verteilt wird. Und wie in Kindertagen gilt: Wenn man beim Mittagessen fehlte, blieben nur das kleinste Schnitzel und die größte Gemüseportion übrig. Das ist im wahren Leben kein bisschen anders.


Vernünftige Verhandlungen im „stillen Kämmerlein“ – also die klassische Form des Interessenausgleichs – führen aber auch nicht immer zum Erfolg: Jede Interessengruppe, die mit den Ergebnissen unzufrieden ist, versucht, ihre Ansichten durch Aktivierung der Medien und der Öffentlichkeit durchzusetzen.
 

„Lobbyisten vorzuwerfen, Interessen durchsetzen zu wollen, ist Ausdruck eines eigenartigen Demokratieverständnisses.“



Kaum ein Gesetz, kaum eine größere öffentliche oder private Investition wird heute ohne Mediengewitter und öffentlichen Schlagabtausch verwirklicht. Und regelmäßig enden die Schaukämpfe damit, dass von Vernachlässigung des Allgemeinwohls, egoistischer Durchsetzung von Gruppeninteressen, von unzulässiger Einflussnahme, von undurchsichtigem Lobbyismus oder Schlimmerem gesprochen wird. Die Lobbyisten erscheinen als Dunkelmänner, die ihre verwerflichen, das Gemeinwohl schädigenden Interessen mit unlauteren Mitteln durchzusetzen trachten. Darin drückt sich mitunter ein eigenartiges Demokratieverständnis aus. An sich ist es doch so, dass in einer Demokratie jeder seine Interessen zum Ausdruck bringen darf. Wenn er sich alleine zu schwach dazu fühlt, kann er sich mit anderen zusammentun und dies in größeren Gruppen, z.B. Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften oder Bürgerinitiativen tun. Mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft nimmt die Anzahl der Interessengruppen, die sich hier mehr oder weniger laut zu Wort melden, immer stärker zu. Das ist zunächst nichts anderes als ein Ausdruck von Meinungsvielfalt in einer vielfältigen Gesellschaft. Einen sehr kritischen, aber weit gespannten Überblick über Interessenvertretungen bietet der Sammelband Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland, herausgegeben von Thomas Leif und Rudolf Speth (VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006).
 

„Woraus leiten ‚Nicht-Regierungs-Organisationen‘, die nach eigenem Bekunden nicht die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, sondern sich um das Wohl von Bäumen, Sümpfen und Feldmäusen kümmern, die Legitimation für ihre Tätigkeit ab?“



Den Organisationen, die solche Interessen bündeln und artikulieren, zu unterstellen, sie seien nicht legitimiert, ist schlichtweg falsch. Sie vertreten die Interessen ihrer Mitglieder. Die klassischen Vereine und Verbände haben sogar in der Regel recht ausgefeilte Regularien, um sicherzustellen, dass alle Mitglieder eine Möglichkeit haben, ihre Meinung einzubringen und den Kurs der jeweiligen Organisation mitzubestimmen. Daran ist auch nichts Geheimnisvolles. Eine Verbandsmeinung ist auf demokratische Weise zustande gekommen, denn alle Mitglieder haben mitwirken können. Die hauptamtlichen Verbandsvertreter – die Lobbyisten – sind ganz offiziell beauftragt, im Namen der Mitglieder der Organisation zu sprechen. Die Meinung, die sie dabei vertreten, und die Forderungen, die sie aufstellen, mögen anderen Bürgern oder bestimmten politischen Gruppen nicht gefallen; das ist aber kein Grund, Lobbyisten als Dunkelmänner zu verunglimpfen.


Vielmehr könnte man an dieser Stelle einmal die Frage aufwerfen, woraus manche der so genannten „Nicht-Regierungs-Organisationen“ (NRO) – einige Umweltverbände beispielsweise – die Legitimation für ihre Tätigkeit ableiten. Sie vertreten nach eigenem Bekunden nicht die Interessen ihrer Mitglieder, sondern kümmern sich um das Wohl von Bäumen, Sümpfen und Feldmäusen. Diese „advokatorische Interessenvertretung“, also die stellvertretende Wahrnehmung der Interessen für andere, die sich nicht selbst äußern können, macht solche Organisationen für manche Zeitgenossen sympathisch, ersetzt aber nicht den fehlenden Auftrag derer, die von dem Tun profitieren sollen. Oder hat schon mal jemand eine Vollmacht vom Froschkönig gesehen? Die Umwelt hat wohl einen Wert, aber keine eigenen Interessen, die unabhängig von Menschen existieren würden. Auch Umweltorganisationen dienen ausschließlich den Interessen von Menschen.


Insofern gibt es keinen Unterschied zwischen einem Kaninchenzüchterverein, einer Umweltgruppe oder einem Wirtschaftsverband. Menschen tun sich zusammen, um in dem Feld, das ihnen persönlich besonders wichtig ist, ihre Interessen durchzusetzen. Die Ziele, die dabei verfolgt werden, mag man als Außenstehender für albern oder habgierig oder unwichtig halten; ihnen die Legitimität abzusprechen, ist aber ungerechtfertigt, arrogant und undemokratisch.


Einige der NROs sind jedoch über die Organisationsform des Vereins oder Verbandes längst hinausgewachsen. Ein inspirierter „politischer Unternehmer“ und ein kleiner Führungsstab von Experten steuern dort die Aktivitäten der Organisation. Ungestört von Mitgliederdemokratie können sie effizient und effektiv für das jeweilige Anliegen streiten. Greenpeace oder der World Wildlife Fund (WWF) sind als quasi mitgliederlose Organisationen oder Stiftungen verfasst. Die Spender und Förderer betätigen sich nicht mehr als Mitwirkende, sondern agieren als Unterstützer oder besser: als Kunden.


Ist es eine abwegige Mutmaßung, dass diese Förderer sich durch ihre Spende mit der „postmaterialistischen“ Lebensweise versöhnen wollen? Wird die Spendenquittung zum Ablasszettel für fortschrittsskeptische Wohlstandsbürger, denen es zu gut geht? Die das Gefühl haben, etwas vom eigenen Reichtum abgeben zu müssen? In diesem Szenario ist eine Umweltorganisation nichts anderes als ein x-beliebiger Esoterikladen, der Wellness zu horrenden Preisen verkauft. Anders als bei Fast Food geht es nicht um den saftigsten Hamburger, sondern darum, mit der schnellen Spende das langfristige Engagement zu ersetzen, das man gerne den Profis überlässt.


Das Interesse, das hier bedient wird, ist zunächst das Bedürfnis der Spender nach einem reinen Gewissen. Sodann eröffnen sich den Aktivisten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung in der politischen Arena mit entsprechendem öffentlichem Ansehen für den unermüdlichen Einsatz gegen Konzerne, Umweltverschmutzer – oder wie die Goliaths der Gegenwart heißen. Merke: Organisationen haben auch keine eigenständigen Interessen. Eine Organisation führt – entgegen manchen Mutmaßungen – durchaus kein Eigenleben, sondern ist eine Einrichtung von Menschen, ein Instrument, um Interessen von Personen zu artikulieren, durchzusetzen und zu verwirklichen. Und die Menschen, die für eine Organisation arbeiten, haben ebenfalls Interessen, das sollte man nie vergessen. Was übrigens auch für den Staat und seine Diener gilt.


In Deutschland rufen alle gerne nach dem Staat, wenn es darum geht, das Gemeinwohl zu definieren. Konfliktscheu, wie die Gesellschaft nun mal ist, hegen wir die Illusion, dass das Gemeinwohl quasi vom Himmel fallen könnte, dass alle Bewohner dieses Landes aus purer Einsicht in die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen sich dem Gemeinwohl unterordnen. Der Staat wird dabei gleichsam zur „Gemeinwohlfeststellungsbehörde“ erhöht, die neutral über allen Lobbys und Interessenvertretungen schwebt. Der Staat und seine Institutionen erscheinen da als Vormund und Vordenker des Bürgers – kein besonders demokratisches Konzept. Ein Wesensmerkmal der partizipatorischen Zivil- und Bürgergesellschaft ist es doch gerade, dass die Regeln und Ordnungsprinzipien (auch bei einem Interessenkonflikt) zwischen den Beteiligten ausgehandelt und nicht „von oben“ übergestülpt werden.


Interessenvertretung ist immer ein bisschen wie Markt: manchmal laut und schrill, manchmal geheimnistuerisch, hin und wieder monopolistisch. Die Lösung für die Probleme und Mängel der Interessenpolitik kann trotzdem nicht die Abschaffung dieses Marktes sein, sondern nur das Abstellen von Fehlverhalten. Insofern liegen all die Probleme, die wir in Deutschland in den letzten Wochen, Monaten und Jahren mit der Interessenvertretung und dem Lobbyismus hatten, wahrscheinlich daran, dass bei der Interessenvertretung und der Meinungsbildung zu wenig Markt herrscht! Wenn die Gesellschaft einzelnen Interessengruppen ein Monopol einräumt – sei es in Form von Alleinvertretungsrechten oder indem man sie wegen der vermeintlichen moralischen Überlegenheit ihrer Ziele vom Legitimationsdruck befreit –, darf sich niemand wundern, wenn die Argumentation verarmt oder bei bestimmten Themen die berüchtigte „Schweigespirale“ in Bewegung gerät. Und das gilt umso mehr, wenn der berüchtigte Druck von der Straße aufgebaut wird.


Umweltorganisationen waren und sind Meister in dieser Form der Kampagnenorganisation der öffentlichen Empörung. Die breite Öffentlichkeit, die als Unterstützer gewonnen werden soll, kann ihren Protest weitgehend gefahrlos und kostenneutral zum Ausdruck bringen. Man erinnere sich an den Boykott-Aufruf gegen Shell, um die Versenkung der Ölplattform Brent Spar zu verhindern. Die Autofahrer konnten ihre Unterstützung dadurch beweisen, dass sie zur nächsten Tankstelle fuhren. Drei Minuten Umweg und ein Adrenalinstoß fürs Selbstwertgefühl, es einem „Öl-Multi“ mal gezeigt zu haben. Shell gab nach und wrackte die Plattform an Land ab, ökologisch völlig unsinnig und zu höheren Kosten – die am Ende doch der Autofahrer zu bezahlen hatte! Hier besteht auch der grundlegende Unterschied zu einer emanzipatorischen Interessenvertretung von Betroffenen: Arbeiter, die streiken, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, haben von Beginn an ein persönliches (meist finanzielles) Risiko! Streikkassen und der Wohlfahrtsstaat mögen es verringern, aber völlig zu vernachlässigen sind die Gefahren des Protests für den Einzelnen nicht.


Viele Umweltorganisationen gaukeln dem Bürger vor, ohne Zivilcourage und persönlichen Einsatz Gutes tun zu können. Die Kampagnen folgen dem Prinzip „TEAM – TAZ“: Toll, Ein Anderer Macht’s (nämlich die Profis aus der Umweltszene) – Toll, Andere Zahlen (nämlich die Industrie oder der Staat). Und am Ende sind doch alle wieder mit dabei, wenn die Quittung präsentiert wird. Wo die Lobbyisten der „fünften Gewalt“ auf Dialog mit den politisch Verantwortlichen und Überzeugungsarbeit setzen, inszenieren die NROs durch spektakuläre Aktionen öffentliche Empörung. Schriller Populismus ist dann wohl der Stil der „sechsten Gewalt“? Demokratischer wird die Interessenvertretung der NROs dadurch aber nicht.

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