17.01.2019

Sprecht wie Mimosen! Handelt wie Bestien!

Von Robert Pfaller

Titelbild

Foto: Samuel Zeller via Unsplash / CC0

Identitätspolitik als Kulturprogramm der neoliberalen Erzeugung von Ungleichheit.

Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich in den reichen, westlichen Staaten derzeit eine eigentümliche Diskrepanz: Während diese Staaten auf der Ebene der Politik eine brüske Ignoranz gegenüber den elementaren Bedürfnissen der Bevölkerungen demonstrieren, legen sie auf der Ebene der Kultur ein immer feineres Zartgefühl an den Tag. Dort propagieren sie Maßnahmen der sogenannten „Sensibilisierung“ und implementieren entsprechende Institutionen.

Auf der Ebene der Politik unternimmt man nichts gegen die massiven Reallohnverluste, welche die untere Hälfte der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten hinnehmen musste. Man unternimmt wenig bis nichts gegen zunehmende Prekarisierung und man lässt Arbeitslose mit Maßnahmen wie Hartz IV verwahrlosen (bezeichnenderweise nimmt auch die aktuelle österreichische Rechts-Rechts-Regierung dieses Programm der Schröder-Sozialdemokratie derzeit zum Vorbild). Bis in die oberen Mittelschichten hinein hat sich das Gefühl verbreitet, dass die Kinder es einmal nicht mehr besser haben werden; ja man zweifelt sogar schon, ob man sich überhaupt das gleiche Auto noch einmal wird leisten können. Dieser ökonomischen Erosion entspricht auch eine der demokratischen Mitbestimmung: Mithilfe internationaler Abkommen wie der Maastricht-Verträge schafft man Realitäten, die sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen. Nicht nur bei der Bologna-Reform der Universitäten, sondern auch bei der Behandlung Griechenlands durch die EU-Finanzminister sowie wenn die EU Sanktionen gegen Russland oder Venezuela verhängt, oder wenn EU-Staaten Militärinterventionen in fernen, fremden Ländern wie Libyen, Syrien oder dem Jemen mit dubiosen Verbündeten tätigen, haben große Teile der europäischen Bevölkerungen das Gefühl, niemals auf irgendeiner politischen Ebene dazu eine demokratische Willensbildung erlebt zu haben.

„Die Idee, dass alle sagen sollen, was sie in ihrem Innersten zu sein glauben, ist das unhinterfragte Kernstück einer scheinbar emanzipatorischen Politik der ‚Lebensstile‘.“

Auf der Ebene der Kultur dagegen zeigt man geradezu erstaunliches Verständnis für noch so kleine Sorgen oder Empfindlichkeiten – vor allem für solche, die mit Fragen der sogenannten ethnischen, kulturellen, religiösen oder sexuellen etc. „Identität“ verbunden sind. Man diskutiert öffentlich über sogenannte „Mikroaggressionen“ 1 , empfiehlt die Vermeidung von Worten oder Gesten, die irgendjemanden verletzen könnten (meist lange, bevor tatsächlich irgendjemand sich verletzt fühlt), und denkt voller Ernsthaftigkeit darüber nach, wie viele Geschlechter es geben könnte und ob wir derzeit wohl eine Toilettentüre zu wenig oder aber eher eine zu viel haben. Und obwohl in den Kulturwissenschaften der Philosoph Michel Foucault zu den meistzitierten zählt, fällt auffallend wenigen Vertretern des Fachs auf, wie sehr Foucaults These, wonach die Macht nicht in erster Linie einschränkend, sondern vielmehr stimulierend wirke und Individuen zum öffentlichen Bekennen ihrer vermeintlichen wahren Identität animiere 2 , gerade auf die aktuelle Identitätspolitik zutrifft. Die Idee, dass alle sagen sollen, was sie in ihrem Innersten zu sein glauben oder hoffen, und dass dieses intime Empfinden öffentlicher Anerkennung und institutioneller Berücksichtigung bedarf, ist das unhinterfragte Kernstück einer scheinbar emanzipatorischen Politik der „Lebensstile“ – und genau jener Mechanismus von machtdienlichem „Bekenntniszwang“, gegen den Foucaults Kritik sich gerichtet hatte.

Tyrannei der Identität

Nun lassen sich verschiedene Antworten auf die Frage geben, wie sich denn die ökonomische Brutalisierung und Entdemokratisierung zu der kulturellen Sensibilisierung verhält. Man kann der Auffassung sein, dass letzteres immerhin eine Kompensation im Kleinen für die Verluste im Großen darstelle. Immerhin hat die Identitätspolitik ja eine nicht unbeträchtliche Zahl von Kleingewerbebetrieben in Gestalt von identitätspolitischen Forschungsstellen, Kulturvermittlungsvereinen, Sprachverbesserungskomitees, Antidiskriminierungsgremien, psychologischen Beratungsstellen für sogenannte „Überlebende“ von Mikroaggressionen etc. ins Leben gerufen. Nicht wenige Menschen haben ein bescheidenes Einkommen durch solche Probleme – was übrigens auch dazu führt, dass sie strukturell wenig Interesse zeigen, solche Probleme jemals zufriedenstellend zu lösen. Das könnte ein Grund sein, weshalb zum Beispiel kaum ein einziger Vorschlag zur identitätspolitischen Verbesserung der Sprache jemals dauerhaft in den Sprachgebrauch Eingang gefunden hat: So unbeholfen waren die meisten Vorschläge.

Gerade die Genderforschung hatte betont, dass Geschlecht nicht „essentialisiert“ werden dürfe. Das heißt: dass es nicht nur als biologisches Schicksal, sondern mindestens ebenso sehr (wenn nicht zur Gänze) als gestaltbare soziale Rolle zu begreifen sei. Gerade vor diesem Hintergrund ist es befremdlich, wenn in der Genderforschung tätige Menschen erklären, sich mit keiner bestehenden Rolle ausreichend identifizieren zu können – so z.B. der Linguist Lann Hornscheidt, der weder mit „Frau“ noch „Herr“ angesprochen werden will. Bei der Frage, woran das Ausreichende oder nicht Ausreichende hier bemessen werden soll, scheint nämlich als einzig möglicher Maßstab plötzlich wieder die Idee eines essentiellen, „wahren“ Geschlechts zum Vorschein zu kommen.

„Die Postmoderne ist das Kulturprogramm des Neoliberalismus.“

Eine Rolle dagegen spielt man für andere, und sie ist umgekehrt das, was andere einem zugestehen müssen. Man darf dann eine Dame oder ein Herr sein, auch wenn man sich an diesem Tag vielleicht mal eher als Kind, Tier oder Würstchen fühlt. „Die Rolle ist nicht nur eine Verpflichtung, sondern auch ein Recht im sozialen Umgang.“  Dieses Recht im Namen mangelnder Identifizierung mit der Rolle zurückzuweisen, macht nicht nur die Idiosynkrasie zur Norm des Sozialen. Sie schränkt vielmehr auch die Rechte und Möglichkeiten einer Person drastisch ein auf den engen Rahmen dessen, womit diese Person sich selbst vollständig identifizieren kann.

So traurig sieht Emanzipation aus, wenn man sie mit Verinnerlichung verwechselt (ein Fehler, der in Deutschland auffällig oft begangen wird): Ein bösartiges, seiner religiösen Abkunft nach fundamentalistisch-protestantisches Über-Ich tyrannisiert hier das Ich mit der Forderung nach umfassender gefühlter Authentizität; wohingegen die Gesellschaft, nachsichtiger, schon mit einer einigermaßen liebevoll dargebotenen Maske zufrieden gewesen wäre. 3

Neoliberale Ungleichheitsproduktion

Man kann andererseits der Ansicht sein, dass die postmodernen Identitätspolitiken keine mildernde Kompensation, sondern vielmehr einen aktiven Beitrag zur neoliberalen Produktion wachsender Ungleichheit darstellen. Das ist die These, die zum Beispiel im Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ steckt, den die Philosophin Nancy Fraser entwickelt hat: Neoliberale Produktion gesellschaftlicher Ungleichheit – also eine Politik, die auf Privatisierung vormals staatlicher Aufgaben, Ausweitung des Finanzsektors und De-Regulierung des Arbeitsmarktes bei gleichzeitigem Abbau des Wohlfahrtsstaats und demokratischer Mitbestimmungsrechte setzt – bedarf der postmodernen Identitätspolitik als ihrer kulturellen Ergänzung. Die Postmoderne ist das Kulturprogramm des Neoliberalismus.

Diese These lässt sich mit mindestens zwei Argumenten untermauern. Erstens erfüllt eine Verstärkung der Sorge der Individuen um ihre Identität zu einer massiven Entsolidarisierung und zur Ablenkung von den entscheidenden Fragen. Die um ihre Identität Besorgten treten ein in einen „Opferwettbewerb“, in dem sie einander durch sogenannte „Intersektionalität“ zu übertreffen versuchen. Dabei werden sie zunehmend unfähig zu erkennen, dass es wichtigere Interessen gibt als die Empfindlichkeiten der Identität – wie zum Beispiel wachsende ökonomische Ungleichheit und Entdemokratisierung –, und dass es für die Verfolgung dieser Interessen notwendig wäre, sich mit anderen, ungeachtet ihrer etwaigen Besonderheiten, zusammenzuschließen. Analog zur Ebene der Ökonomie findet hier eine massive Privatisierung des öffentlichen Raumes statt. Anstelle von mündigen Erwachsenen begegnen einander nun infantilisierte Narzissten, die sich in ihrer Empfindlichkeit gefallen und unfähig sind, irgendeine politische Frage ohne Ansehen ihrer eigenen Person zu behandeln. Diese Fähigkeit zum Absehen von der eigenen Person und ihren Befindlichkeiten aber ist dasjenige, was nach der Einsicht des Soziologen Richard Sennett die Menschen nicht nur zu zivilisierten Wesen, sondern auch zu handlungsfähigen politischen Bürgern (citoyens) macht. 4

„Der Hass auf die ‚alten, weißen, heterosexuellen Männer‘ richtet sich nämlich auf das gesamte politische und ethische Programm des bürgerlichen Universalismus.“

Symptomatisch ist diesbezüglich die für die Identitätspolitiken charakteristische, geradezu mantraartig verbreitete Klage über die „alten, weißen heterosexuellen Männer“. 5 Diese bodenlos dumme Polemik beansprucht, strukturelle gesellschaftliche Probleme auf dem Weg über Hautfarben und Sexualitäten in Angriff nehmen zu können. Sie tut so, als ob nur die genannte Gruppe zu den Tätern allen historischen Übels gezählt hätte und alle übrigen nur zu den Opfern. Das ist freilich doppelt falsch. Denn auch in den übrigen Gruppen gab es Täter. So bemerkt zum Beispiel Achille Mbembe, dass es im 17. Jahrhundert in der Karibik durchaus auch farbige Sklavenbesitzer gegeben hat, und dass andererseits „Aufstände über Rassengrenzen hinweg vereinter subalterner Klassen“ stattfanden. 6 Auch Frauen oder Homosexuelle fanden sich begreiflicherweise auf der Gewinnerseite sämtlicher Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Andererseits gab es in Ländern, die in ihrer Geschichte niemals schwarze Sklaven hatten, wie zum Beispiel Österreich, im 20. Jahrhundert eine ganze Menge weißer Sklaven: Als Zwangsarbeiter im Austrofaschismus und im Nationalsozialismus leisteten sie einen maßgebenden Beitrag zur Industrialisierung des Landes. 7 Weiße, heterosexuelle Männer waren in solchen Ländern unter anderem auch KZ-Häftlinge, Widerstandskämpfer in Spanien (im Bataillon „12. Februar 1934“), in der französischen Résistance, bei den Tito-Partisanen, und einige wenige von ihnen sind noch heute sogar auch alt. Der Versuch der Identitätspolitiken, Strukturen auf Personen und Identitäten zu reduzieren, ist darum theoretisch irreführend und politisch infam.

Der noch größere Schaden, den diese Polemik anrichtet, aber entsteht dadurch, dass eine entscheidende Errungenschaft bürgerlicher Emanzipation durch sie diffamiert wird. Der Hass auf die „weißen etc. Männer“ richtet sich nämlich auf das gesamte politische und ethische Programm des bürgerlichen Universalismus.

Die Bourgeoisie hatte als erste Klasse in der Geschichte sich selbst nicht als besondere, sondern vielmehr als allgemeine Klasse begriffen (die Arbeiterklasse ist ihr später darin gefolgt), und ihre Befreiung nicht nur als ihre eigene, sondern als die der gesamten Gesellschaft konzipiert. Die Etablierung eines Rechtssystems, das von der jeweiligen Person absieht, eines Wahlsystems und eines Wissenschaftssystems, die dies ebenso tun (etc.), sowie eines Systems des zivilisierten, urbanen Umgangs, in dem sowohl die eigene Person als auch die des jeweils anderen (samt der sexuellen, ethnischen, religiösen etc. Identität) im Hintergrund gehalten wird, sind die entsprechenden Erfolge der bürgerlichen Klasse. Dass es zunächst vorwiegend Männer (und vorwiegend weiße und heterosexuelle) waren, die die entsprechenden Funktionen einnahmen, ist wahr. Es mag ihnen auch erlaubt haben, sich die dafür erforderlichen Fähigkeiten über eine längere Zeit anzueignen, als dies allen übrigen möglich war, und sie folglich in höherem Maß zu ihrer zweiten Natur werden zu lassen.

„Die Politik der Gleichheit nützt allen; die Politik der ungleichen Behandlung von ‚Diversität‘ hingegen nützt regelmäßig nur Eliten.“

Das alles spricht aber nicht gegen diese Errungenschaften. Sie sind vielmehr gerade die Beute, um die jegliche Emanzipationsbestrebung welcher Identitätsgruppe auch immer kämpfen muss. Das unpersönliche Recht und den Habitus des zivilisierten Verhaltens identitätspolitisch zu verunglimpfen, ist hingegen ein Beitrag zur neoliberalen Zerstückelung, Re-Feudalisierung und Re-Tribalisierung der Gesellschaft. Die Politik der Gleichheit nützt allen; die Politiken der ungleichen Behandlung von „Diversität“ hingegen nützen regelmäßig nur Eliten. Eine Gesellschaft aber, der nicht einmal mehr die Fiktionen von Gleichheit und Universalismus zur Verfügung stehen, verwandelt sich politisch schnell wieder in eine Oligarchie der Eliten und zerfällt sozial in ein verständigungsloses Wirrwarr dogmatischer, traditionaler Gemeinschaften. Hierin assistiert die postmoderne Kultur den ökonomischen Entwicklungen: Genau in dem Maß, in dem der Neoliberalismus den Menschen die Aussicht auf eine bessere Zukunft genommen hat, kam ihnen die Propaganda der Identitätspolitik zu Hilfe und ließ sie nun, statt nach vorne, nach hinten blicken und ihre Solidaritäten dort suchen: Wer keine Zukunft mehr hat, der braucht eben mehr Herkunft. Und wer nicht mehr hoffen kann, irgendetwas Interessantes zu werden, der muss eben darauf pochen, irgendetwas Kostbares, Verletzbares zu sein.

Zweitens hat der Neoliberalismus zur Spaltung der gesellschaftlichen Mitte in den reichen westlichen Staaten geführt. Eine im erfolgreichen Keynesianismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte zu gewissem Wohlstand und Ansehen gelangte untere Mittelschicht aus Arbeitern und Angestellten erlitt nun massive Verluste sowohl an Realeinkommen wie auch an Sozialprestige. Das eine besorgte die ökonomische Umverteilung, das andere die kulturelle. Frühere emanzipatorische Engagements wie Neomarxismus, Feminismus oder Antirassismus wurden nun vorwiegend auf der Ebene der Kultur praktiziert und verwandelten sich in unverbindlichere Betätigungsfelder wie Dekonstruktion, Gendertheorie und postkoloniale Studien. Sie verloren dabei an gesellschaftlicher Relevanz, aber gewannen dafür an Verfeinerung, Komplexität – und vor allem an Distinktionswert – hinzu: Mit all diesen Dingen, ursprünglich aus der Not der Ausgebeuteten geboren, konnte man nun plötzlich zeigen, dass man etwas Besseres war. Den bisher in etwa Gleichgestellten in der Firma konnte man nun deklassieren, indem man ihn zum Beispiel belehrte, dass man nicht mehr „Eskimo“ sagen dürfe. Auch das Klagen über sogenannte „Mikroaggressionen“ ist ein Geschäft unter durchwegs Bessergestellten – insbesondere Studierenden an teuren US-amerikanischen Eliteuniversitäten (und dort wieder speziell in den auf die Produktion von Luxusgütern ausgerichteten Disziplinen wie Kulturwissenschaft, Philosophie oder Kunst). Mit gesteigerter Empfindlichkeit kann man unter Eliten im Moralsystem „Opfersein“ zeigen, dass man etwas Feineres ist; und anders als in den unteren Gesellschaftsklassen bringt solche Klage Prestige, Sympathie und Gefolgschaft ein, die bis hin zum Shitstorming und Mobbing in den sogenannten „sozialen Medien“ reichen kann. Den unteren Gesellschaftsklassen hingegen stehen, wie die Soziologen Campbell und Manning gezeigt haben, solche Solidarisierungen nicht zur Verfügung. 8 Dort herrscht vor allem das alte Kontrollsystem „Ehre“ vor. Darin gewinnt man nur Ansehen, wenn man sich wehrhaft und nicht empfindlich zeigt. Identitätspolitik, Empfindlichkeit und „victimhood“ haben erfolgreich das gesellschaftliche Leid und seine Anerkennung nach oben, zu den Eliten, umverteilt.

Kulturalisierung linker Politik

Ein entscheidender Grund für diese Entwicklungen dürfte darin liegen, dass seit den 1980er-Jahren die Mitte-Links-Parteien in Europa und Übersee sich in ihrer ökonomischen Politik nicht mehr von ihren konservativen und neoliberalen Gegnern unterschieden. Die einzig verbleibenden Unterschiede mussten nun auf dem Feld der Kultur markiert werden. Diese Kulturalisierung linker Politik führte dazu, dass Probleme der ökonomischen Basis nun nur noch auf der Ebene des ideologischen Überbaus behandelt wurden – so, als ob man dort wirksam etwas gegen sie unternehmen könnte. Als zum Beispiel der Ausbau des Sozialstaates, der eine Notwendigkeit für die Anliegen der Frauenbewegung der 1970er-Jahre war, in den 1980er-Jahren gestoppt und mit Austeritätsprogrammen zurückgefahren wurde, entschädigte man die Frauen verstärkt mit dem Binnen-I und ähnlichen Sprachkomplikationen. Und entsprechend der zuvor beschriebenen, diesen symbolischen Politiken eigenen Distinktionslogik verkleinerte man die Probleme zunehmend, indem man ihre Beachtung auf immer kleinere und marginalere Gruppen verlagerte – bis hin zu Hillary Clintons ständiger Betonung der sogenannten „LGTBQ+“-Agenda.

„Was als Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung gedacht war, wird plötzlich zu einem Prestigekampf darum, wer der Unterdrückteste und Ausgebeutetste ist.“

Wenn man Probleme der Basis auf der Ebene des kulturellen Überbaus zu behandeln versucht, dann verabsäumt man es aber nicht nur, diese Probleme zu lösen, sondern man produziert sogar noch weitere, neue. Man lenkt die zum Engagement Entschlossenen nicht nur auf unbedeutende Nebenschauplätze ab und paralysiert sie in endlosen Präliminarien über die Frage, wie zum Beispiel streikende Studierende einander korrekt, alle etwaigen Minderheiten einschließend und genderneutral ansprechen könnten. Es kommt offenbar unvermeidlich auch zu einer Wendung nach innen, wodurch Bewegungen, die ursprünglich sozusagen „alloplastisch“ auf die Veränderung der übrigen Gesellschaft gerichtet waren, nun beginnen, sich „autoplastisch“ selbst zu zerfleischen.

Man fällt fast nur noch über Gleichgesinnte oder Gleichorientierte her. Ein schönes Beispiel für diese Entwicklung innerhalb der Trans- und Queer-Szene hat der 2017 veröffentlichte, bemerkenswerte Sammelband „Beißreflexe“ zur Darstellung und scharfsinnigen Analyse gebracht. 9 Politik wird nun, wie die Politologin Chantal Mouffe bemerkt hat, vorwiegend „im moralischen Register ausgetragen“ 10 – ein sicheres Indiz für Entpolitisierung und Kulturalisierung. Man beginnt politische Versammlungen zum Beispiel mit der Aufforderung an einige der Anwesenden, erst einmal ihre „Privilegien zu checken“. Was als Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung gedacht war, wird dadurch plötzlich zu einem Prestigekampf darum, wer der oder die Unterdrückteste und Ausgebeutetste ist. Anstatt zu fragen, wofür die Genossinnen sind, ob sie dasselbe wollen und mit welchen Strategien sie es erreichen wollen, fragt man zuerst, wer sie sind. Nicht nur, dass man sich innerhalb dieses Diskurses kaum fragt, wozu das gut sein soll und was eigentlich passieren könnte, sobald alle endlich ihre „Privilegien gecheckt“ haben; dieser Diskurs ist auch eigentümlich blind für die Tatsache, dass er selbst ein einziges Privileg ist. Es verwundert darum nicht, dass diejenigen, die ihn betreiben, ohne Umschweife bereit sind, alle weniger Privilegierten, die zu solchen luxuriösen Debatten keinen Zugang finden, als „Rassisten“ oder „Islamophobiker“ etc. zu bezeichnen. Da fragen sie dann bezeichnenderweise nicht, wer die anderen sind und warum – das heißt: aufgrund welchen mangelnden Privilegs – sie sich denn keine besseren Ansichten leisten können.

Es passt in dieses Bild, dass derzeit zum Beispiel die Sozialdemokraten aus den bürgerlichen Bezirken der Wiener Innenstadt, die kaum unter Problemen mit Zuwanderung zu leiden haben, gegenüber den diesbezüglich weitaus sorgengeplagteren Sozialdemokraten der proletarischen Außenbezirke als die „Linken“ innerhalb der Partei gelten. Der Hass, den die Bewohner verwahrlosender Arbeiterbezirke und -städte hier – ebenso wie zum Beispiel in England – gegen die sogenannte „Kulturlinke“ empfinden, mag vor diesem Hintergrund verständlich werden. 11

„Die ‚Kulturlinke‘ wird nicht zu Unrecht als eine Distinktionselite wahrgenommen, die sich den Luxus ‚humaner‘ Einstellungen leisten kann.“

Die „Kulturlinke“ wird nicht zu Unrecht als eine Distinktionselite wahrgenommen, die sich den Luxus „humaner“ Einstellungen leisten kann und damit die übrigen Elemente – auch der eigenen Partei – deklassiert. Die symbolischen Pseudopolitiken leisten somit einen nicht unerheblichen Beitrag dazu, dass die untere Mittelklasse immer mehr den Anschluss an den oberen Teil der Gesellschaft verliert. Diese zunehmende Aussichtslosigkeit hat wiederum zur Folge, dass diese Klasse weniger versucht, nach oben zu kommen, als vielmehr, nicht von nachdrängenden unteren Klassen – wie zum Beispiel ambitionierten Migranten – eingeholt zu werden. Didier Eribon hat in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ anschaulich beschrieben, wie seine eigene Familie, die noch in den 1970er-Jahren regelmäßig kommunistisch wählte, danach ins Lager des Front National übergewechselt ist. Der scheinbare „Rechtsruck“ im Wahlverhalten in vielen westlichen Gesellschaften ist die Folge eines Klassenkampfes, den seit den 1980er-Jahren der kleine, obere Teil der Gesellschaft erfolgreich gegen den Rest geführt hat. Die Oberen haben sich von den Mittleren abgesetzt, und sie haben die Unteren auf die Mittleren losgelassen. Darum – keineswegs unerwünschte Konsequenz – streben die Mittleren nun nicht mehr mit einer linken Parole nach oben, sondern hoffen, sich mit rechten Strategien nach unten absichern zu können. Wenn man die Mittleren weit genug hinunterstößt, sind sie eben gezwungen, gegen die Unteren zu kämpfen. Auch die Identitätspolitik, als kulturelles Betätigungsfeld der (unteren) Oberen, hat hier seinen strategischen Platz: Denn die Unteren der Oberen müssen, um nicht selbst hinunter gestoßen zu werden, gegen die Mittleren kämpfen und sie mithilfe einer Verknappung von symbolischem Kapital weiter nach unten befördern.

Zurück zur Klassenpolitik

Während die postmoderne Identitätspolitik einerseits ständig Menschen auf diverse Zugehörigkeiten und Herkünfte reduziert, übernimmt sie andererseits das frühbürgerliche, aufklärerische Pathos der „Beseitigung von Vorurteilen“. Darum werden gerade in einer brutalisierten „The winner takes it all“-Ökonomie ständig neue Diskriminierungsformen entdeckt (wie zum Beispiel „Ageism“ oder „Ableism“ sowie die zahlreichen sexuellen Ablehnungsvarianten wie „Terf“ und „Swerf“) und entsprechende zusätzliche Antidiskriminierungsrichtlinien erlassen sowie Antidiskriminierungsapparate eingerichtet. Damit soll suggeriert werden: Wir beseitigen alle Markthindernisse. Doch eine solche Politik setzt den Wettbewerb noch weiter außer Kraft und schafft zusätzliche Ungleichheit, da nun mehr als die bloße Leistung eben diverse tatsächliche oder angebliche Handicaps – in oft kaum nachvollziehbarer Weise – in Rechnung gestellt werden. Sie privilegiert überdies Identitätsnachteile gegenüber Klassenvorteilen, so dass zum Beispiel nun vermehrt Aufsichtsratsgattinnen an Stelle von Männern aus der Mittelklasse oder wenigstens von außerhalb der engeren Machtzirkel in die Aufsichtsräte gelangen.

„In einer Gesellschaft, die sich auf Gleichheit zubewegt, werden den Menschen ihre Identitäten zunehmend egal.“

Aber selbst unter den günstigsten Bedingungen kann die Politik der „Nichtdiskriminierung“ keine Gerechtigkeit schaffen: Wie der Theoretiker und Aktivist der Emanzipation der Schwarzen in den USA, Adolph Reed, treffend bemerkt hat, würde in einer solchen Gesellschaft weiterhin 1 Prozent der Menschen 90 Prozent der Ressourcen kontrollieren. Lediglich wären dann 12 Prozent dieses einen Prozents schwarz, 12 Prozent wären Latino, 50 Prozent wären Frauen, und ein wie auch immer gearteter aliquoter Anteil würde von LGTBQ+-Leuten gestellt.

Die Erfahrungen der letzten Jahre sowie die scharfen Analysen von Fraser, Reed und vielen anderen haben somit deutlich gezeigt, dass ein Grundprinzip postmoderner Theorie in Wahrheit deren erste Lüge, ihr Proton Pseudos, ist: nämlich die These, dass grundsätzlich keinem gesellschaftlichen Kampf Vorrang gegenüber einem anderen eingeräumt werden dürfe. Es sei „essentialistisch“ oder „fundamentalistisch“, wenn man zum Beispiel die Frage der Klasse vorrangig gegenüber jener der ethnischen Herkunft oder der sexuellen Orientierung behandle. 12 Buchstäblich essentialistisch aber ist etwas anderes: nämlich, wenn man für alle Zeiten und Verhältnisse stur eine grundsätzliche Gleichrangigkeit sämtlicher Konflikte behauptet und somit diese Frage des Vorrangs als von vorneherein geschlossene, anstatt als offene, empirische Frage betrachtet. Die Erfahrung hat doch inzwischen, wenigstens für die aktuellen Verhältnisse, eines gelehrt: Die Frage „Arm oder reich?“ (beziehungsweise, präziser: „Zugang zu Kapital oder nicht?“) bildet den Schlüssel für die Entstehung, die Polarisierung oder auch das Verschwinden sehr vieler übriger, in der Postmoderne gezielt überbewerteter Differenzen. Wenn man die Probleme der Identität und der Klasse von der Seite der Identität in Angriff nimmt, dann löst man darum meist keines von beiden. Wenn man sie aber von der Seite der Klasse in Angriff nimmt, dann löst man sehr oft alle beide. Denn in einer Gesellschaft, die sich auf Gleichheit zubewegt, werden den Menschen ihre Identitäten zunehmend egal. Sie achten dann nicht mehr darauf, was sie angeblich sind, sondern darauf, was sie werden können.

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