01.05.2000

Volksentscheide als Zeichen politischer Ideenlosigkeit

Analyse von Sabine Beppler-Spahl

Durch die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene soll die Politik gerettet werden. Damit geht das Ende der politischen Kultur einher.

Der Ruf nach direkter Demokratie wird lauter: “Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf allen politischen Ebenen sind ein Türöffner für die Entwicklung von Demokratie und Gesellschaft”, so der Verein Mehr Demokratie e.V. Einen Aufruf des Vereins vom Mai 1999 zur Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene haben Persönlichkeiten wie Günter Grass, Herta Däubler-Gmelin, Gregor Gysi, Otto Schily, Hans-Jochen Vogel und viele mehr unterzeichnet. Die Einführung einer Volksgesetzgebung im Bund (in den einzelnen Bundesländern existiert sie ansatzweise bereits) ist Bestandteil des Koalitionsvertrags zwischen SPD und Grünen. Beim jüngsten Parteitag von Bündnis90/Die Grünen im März zog sich die Forderung nach mehr plebiszitären Elementen wie ein roter Faden durch alle Debatten. Vom vorbildhaften “Volk, das den allmächtigen Staat vom Sockel stieß” sprach auch Wolfgang Thierse anlässlich der Feierlichkeiten zum Gedenken an die ersten freien Wahlen in der DDR vor 10 Jahren.

Anlass für das Aufleben der Diskussion über direkte Demokratie ist die Finanzkrise der CDU. Volksentscheide sollen die Kluft zwischen Bürgern und der Politik schließen und “die Position der Wähler gegenüber den Parteien stärken” (Hans-Jochen Vogel, FAZ, 19.2.2000). Kritik am “reformerischen” Konzept gibt es kaum, obwohl selbst der Verein Mehr Demokratie von einigen “Mängeln” darin spricht. Dabei untergräbt die Forderung nach Volksentscheiden Kernpunkte unseres demokratischen parlamentarischen Systems. Die Reformvorschläge, die dem Bürger mehr Mitbestimmungsrecht zusprechen sollen, schränken in Wirklichkeit die Kompetenzen der Bürger ein.

Das Ende der Politik?

Demokratie ist ein Prozess, der sich nicht auf Abstimmungen beschränken kann und der auch nicht allein aus Wahlen besteht. Er ist vielmehr gekennzeichnet durch möglichst breite öffentliche Debatten und der Gegenüberstellung unterschiedlicher Meinungen zu politisch relevanten Fragen. Es geht um die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft einer Gesellschaft. Ein Kritiker der direkten Demokratie, der Jurist und emeritierte Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof, bemerkt zutreffend, dass der Volksentscheid “die Kraft des Differenzierens” vermindert, “weil elementare und komplexere Fragen auf die Antworten ‘Ja’ oder ‘Nein’ reduziert werden”[1]. Hierauf entgegnen Befürworter der direkten Demokratie, dass jedes zu entscheidende Problem auf “Ja/Nein” verkürzt werden müsse, ansonsten wären Entscheidungen nicht möglich. Allerdings werden in direktdemokratischen Prozessen Entscheidungen sehr frühzeitig auf “Ja/Nein” reduziert. Elementare Abwägungsprozesse, wie sie der parlamentarische Entscheidungsprozess kennt, sind nicht im gleichen Maße möglich. Dies ist in der Tat ein großer Nachteil der direkten Demokratie.

“Die Reformvorschläge, die dem Bürger mehr Mitbestimmungsrecht zusprechen sollen, schränken in Wirklichkeit die Kompetenzen der Bürger ein”

Das Problem liegt jedoch nicht primär darin, dass Entscheidungen mit Ja oder Nein zu beantworten sind – dies ist in der Tat immer der Fall. Vielmehr ist es gefährlich, dass Volksentscheide den Prozess der Entscheidungsfindung von breiteren politischen Debatten abkoppeln.
Bevor ein informierter, politischer Entschluss gefasst wird, muss oftmals über komplexere Grundsatzfragen diskutiert werden – nur so kann ein entsprechendes Bewusstsein bei den Wählern wie bei den Entscheidungsträgern “wachsen”. Hierzu ein Beispiel: Eine sinnvolle Abstimmung über die Reform des Einbürgerungsgesetzes von Immigranten setzt voraus, dass man sich zuvor mit der Frage von Bürgerrechten, nationaler Identität sowie der sozialen und wirtschaftlichen Struktur eines Landes umfassend auseinandergesetzt hat – ansonsten droht die Abstimmung in politischen Plattitüden zu enden.
Mit technischen Mitteln, wie sie Mehr Demokratie e.V. vorschlägt (z.B. der Idee, dass das Parlament einen Konkurrenzvorschlag bei einem Volksentscheid präsentiert), kann man keine offene politische Kultur herbeizaubern. Auch der tröstende Hinweis, dass jedem Wahlberechtigten bei jeder Abstimmung über einen neuen Gesetzesentwurf ein “Abstimmungsbüchlein” ausgehändigt würde, in dem “das zu entscheidende Thema behandelt wird”, kann keine Abhilfe verschaffen. Wer soll denn das “Büchlein” schreiben? Woher stammen die darin enthaltenen Argumente?
Die Befürworter von Volksabstimmungen scheinen sich wenig Sorgen über das inhaltliche Niveau und die Breite der politischen Diskussion zu machen. Vielmehr heißt es, die Abgeordneten, die gegenwärtig politische Entscheidungen zu treffen haben, seien auch nicht immer umfassend informiert: “Sie entscheiden häufig ohne ausreichende Informationsgrundlage nach Fraktionszwang. Die Bürger kennen keinen Fraktionszwang. Sie entscheiden nach ihrem gesunden Menschenverstand.”[2]
Wenn Abgeordnete sich nicht informieren, dann kommen sie ihren Pflichten nicht nach und gehören abgewählt. “Gesunder Menschenverstand” ist hingegen oft ein Synonym für Ignoranz und Borniertheit. Hiermit wird eine “Politik aus dem Bauch” idealisiert, die rationalen und informierten Überlegungen diametral entgegensteht.
Der Politologe Peter Lösche bezeichnete Kalifornien als das “Paradies direkter Demokratie” und beschrieb, welche Erfahrungen dort mit Volksabstimmungen und dem “gesunden Menschenverstand” gemacht wurden:

“Gesunder Menschenverstand” ist oft ein Synonym für Ignoranz und Borniertheit”

“Es gibt manche Abstimmungsgegenstände, die emotional und populistisch so aufgeheizt sind, dass sie Symbol für etwas ganz anderes werden, sich verselbständigen, so daß am Ende einer Kampagne über etwas anderes entschieden wird als das, was die zur Abstimmung stehende Formulierung eigentlich enthält.” (FAZ, 8.8.1997)

Mehr Demokratie e.V. betrachtet es als Vorteil, dass es bei Volksentscheiden nur um ein konkretes Thema geht, dagegen bei “Wahlen (um) mehrere, die häufig auf oberflächliche Weise behandelt werden”. Wenn aber Themen oberflächlich behandelt werden, so ist das ein Problem der Politik, dessen Lösung nicht in der von vornherein geplanten Reduzierung der Debatte liegen kann. Die Befürworter direkter Demokratie sind in gewisser Weise die konsequentesten Vertreter heutiger Ideenlosigkeit. Sie versuchen, die gegenwärtigen politischen Probleme durch technische Maßnahmen (beispielsweise häufigerer Befragung der Bürger) zu lösen. Es handelt sich aber nicht um eine Verbesserung, sondern bestenfalls um eine “Verniedlichung” von Politik, wenn über den Erhalt von kommunalen Sparkassen, dezentralen Geburtsstationen, Gelder für Musikschulen, die Rechtschreibreform oder den Bau des Transrapid sowie von Umgehungsstraßen abgestimmt und dies als großer Durchbruch bezeichnet wird. Es mag sicher in manchen Fällen nützlich sein, Umfragen dieser Art zu starten, aber das können auch Meinungsforschungsinstitute bewältigen. Mit Demokratie und der Förderung der politischen Kultur in unserem Lande hat das wenig zu tun.

Die niedrigen Erwartungen der Verfechter von Volksabstimmungen spiegeln sich hier deutlich wider: Wenn man eine neue Politik möchte, warum stimmt man dann über Umgehungsstraßen ab statt über eine grundsätzliche Neugestaltung der Verkehrspolitik. Engstirnigkeit ist offenbar das Credo direkter Demokratie.
Volksabstimmungen können nicht den engen Rahmen der heutigen Politikdiskussion sprengen. Im Grunde wird durch sie vielmehr einer undemokratischen und leicht korrumpierbaren Lobbypolitik Vorschub geleistet. Bestimmte Interessengruppen (Musikverbände, Umweltschützer, Abtreibungsgegner, Waffenfetischisten, religiöse Fanatiker und dergleichen) erhalten die Möglichkeit, ihre Vorstellungen am demokratischen Meinungsbildungsprozess vorbei zur Abstimmung zu bringen. Ob ihnen das gelingt, darüber entscheiden in den USA schon heute weniger die Argumente als ihre geschickte Werbung und die finanzielle Rückendeckung. Peter Lösche schieb hierzu:

“Die Befürworter direkter Demokratie sind in gewisser Weise die konsequentesten Vertreter heutiger Ideenlosigkeit”

“Im übrigen zeigt gerade Kalifornien, dass nicht das Volk bei Volksbegehren und Volksbestimmungen entscheidet, sondern dass es vor allem schlagkräftige Interessengruppen sind, die Volksbegehren initiieren und befördern und auf Volksentscheide mit Millionenbeträgen massiven Einfluss nehmen.” (FAZ, 8.8.1997)

Einschränkung der Bürger-Kompetenzen

Direkte Demokratie soll dem Bürger mehr politische Mitbestimmungsrechte garantieren. In Wirklichkeit wird die Kompetenz des Bürgers jedoch nicht erweitert, sondern eingeschränkt. Die Demokratie sieht die Macht des Bürgers nicht in der Möglichkeit, dass er zu allen möglichen Themen ständig direkt befragt wird, sondern darin, dass er durch das Medium der freien Wahlen Kontrolle über die von ihm gewählten Volksvertreter, die gemäß ihrer Programme in seinem Interesse und Auftrag handeln, ausüben kann. Das Parlament wird vom Volk gewählt und erhält dadurch seine Legitimität. Die Regierung wird vom gewählten Parlament beauftragt. Durch die Festlegung von Wahlperioden und deren zeitliche Begrenzung soll sichergestellt werden, dass das Volk die einmal übertragene Staatsgewalt nicht auf alle Zeit verliert.
Jeder Parlamentarier ist wegen dieses Grundprinzips der Demokratie einem Verantwortungsdruck ausgesetzt. Er ist seinen Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig und muss sein Handeln jederzeit begründen können. Genau diese zentrale Kontrollfunktion wird durch das Prinzip der direkten Demokratie untergraben. Die Unterscheidung zwischen Wählern und Gewählten soll sogar ganz bewusst eliminiert werden. Hierzu meint Mehr Demokratie e.V.:

“Egal, ob eine Entscheidung vom Volk oder vom Parlament getroffen wird: Die Folgen tragen immer die betroffenen Menschen. Politiker/innen treten bestenfalls zurück oder werden abgewählt. Das Volk hat seine falschen Entscheidungen vor sich selbst zu verantworten und kann daraus lernen.”[3]

Natürlich tragen immer die “betroffenen Menschen” die Folgen einer falschen Entscheidung, aber das “Volk” kann nicht abgewählt werden, und folglich kann niemand zur Verantwortung gezogen werden. Grundlegende Prinzipen der Demokratie wie politische Kontrolle und Rechenschaftspflicht werden folglich zur Farce.
Vielen Politikern, die ohnehin das Selbstvertrauen in das eigene Handeln verloren haben oder sich gerne dem Druck der Öffentlichkeit entziehen, kommen solche Vorschläge daher gelegen. Die Organisation Mehr Demokratie in Berlin meint zu wissen, Abgeordnete würden sich gegen ihre Forderung nach mehr Plebisziten wehren; dabei stoßen sie auf durchweg positive Resonanz. Es gibt heute kaum noch Politiker, die sich gegen Volksentscheide auf regionaler oder auf Bundesebene aussprechen. Der Grund dafür ist ihre eigene Orientierungs- und Ideenlosigkeit, die durch die Befragung des Volkes überdeckt werden soll.

“Kluft schließen”

Die gegenwärtige politische Krise lässt Politiker zusehends nach dem Strohhalm “Direkte Demokratie” greifen. Sie möchten damit die zwischen dem “Bürger” und den “Parteien” entstanden Kluft schließen. Hans-Jochen Vogel formulierte das folgendermaßen:

“Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Sie dürfen also ihren Willen nicht mit dem Willen des Volkes gleich oder sogar an dessen Stelle setzen. Dem würde vorgebeugt, wenn das Volk seinen Willen auch auf der Bundesebene in Form von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheid verbindlich äußern könnte.” (FAZ, 19.2.2000)

“Nicht die “Kluft” zwischen Wählern und Parteien ist das grundlegende Problem, sondern die Politik selbst”

Vogels Appell wurde unterstützt vom FDP-Politiker Guido Westerwelle, dem nordrhein-westfälischen CDU-Vorsitzenden Rüttgers und Bärbel Bohley, die von einer Wiederholung der Politikverdrossenheit von 1998 spricht. Verständlicherweise haben Politiker das Bestreben, die Entfremdung zwischen ihnen und den Wählern zu überwinden. Aber schon ihre Fragestellung, wie die Kluft zu überwinden sei, verrät die Aussichtslosigkeit des Unterfangens. Denn nicht die “Kluft” zwischen Wählern und Parteien ist das grundlegende Problem, sondern die Politik selbst.
Die politische Kultur in unserem Land leidet seit Jahren darunter, dass keine maßgebliche politische Kraft mehr existiert, die überzeugende und zukunftsweisende Alternativen anzubieten hätte. Die Zeiten, in denen man CDU, SPD, FDP oder die Grünen aus politischer Überzeugung wählte, weil man mit deren Programmen übereinstimmte, sind längst vorbei.
Wenn auch Politik schon früher von vielen als Farce bezeichnet wurde, so hatte man doch zumindest den Eindruck, als könnte man zwischen Alternativen, beispielsweise in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, entscheiden. Heute sind die Parteien austauschbar, und Alternativen gibt es nicht mehr. Aus diesem Grund fühlt sich die politische Elite im Land orientierungslos und schließt sich bereitwillig populären Forderungen an, die dem “Zeitgeist” entsprechen – Volksentscheide gehören hierzu.
Die Annahme, man könne “Punkte sammeln”, wenn man den Bürger häufiger nach seiner Meinung fragte, ist aber ebenfalls ein Trugschluss. Volksabstimmungen haben zwangsläufig den Charakter von Meinungsumfragen. Abgesehen davon kann niemand vollen Ernstes behaupten, der Bürger würde heute nicht genug nach seiner Meinung gefragt. Jeden Tag kann man per Telefon, Internet oder auf der Straße seine Meinung bei Umfragen kundtun.
 

Direkte Demokratie ganz konkret

 

  • Der Landesverband der Musikschulen und die PDS haben Ende Dezember ein Volksbegehren in Brandenburg für ein Gesetz zur finanziellen Absicherung der 29 Musikschulen im Land beantragt.
  • In Sachsen findet ein Volksbegehren zur Erhaltung der kommunalen Sparkassen statt – die Frist läuft bis Ende Mai 2000.
  • Im Dezember reichten der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) und der Bayerische Elternverband 86.000 Unterschriften für den Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens “Die bessere Schulreform” ein. Kinder sollen früher entscheiden, welche Schulform sie nach der Grundschule wählen.
  • In Schleswig-Holstein wurde im September 1998 ein Volksentscheid zur Rechtschreibreform durchgeführt. Auch in Bayern gründete sich 1998 die Initiative “WIR gegen die Rechtschreibreform”.
  • In Bayern starteten Studierende das Volksbegehren “Bessere Bildung in Bayern”. Es handelt sich um einen Entwurf für ein neues Hochschulgesetz – eine Initiative für mehr Mitbestimmung und eine bessere Finanzierung der Universitäten.
  • Am häufigsten findet man direktdemokratische Elemente in der Schweiz, in den USA (dort insbesondere in Kalifornien) und in Australien.

 

Das Fehlen einer “politischen Kultur” drückt sich am klarsten darin aus, dass Politiker mehr um ihr Image und die öffentliche Meinung besorgt sind als um die eigentlichen Politikthemen – oder, wie Helmut Schmidt kommentierte: “Heute sind die vor dem Bildschirm gewonnenen Empfindungen von Sympathie von höherer Bedeutung. Deshalb drängen sich die Politiker in die TV-Talkshows.” (Die Zeit, 23.3.00)
Bill Clinton wird nachgesagt, er könne keine Entscheidung mehr treffen, ohne vorher Meinungsumfragen studiert zu haben. Laut einem jüngsten Bericht des Economist ist er nicht einmal in der Lage, einen Privaturlaub anzutreten, ohne vorher Meinungsforscher konsultiert zu haben. Mit den Wahltriumphen der “neuen Sozialdemokratie” in Europa – in Deutschland mit den Grünen im Schlepptau – hat diese Entwicklung auch in unseren Breitengraden an Fahrt gewonnen.

Das System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie mag voller Schwächen sein, doch für die Fehlbarkeit und die Entleerung der Politik ist es nicht verantwortlich. Die jüngsten Versuche, das System mit “mehr Demokratie” zu reformieren und der Politik dadurch neues Leben einzuhauchen, verschärft letztlich die grundlegende Problematik. Solche Bestrebungen sind bezeichnend für die Anpassung an die allseits wachsende Borniertheit und an die schwindenden Erwartungshaltungen in Politik und Gesellschaft.

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