13.10.2021
Ungeimpftenjagd auf der Leinwand
Wie man in Deutschland mit einer möglichen Virusepidemie umgehen könnte, hat schon 1979 der Film „Die Hamburger Krankheit“ vorexerziert. Lange ‚vor Corona‘ wirkte das noch wie eine ferne Dystopie.
„Wenn man sich das Unwahrscheinliche ausdenkt, dann hat es gute Chancen, Realität zu werden“, erklärte letztes Jahr der inzwischen verstorbene Regisseur Peter Fleischmann. Das Unwahrscheinliche war die Handlung seines Films „Die Hamburger Krankheit“ von 1979, die Realität wiederum die Corona-Transformation, die gerade eingesetzt hatte. Der Filmtitel bezieht sich nicht auf angebliche Gesundheitsgefahren durch Fast Food, sondern auf die norddeutsche Metropole, in der plötzlich Leute umfallen und – in einer Art Embryonalstellung verkrampft – dahinscheiden. Was eine Fernsehzeitschrift als „utopisches Endzeit-Drama mit surrealen Zügen“ beschrieb, sieht sich heute mit anderen Augen.
Dass zu Beginn des Films ein Teilnehmer eines Kongresses zum Thema Lebensverlängerung (Transhumanismus?) sich einer Taschen- und Körperkontrolle unterziehen muss, lag an der RAF-Zeit. Heute müsste er stattdessen ein medizinisches Zertifikat bzw. einen QR-Code vorlegen, um Einlass zu erhalten. Zeig mir, wovor du Angst hast, und ich sage dir, wer du bist.
Atemwegssymptome spielen im Film keine Rolle, Hintergrund und Übertragungswege des Virus – sofern es sich überhaupt um eines handelt – bleiben im Dunkeln. Auch sonst ergeben sich einige Unterschiede: Die Sterblichkeit liegt im Gegensatz zu Covid-19 hoch. Und die Behörden wollen zunächst Panik vermeiden, später melden sie trotz schwieriger Lage angebliche Erfolge bei der Epidemiebekämpfung – das kennen wir umgekehrt. Die Quarantäneflagge, die ein Schiff im Hamburger Hafen hissen muss, hat sich an Land nicht durchgesetzt. Die Wohnungen und Häuser, in denen Einwohner dieses Landes in sechsstelliger Zahl ohne richterlichen Beschluss unter Hausarrest stehen, müssen nicht eigens beflaggt oder anderweitig markiert werden. Außerdem werden Betroffene im Film nicht isoliert, sondern konzentriert eingesperrt, die „Einweisung in eines der zentralen Gesundheitslager“ droht – das ist heute ‚nur‘ für Quarantänebrecher in einigen Bundesländern vorgesehen.
„Betroffene werden im Film nicht isoliert, sondern konzentriert eingesperrt, die ‚Einweisung in eines der zentralen Gesundheitslager‘ droht.“
Zu Beginn der Geschichte ist noch offen, wie behördlicherseits vorgegangen werden soll. Kontaktverfolgung spielt eine Rolle, ein Experte erscheint mit Gesichtsmaske und in transparenter Ganzkörper-Folie, „eine reine Vorsichtsmaßnahme zu Ihrem Schutz“. Gerontologe Ellerwein, bis zu seinem Ableben einer der Protagonisten des Films, wird mit der Einlassung eines Medienvertreters konfrontiert.
Journalist: „Aber irgendwelche Maßnahmen müssen doch ergriffen werden!“
Ellerwein: „Nur, um zu beweisen, dass man irgendetwas tut?“
Arzt Ellerwein bleibt kritisch und findet den Vorschlag, die gesamte Hamburger Bevölkerung präventiv mit Breitband-Virostatika zwangszubehandeln, „ungeheuerlich“. Er verlässt eine Besprechung, weil er nicht ausschließlich „gesundheitspolizeiliche Maßnahmen abzusegnen“ bereit ist und fragt sich später: „Was ist überhaupt Krankheit? Die Angst vor der Krankheit, die Folgen der Behandlung…“. Damit ginge er heute fraglos als „Schwurbler“ durch.
Mit dem Ursprung der Krankheit will man sich von offizieller Seite aus lieber nicht beschäftigen.
„Es könnte sich doch um einen [sic!] Virus aus einem Labor handeln.“
„Unwahrscheinlich!“
„Aber solche Züchtungen werden doch vorgenommen, und das unter strikter Geheimhaltung.“
In „Die Hamburger Krankheit“ kommen am Rande ein paar türkische Matrosen vor, aber keine Chinesen.
„‚Wir dürfen unsere Nächsten nicht gefährden‘, predigt ein Geistlicher hinter Plastikfolie.“
Während sich die Seuche im Bundesgebiet ausbreitet, begeben sich einige der Charaktere auf einen Trip gen Süden, über Lüneburg und Gießen bis in die bayerischen Alpen. Dabei siedelt sich Fleischmanns Werk irgendwo zwischen Roadmovie, bizarrer Komödie und Katastrophenfilm an.
Immer wieder tragen Menschen (OP-)Masken, einmal sogar eine ganze Menschenmenge, oder jemand hat Angst vor körperliche Nähe, beides jedoch nicht in dem Umfang, wie wir ihn seit eineinhalb Jahren erleben. Die Realität hat die Fiktion längst überholt. An einem Maskenverkaufsstand empört sich der schon erwähnte Ellerwein: „Glauben Sie etwa, das hilft? Das ist doch die reine Geldmacherei.“ Politiker der CDU/CSU und deren Angehörige werden im Film nicht erwähnt. Immerhin sieht man eine Demo, auf der mehrere Transparente mit der Forderung „Krisengewinnler in Quarantäne“ beschriftet sind.
Schließlich wird zwangsgeimpft. Die ersten Versuche führen in einem norddeutschen Dorf anscheinend zu einer Art Zombifizierung, wo Menschen aufeinander losgehen. Der einzige Überlebende vor Ort wird ausgerechnet vom Alt-68er Kommunarden Rainer Langhans verkörpert, der kürzlich verkündete, dass ihn die Privilegien für Corona-Geimpfte nicht reizen. Zu den bekannteren unter den übrigen Darstellern gehörten Ulrich Wildgruber und Tilo Prückner.
„Wir dürfen unsere Nächsten nicht gefährden“, predigt ein Geistlicher hinter Plastikfolie, verwendet den Begriff „Nächstenliebe“ aber nicht explizit auf eine Impfung bezogen. Der Rundfunk wird zum Ende des Films hin deutlicher: „Wir alle müssen mithelfen, um auch die letzten Ungeimpften ausfindig zu machen.“ Dabei wenden Uniformierte brutale Gewalt an, eine bayerische Trachtengruppe schießt um der Gesundheit Willen sogar jemanden tot.
„Die deutsch-französische Koproduktion unter Beteiligung des ZDF wirkt heute aktueller denn je.“
Nachdem die weibliche Hauptfigur, dargestellt von Carline Seiser, in die Fänge der Gesundheitsschergen geraten ist, nähert sich der Widerspenstigen ein Arzt mit Impfpistole.
„Da kommt der Onkel mit dem schweren Geschütz. Ist dann zwar keine Wunderwaffe, aber wir wollen es der Krankheit etwas schwerer machen, auszubrechen.“
„Ich bin aber nicht krank.“
„Wie wollen Sie das beweisen, liebes Kind? Niemand kann wissen, ob er gesund ist. Deswegen müssen wir alle behandeln. Wenn wir diese Schlacht gewinnen wollen, dann müssen wir alle mitmachen und können wir niemanden brauchen, der querzieht“.
Oder gar querdenkt und -handelt. Ferner bedient das Werk auch das, was heute als Verschwörungstheorien gebrandmarkt wird. In einer Szene frohlocken Bonzen, die Krise vertreibe „liberale Ideen“, und eine Dame geht davon aus, dass die Bevölkerung vergiftet werden soll, um eine von Professoren problematisierte Überbevölkerung anzugehen.
Die deutsch-französische Koproduktion unter Beteiligung des ZDF – und mit Musik von Jean-Michel Jarre – wirkt heute aktueller denn je. Die mehr als vier Jahrzehnte nach ihrer Erstaufführung ausgesprochene Hoffnung des Regisseurs Fleischmann, die Corona-Situation möge eventuell dazu führen, „dass wir großherziger werden, dass wir merken, worauf es wirklich ankommt“, hat sich – diplomatisch ausgedrückt – bisher noch nicht umfassend bewahrheitet.
Belassen wir es, was Prophezeiungen anbelangt, doch lieber bei einer Aussage aus dem Film: „Auch ein Klima kann ansteckend sein“…