15.05.2015

Ulrich Beck und die Angst vor der Moderne

Analyse von James Heartfield

Anfang Januar 2015 verstarb der deutsche Soziologe Ulrich Beck. Er prägte den Begriff der „Risikogesellschaft“. Damit lieferte er einer fortschrittsfeindlichen Angstkultur das theoretische Fundament. Angst lähmte auch Becks eigene Kreativität, meint James Heartfield

Die Soziologie, vor allem die deutsche Soziologie, leidet unter Karl Marx. Seine Gesellschaftstheorie war so zwingend, dass ein Großteil der nachfolgenden Soziologen sich bis heute an ihr abarbeitet. Bevor sich Ulrich Beck einen Namen machte, rangen Max Weber und Jürgen Habermas mit der Marx’schen Darstellung der Arbeiterklasse als Subjekt der Geschichte, deren Lebensumstände ihr das Motiv zur Abschaffung der ungeplanten Gesellschaft gegenseitiger Feindschaft lieferten – der Marktwirtschaft. Für Habermas war Marx‘ „kollektives Subjekt“ ein Ding der Unmöglichkeit. Bestenfalls könnten wir auf eine ergebnisoffene Debatte, die durch sorgfältig gewählte Spielregeln gemäßigt wird, hoffen. Diese Gesellschaftsordnung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der „gelenkten Demokratie“ der Alliierten im Nachkriegsdeutschland.

Beck war jünger als Habermas; seine Arbeit wurde von der wachsenden Umweltbewegung in Deutschland maßgeblich beeinflusst. Sein erstes Buch, Soziologie und Praxis (1982), ragte aus der Masse der soziologischen Literatur der 1980er-Jahre nicht besonders heraus. Der große Wurf gelang Beck dann mit seinem nächsten Werk: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (1986).

Die Grundthese des Buches lautete, dass die alte monokulturelle Industriegesellschaft einer neuen Form weiche, die um ein vielfaches komplizierter und voller unbeabsichtigter Konsequenzen sei. Darin wachse die Unsicherheit exponentiell. Beck dachte zuallererst an die damals von den Grünen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückte Umweltverschmutzung. Sein Argument lautete: Wenn die Industrialisierung weitreichende unbeabsichtigte und ungeplante Folgen habe, sei die Hoffnung der Moderne zum Scheitern verurteilt. Diese Hoffnung bestand für ihn darin, dass die Gesellschaft gesteuert werden könnte und dass das Wachstum das Chaos der Natur überwinden würde. Die unbeabsichtigten Folgen würden schneller wachsen als die beabsichtigten und unsere Hoffnungen, die Natur und die Gesellschaft bewusst steuern zu können, würden lediglich zu noch größerer Unsicherheit führen. Beck nannte diese neue Moderne „reflexiv“, da die Konsequenzen unserer Handlungen auf uns zurückfallen und unsere ursprünglichen Absichten konterkarieren würden. Unbeabsichtigte Folgen waren für ihn „Risiken“ – Gefahren, die mit der fortschreitenden Entwicklung der Industriegesellschaft exponentiell wuchsen.

„Becks Schlussfolgerungen waren sehr pessimistisch“

Die Politik alten Stils war für Beck ein fortwährender Streit zwischen Kapital und Arbeit um die Gewinne der industriellen Produktion. Angesichts der stetig wachsenden Risiken, so Beck, verändere sich jedoch dieser Konflikt. Es könne nicht länger um die Gewinnverteilung gehen, sondern vielmehr um die Frage, ob man für oder gegen die außer Kontrolle geratene Industriemaschinerie ist, die unser aller Leben gefährdet. Sowohl der marxistische Traum von einem einzelnen Antrieb der Geschichte als auch der industrielle Traum vom Fortschritt wurden so hinfällig. Niemand konnte mehr eine einzige plausible Vision der Zukunft für sich beanspruchen, da diese auf radikale Weise unsicher war. Und die Unsicherheit nahm sehr viel schneller zu als unsere Versuche, die Zukunft zu verstehen.

Becks Schlussfolgerungen hatten etwas sehr Pessimistisches an sich, obwohl er persönlich stets optimistisch und fröhlich wirkte. Großangelegte politische Projekte waren für ihn zwar Dinosaurier der ersten Moderne, in der neuen, reflexiven Moderne existiere aber dennoch ein großes Verlangen nach „Mikropolitik“. Diese könne etwa die Form einer Bürgerinitiative gegen den Bau einer neuen Straße oder für die Rechte von Einwanderern annehmen. Nicht länger möglich fand Beck dagegen eine einzige Zukunftsvision, was er in seinem letzten Buch darlegte. Es soll im Laufe des Jahres unter dem Titel Die Metamorphose der Welt veröffentlicht werden.

Für mehr Angst

Beck war ein äußerst einfallsreicher und spekulativer Denker, dessen großer Vorteil seine Bereitschaft war, neuen Ideen Ausdruck zu verleihen und sie aus dem Äther des modernen Lebens herauszuziehen. Er konnte mit scharfem Verstand aufzeigen, wie alte Ideen mitgeschleppt wurden, obwohl sie bereits jede echte Bedeutung verloren hatten. „Zombie-Kategorien“ nannte er diese. Zu oft präsentierte er jedoch einen sich lediglich abzeichnenden Trend als eine schon erfolgte Tatsache. Seine späteren Bücher lesen sich wie Stichpunkte auf einer Tafel, deren Untermauerung nie erfolgt ist.

Er widmete sich verstärkt den internationalen Beziehungen, besonders der Entstehung der Europäischen Union als neuartiger Macht. Hier ließ er sich vom postnationalen Denken einer Clique von Konferenz-Akademikern und Eurokraten mitreißen. Als „methodologischen Nationalismus“ lehnte Beck alle Analysen ab, die Nationen als etwas Reales betrachteten. Seiner Ansicht nach leben wir bereits in einer globalisierten Welt, in der Nationen nur noch Zombies sind. Im Nationalstaat erkannte er nichts als rückwärtsgewandten Ethnozentrismus. Das Verschwinden der Demokratie aus der postnationalen EU konnte ihn dabei nicht beirren.

„Angst und Risiko deutete Beck zu positiven Kräften um“

Wie alle etablierten Politiker und Kommentatoren unterstützte Beck den EU-Verfassungsentwurf von 2005, der die nationalen Parlamente praktisch entmachtet hätte. Die Wähler lehnten den Entwurf jedoch in mehreren Staaten in Referenden ab. Danach behauptete Beck ungerührt, die Verfassung, die er noch eine Woche zuvor so gepriesen hatte, sei ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen. Schließlich sollte nur ein weiterer moderner Nationalstaat etabliert werden und das konnte nicht gutgehen. In seinem 2012 erschienen Buch Das deutsche Europa zeigt sich Beck als scharfer Kritiker einer von Deutschland dominierten EU und greift viele der euroskeptischen Themen auf, die er bis dahin verworfen hatte. Allerdings vertritt er nach wie vor seine eigentliche These, dass Deutschland von den postnationalen europäischen Institutionen in Schach gehalten werden müsse, statt umgekehrt.

Die Grenzen menschlichen Handelns spielten eine zentrale Rolle in Becks Denken. Radikale Unsicherheit würde stets die anmaßend prometheischen Absichten der ersten Moderne zunichtemachen. Die Gesellschaft aktiv steuern und verbessern zu wollen, sei mehr als töricht, sogar gefährlich, da so immer größere Risiken und Gefahren entstünden. Mit Hilfe von Becks Thesen konnte die Besorgnis über die industrielle Produktionsweise und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft zur Tugend erklärt werden. Für die erstmalige Beschreibung der „Risikogesellschaft“ verdient Beck gewiss Anerkennung. Er unterließ jedoch Kritik an den Empfindungen, die der Risikogesellschaft zugrunde liegen. All seine Skepsis richtete sich gegen die „alte Moderne“ und den Nationalstaat.

Angst und Risiko wurden in seinem Werk überhöht und gleichsam zu positiven Kräften für den Zusammenhalt der Gesellschaft umgedeutet. Dabei ist doch offensichtlich, dass Angst und übersteigertes Risikobewusstsein nie zu positiven Entwicklungen führen, sondern lediglich zu reaktionärem Brandmarken derjenigen, die die Risiken verkörpern, egal ob Ausländer oder Industriearbeiter. Die Angst war Becks Metier. Sie lähmte sein Vermögen, die Welt zu verstehen. Seine kreative Energie wurde von jener Unsicherheit, die er auf der ganzen Welt stetig wachsen sah, verschlungen. Beck starb dieses Jahr, doch sein Denken ist schon immer vor dem Leben zurückgewichen.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#119 - I/2015) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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