23.06.2023

Unsterblichkeit eines mittelalterlichen Relikts

Von Michael Wörle

In der Handwerksordnung lebt das Zunftwesen fort. Der von den Nazis wieder eingeführte Meisterzwang hält sich hartnäckig. Leidtragende sind nicht nur Handwerker, sondern auch Verbraucher.

„Versuch‘ mal, einen Handwerker zu bekommen“ – kennen Sie diesen Satz? Landauf, landab verzweifeln Bauherren beim Errichten ihrer Immobilie genauso wie Verbraucher, die einfach mal renovieren wollen, wenn es darum geht, Fachleute für Handwerksarbeiten zu beauftragen. Lange Wartezeiten, oft über Monate hinweg, sind an der Tagesordnung. Maurer, Tischler, Maler und andere Gewerke sind voll ausgebucht. Die Immobilienmärkte und der Wohnungsdruck in vielen deutschen Großstädten sorgen dafür, dass das Handwerk derzeit Engpässe und lange Wartezeiten für Kunden hat.

Und nicht nur das: der Fachkräftemangel tut sein Übriges. Rund 180.000 Handwerksbetriebe in Deutschland suchen eine Nachfolge, auch Auszubildende sind immer schwerer zu finden. Wie gut wäre es da, wenn innovative, junge Gründer im Handwerk neue Firmen an den Start brächten und mit ihren Leistungen auf den Markt treten würden. Doch das ist nicht ganz einfach. Das Gründungsklima in Deutschland flaut seit Jahren ab: Gute Chancen auf einen sicheren Job im Angestellten-Dasein sorgen bei Berufseinsteigern dafür, dass der Schritt in die riskante Selbständigkeit seltener gewagt wird als noch vor fünf oder zehn Jahren. Und im Handwerk kommt dann noch eine besonders ärgerliche Sache dazu: Leider werden den wenigen Gründungswilligen Steine in den Weg gelegt. Der Meisterbrief, der für die meisten Handwerksberufe vorgeschrieben ist, ist für viele eine solche Hürde.

Warum der Bäcker in Deutschland ein Handwerksmeister sein muss, die Köchin mit eigenem Restaurant aber nicht, hat – wie so oft – historische Gründe. Alles nahm seinen Anfang im Mittelalter. Mit der Herausbildung eines selbstbewussten Bürgertums entstanden auch die Handwerkszünfte. Diese mittelalterlichen „Communitys“ der unterschiedlichen Gewerke organisierten Handel und Warenwirtschaft untereinander. Und sie gaben sich auch gemeinsame Regeln, die Zunftordnungen. Diese legten die Qualität von Methoden und Material fest und sorgten dafür, dass es nicht zur Überproduktion kam. Dies hatte schon damals die nahezu gleichen Folgen wie heute: Einerseits wurde ein Qualitätsstandard im Handwerk festgeschrieben, der durchaus Vorteile für Kunden mit sich brachte. Andererseits hielt man sich durch die Zunftordnung unliebsame Konkurrenz vom Hals.

Wer sich nicht gemäß den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln verhielt – etwa durch „falsche“ Heirat – wurde kurzerhand aus der Zunft rausgeworfen. Migranten, in unseren Breiten oft slawische Wenden, wurden seinerzeit gar nicht erst reingelassen. Und wer dann nicht zur Zunft gehörte, konnte auch kein Handwerk ausüben. Zumindest nicht offiziell, sondern bestenfalls auf dem mittelalterlichen Schwarzmarkt. Bekamen die Zunft-Handwerker davon Wind, fanden sie das selten witzig. So kam es immer wieder vor, dass in Haus und Werkstatt der unerwünschten Mitbewerber eingedrungen, Material und Werkzeug beschlagnahmt wurde und mitunter auch in einer zünftigen (!) Prügelei „das Handwerk gelegt“ wurde. Mit kaiserlichem Edikt von 1731 wurde der Zunftzwang beseitigt.

„Der Harmoniumbauer muss einen Meisterbrief vorweisen, nicht aber der Geigenbauer.“

Wir springen 200 Jahre weiter nach Deutschland im Jahr 1935. Die Nationalsozialisten sind an der Macht und regeln sämtliche Berufe und Gewerbe nach ihren Vorstellungen. Das gilt auch für das Handwerk: Die Geburtsstunde der Meisterpflicht, wie wir sie auch heute, knapp 90 Jahre später, vorfinden. Wer sich im Handwerk selbständig machen will, muss erst einmal eine Meisterprüfung ablegen. Für Gründer besonders bedauernswert: 2019 kam es sogar zu einer „Rückvermeisterung“ von 12 Handwerksberufen, die zuvor meisterfrei waren.

Die Abgrenzungen, die der Gesetzgeber bei der Frage „mit oder ohne Meisterbrief“ vornimmt, verursacht oft Stirnrunzeln. So muss der Harmoniumbauer einen Meisterbrief vorweisen, nicht aber der Geigenbauer. Die Politik folgte bei der „Rückvermeisterung“ dem Druck des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, dem Lobbyorgan der Handwerksmeister. Die Argumente vieler Ökonomen, die sich für den freien Wettbewerb und somit gegen den Meisterzwang aussprechen, unterlagen in der politischen Debatte leider.

Die Erkenntnisse zu den wirtschaftlichen Folgen der Meisterpflicht sind indes nicht ganz neu. Der liberale Ökonom Adam Smith kritisierte schon 1776, dass eine lange Lehrzeit keine Garantie für gute handwerkliche Qualität sei. Außerdem hindere die Zunftordnung einen freien Mann daran, „seine Kraft uneingeschränkt zu nutzen“. Zu Zeiten von Adam Smith war „die Kraft“ vor allem für die ärmere Landbevölkerung gleichbedeutend mit dem einzigen Kapital, das ihr zur Verfügung stand.

Der Bundestagsabgeordnete Jens Teutrine sieht das heute ganz ähnlich wie Smith vor 250 Jahren. In einem Fachgespräch mit dem Branchendienst Der Handwerksberater unterstreicht er zwar die Qualität der Handwerksausbildung, weiß aber auch: Der Zwang zum Meister, um bestimmte handwerkliche Betriebe führen zu dürfen, schränkt nicht nur die Wahlfreiheit der Kunden ein, sondern erschwert auch den Markteintritt für neue Betriebe enorm. Eine Meisterpflicht etwa für Fliesenleger verknappe das Angebot und erhöhe die Preise, so der junge Politiker, der den Meisterzwang für ein „Relikt der Ständewirtschaft“ hält. Allein, was nützt es, denn unter seinen rund 700 Kollegen im Bundestag ist er ein eher einsamer Rufer.

„Überholt hat sich die starre Regulierung im Handwerk in einer Wirtschaftswelt, die sich in rasantem Tempo verändert und immer internationaler wird, längst.“

Die Durchsetzung des Meisterzwangs treibt in der Praxis nicht selten skurrile, wenn nicht gar tragische Blüten. Ein aktueller Fall aus dem Landkreis Harburg, im Norden Deutschlands: Dort lebt und arbeitet Jens Bolwin. Er saniert Schornsteine, indem er sie verkleidet oder sie als Abbruchunternehmer abträgt. Eine von der lokalen Handwerkskammer aktivierte Behörde wirft ihm nun vor, dass er ohne eine notwendige Handwerksrolleneintragung zulassungspflichtige Handwerke ausüben würde. Sie verhängte zunächst ein hohes Bußgeld. Und sie untersagte ihm auch zugleich den Betrieb. Angemeldet hatte er „Fliesenleger, Holz- und Bautenschutz“, sowie später „Fuger“. Der Fliesenleger unterliegt mittlerweile wieder dem Meisterzwang und ist zulassungspflichtig.

So bekam Bolwin Besuch vom Ordnungsamt wegen Einleitung eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens. Unter Druck musste er Kundenrechnungen herausgeben, die Beamten drohten mit Hausdurchsuchung  und zwar mit ‚großen Aufgebot‘. Nach einer Woche kam dann der Hammer: In einem Untersagungsschreiben wurde dem Handwerker alles Mögliche untersagt: zulassungsfreie Tätigkeiten und sämtliche zulassungspflichtigen Tätigkeiten gleich mit. Bolwin würde die Allgemeinheit gefährden, weil er nicht das nötige Wissen habe zur Befestigung von Dachelementen und außerdem den falschen Mörtel verwende. Als i-Tüpfelchen kam noch eine Androhung mit Zwangsgeld bei Verstoß in Höhe von 15.000 Euro dazu – oder Erzwingungshaft. Der Unternehmer, der sich kurz vor der Zerstörung seiner Existenz sah, nahm Kontakt zum Interessenverband Freier Handwerker auf, es kam zu mehreren Gerichtsverfahren, in deren Folge die Gegenseite ein Großteil der Vorwürfe zurücknehmen musste. Der Fall von Jens Bolwin ist einer von vielen, die Jahr für Jahr in Deutschland stattfinden. Über die Sinnhaftigkeit der Meisterpflicht dürfte man dabei wohl ebenso rätseln wie über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung

Zur Vollständigkeit sei gesagt: Für Gründer gibt es mehrere Möglichkeiten, auch ohne einen Meisterbrief den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Die Gründung in einem meisterfreien Gewerk ist der einfachste davon – zumindest, solange der Gesetzgeber diese nicht auch noch mit einer Zugangsbeschränkung versieht. Die Ausübung eines „handwerksähnlichen Berufs“ ist eine weitere kleine Öffnung im Normendickicht der Handwerksordnung, ebenso die Anstellung eines Meisters oder die Gründung einer Filiale eines bestehenden Unternehmens.

So oder so: Überholt hat sich die starre Regulierung im Handwerk in einer Wirtschaftswelt, die sich in rasantem Tempo verändert und immer internationaler wird, längst. Wann dies auch politische Konsequenzen nach sich ziehen wird, bleibt weiter offen. Allerdings sieht es hierfür nicht rosig aus. Es scheint so, dass der Zug der Freiheit eher rückwärts fährt.

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