08.07.2015

Terrorismus: Die Mörder des 7. Juli hatten kein Motiv!

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Anlässlich des zehnten Jahrestags der Anschläge auf die Londoner U-Bahn wirft Sabine Beppler-Stahl einen Blick auf die Untersuchungsergebnisse. Sie wehrt sich gegen die nachträgliche Rationalisierung der Gewaltakte. So erhalten die Täter eine völlig unangemessene Rechtfertigung

Am Donnerstag, dem 7. Juli 2005, zur morgendlichen Stoßzeit, verübten vier junge Männer Anschläge auf U-Bahnen und einen Bus in London. 52 Menschen starben und über 700 wurden verletzt. Die Täter, im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, waren Hasib Hussain, Mohammad Sidique Khan, Germaine Lindsay und Shehzad Tanweer.

Wer waren sie und warum wurden sie zu Mördern? Die erste Frage ist geklärt und wird in einem Untersuchungsbericht, der wenige Monate nach der Tat veröffentlicht wurde, ausführlich beschrieben. Auf die zweite gibt es bis heute keine befriedigende Antwort. Erklärungen, die im Nachhinein gefunden wurden, spiegeln eher Meinungen und Vorurteile der Betrachter wider als die Realität.

So wurde z.B. von den Gegnern des Irakkriegs gemutmaßt, der Anschlag habe etwas mit Großbritanniens Unterstützung für George W. Bush zu tun. Wollten die Täter (junge Muslime mit Migrationshintergrund) auf brutale Art gegen den Krieg protestieren? Weder die vom mutmaßlich Hauptverantwortlichen Khan hinterlassene Video-Botschaft noch sein Abschiedsschreiben und Testament lassen diese Schlussfolgerung zu. Khan spricht zwar wirr von „den permanenten Gräueltaten, die eure demokratische Regierung gegen mein Volk in aller Welt begeht“ [1]. Konkrete politische Forderung oder gar ein Programm sucht man vergeblich. Zu Recht schreibt der Untersuchungsbericht, dass die Botschaft in erster Linie die Bedeutung des islamistischen Märtyrertums hervorhebt. Wer versucht, den Tätern eine Anti-Kriegshaltung zu bescheinigen, riskiert, die Tat zu rationalisieren und sogar zu rechtfertigen.

Andere wiederum glaubten, die Mörder seien Teil einer fremdländischen Verschwörung gegen die freiheitlichen Werte des Westens und von außen gesteuert gewesen. Aber auch diese Sicht entspringt der Fantasie des Betrachters. Zwar waren Tanweer und Khan gemeinsam nach Pakistan gereist, doch radikalisiert hatten sie sich in England. Beweise dafür, dass sie Kontakt zu Al-Kaida pflegten, gibt es keine. Die von ihnen gezündeten Bomben hatten sie auf eigene Faust gebastelt und bezahlt. Die Darstellung der Täter als vom Ausland gesteuert oder manipuliert spricht ihnen viel zu viel Eigenverantwortung ab.

„Sie sind Verursacher eines lebensfeindlichen, sinnlosen Gewaltakts. Ihnen Motive zu unterstellen, adelt sie unnötig“

Irreführend auch die gelegentlich erhobene Behauptung, der Terror sei durch Einwanderung nach England „eingeschleppt“ worden (weshalb strengere Grenzkontrollen nötig seien). Alle vier waren Engländer und im Land geboren (außer Lindsay, der ein Jahr alt war, als er nach England kam). In dem Bericht heißt es: „Wenig unterscheidet ihre prägenden Erfahrungen von denen vieler anderer aus der gleichen Generation, ethnischen Herkunft und sozialem Hintergrund“. [2] Drei von ihnen kamen aus stabilen, gut integrierten Mittelklassefamilien (Lindsay aus eher dysfunktionalen Verhältnissen). Khan, der mutmaßliche Anführer, hatte als Erzieher gearbeitet und wurde von seinen Kollegen hoch geschätzt. Tanwer war ein erfolgreicher Sportstudent und Habib ein passabler Schüler.

Selbst die Tatsache, dass alle muslimisch waren, erklärt für sich genommen nichts. Warum wählten die Männer (anders als z.B. ihre Eltern) eine radikale, mörderische Variante des Islams? Interessant ist, dass der Bericht auch die These widerlegt, die vier hätten sich in einschlägigen islamischen oder sozialen Netzwerken kennengelernt. Stattdessen sollen sie mal hier und mal dort Veranstaltungen oder Moscheen besucht haben. Nichts deutet darauf hin, dass sie Jünger eines Hasspredigers oder fanatischen Imams gewesen waren. Khan und Tanwer sollen sich im Fitnessstudio kennengelernt haben. Überhaupt war, neben dem Islam, der Sport das Verbindende der Gruppe, wie auch der Bericht hervorhebt: „Campen, Kanufahrten und Wildwasserrafting (…) sowie andere Outdoor-Aktivitäten sind von besonderem Interesse, weil sie die gemeinsamen Faktoren der 7. Juli-Attentäter (…) zu sein scheinen“ [3].

Was also war das Motiv der Täter? Die Antwort lautet: Sie hatten keins. Damit stehen sie in einer Linie mit Amokläufern wie die „guten Jungs“ aus Columbine oder dem Piloten von Germanwings-Flug 4U952. Sie sind Verursacher eines lebensfeindlichen, sinnlosen Gewaltakts. Ihnen Motive zu unterstellen, adelt sie unnötig.

Hatten die Morde etwas mit Einwanderung zu tun? Nur indirekt: Ein Großteil der Opfer des 7. Julis waren Migranten, die an diesem ganz normalen Arbeitstag den London Transport benutzten. Sie kamen u.a. aus Polen, Nigeria, Ghana, Afghanistan, Indien, Bangladesch, Rumänien, der Türkei usw. [4]

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