01.07.2004

Steht ein Paradigmenwechsel bevor?

Interview mit Frank Emmrich

Frank Emmerich über die Chancen der Regenerativen Medizin.

Novo: Welchen Stellenwert messen Sie der regenerativen Medizin bei?

Frank Emmerich: Die regenerative Medizin ist eines der dynamischsten und zukunftsträchtigsten Gebiete der modernen Biomedizinforschung. Viele Konjunkturforscher erwarten, dass durch die bedeutenden Fortschritte auf dem Gebiet der Biotechnologie und Biomedizin der letzten Jahre die Gesundheitsindustrie in Zukunft zum wichtigsten Konjunkturmotor werden könnte. Dies ergibt sich auch aus der ungebrochenen Zunahme der mittleren Lebenserwartung und dem gleichzeitig steigenden Anspruch, auch im hohen Alter ein Höchstmaß an Lebensqualität beizubehalten. Das allerdings verlangt innovative neue Verfahren bei Organ- und Gewebeersatz, in der Stammzellforschung und bei der Steuerung körpereigener Reparaturprozesse.

Handelt es sich wirklich um einen Paradigmenwechsel in der Medizin und wenn ja, wodurch manifestiert er sich?

Der Paradigmenwechsel ist dadurch gekennzeichnet, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Therapieverfahren mit künstlichen Organen nicht im erwarteten Ausmaß entwickeln konnten. Trotz punktueller Fortschritte sind bahnbrechende Erfolge bisher ausgeblieben. Daher wenden sich die Forschergruppen zunehmend dem Konzept der Regeneration und Reparatur der biologischen Systeme zu.

Wo steht die regenerative Medizin aktuell, und mit welchen wissenschaftlichen „Durchbrüchen“ ist in absehbarer Zeit zu rechnen?

Wissenschaftliche Durchbrüche vorauszusagen, ist nahezu unmöglich. Niemand hätte zum Beispiel das erfolgreiche „Dolly-Experiment“ vorausgesehen, bei dem der Zellkern einer somatischen Zelle verwendet worden ist, um ein ganzes Individuum erfolgreich zu klonieren. Dass dies überhaupt prinzipiell möglich sein könnte, hätte vor der Durchführung und wissenschaftlichen Überprüfung kaum einer der maßgeblichen Entwicklungsbiologen für möglich gehalten. Es gibt Hinweise, dass wir immer noch das Regenerationspotenzial von Geweben unterschätzen. In den letzten Jahren sind in einer zunehmenden Zahl von Geweben Stammzellen entdeckt worden, von deren Existenz man bis dahin kaum etwas wusste. Wir wissen mittlerweile, dass es entgegen früher geäußerter Ansichten auch im Gehirn und im Fettgewebe nach der embryonalen Entwicklung noch Stammzellen gibt. In hoher Konzentration und Qualität kommen sie auch an leicht zugänglichen Orten, wie z. B. im Nabelschnurblut, in den Haarwurzeln oder im Fettgewebe vor, das bei plastischen Operationen abgesaugt wird. Durchbrüche erwarte ich vor allem bei der Standardisierung von Vermehrungsverfahren für Stammzellen in der Zellkultur, die einen Routinebetrieb in den Kliniken ermöglichen, und bei der Entwicklung funktionstüchtiger Gewebe.

Sind die in diese Branche gesetzten Erwartungen berechtigt?

Es ist schwierig, sichere Prognosen zu stellen, was vor allem daran liegt, dass die verschiedenen Analysen von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und einige wichtige Bereiche darin ausgelassen oder noch gar nicht erkannt worden sind. Insgesamt liegen die Vorhersagen für den Weltumsatz mit Produkten der Regenerativen Medizin zwischen 20 und 400 Mio. Euro jährlich, die innerhalb der nächsten zehn Jahre erwartet werden.

Was sollte man bei der Kommunikation dieser Thematik beachten?

Mit konkreten Heilsversprechungen sollte man sehr vorsichtig sein. Anfang der 90er-Jahre sind die technischen Möglichkeiten der Gentherapie mit großer Euphorie und mutigen Vorhersagen begrüßt worden. Danach hat sich ergeben, dass die Entwicklung sehr langsam und nicht ohne beträchtliche Rückschritte vorangegangen ist. Für die regenerativen Therapien spricht, dass sie ein sehr viel größeres Spektrum unterschiedlicher Ansätze umfassen, die von der Entwicklung und Verwendung neuer biologisch verträglicher, abbaubarer und verwendbarer Biomaterialien über die Entwicklung von Bioreaktoren bis hin zu außerhalb des Körpers gezüchteten Geweben reicht. Dass die regenerative Medizin sich volkswirtschaftlich ganz bedeutsame Krankheitsbilder wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes mellitus mit ihren Behandlungsverfahren vorgenommen hat, betrachte ich als außerordentlich spannendes Geschehen. Mit konkreten Vorhersagen sollten wir dennoch vorsichtig sein.

Wie bewerten Sie die Entscheidungen der Ethikkommission und die gesetzlichen Rahmenbedingungen?

Dass in Deutschland die Gesetzeslage – unter anderem durch das Embryonenschutzgesetz – sehr strikt ist, hat historische Gründe und verwundert nicht. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen nur ein relativ kleiner Bereich im gesamten Feld der regenerativen Medizin ist. Das Verbot betrifft auch nicht die Arbeit in tierexperimentellen Systemen. Viel bedeutsamer erscheinen mir Hindernisse, die sich durch sehr unterschiedliche Regelungen bei der Erteilung von Herstellungsgenehmigungen und Zulassungen im Bereich der regenerativen Medizin innerhalb der Mitgliedsländer der EU beziehungsweise im Vergleich zu den USA ergeben. Hier sind die Harmonisierungsbemühungen bisher nicht sehr erfolgreich gewesen, und es könnte leicht der Fall eintreten, dass wir uns in Deutschland sehr bürokratische und aufwändige Regeln schaffen, mit denen die zuständigen Regierungspräsidien als Aufsichtsbehörde total überfordert werden. Dies kann natürlich zur Folge haben, dass hervorragende Forscher im Grundlagenbereich, vor allem aber auch im Bereich der Umsetzung und Anwendung lieber in andere Gegenden abwandern.

Wie sähe ein idealer politischer und gesellschaftlicher Rahmen für Stammzellenforscher aus?

Wichtig erscheint mir, dass wir uns sehr genau das amerikanische System anschauen, in dem biologische Produkte, zumal, wenn sie aus körpereigenen Zellen hergestellt werden, sehr viel unbürokratischeren Genehmigungs- und Überwachungsverfahren unterworfen sind, als dies bei uns der Fall ist.

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