01.09.2007
Sozialismus mit ökonomischem Antlitz
Essay von Boris Kotchoubey
Über die Nützlichkeit „unnützer“ Forschung.
Ein Gespenst geht um in den Universitäten – das Gespenst des Neoliberalismus. Alle Mächte der alten deutschen Universität haben sich gegen dieses Gespenst verbündet: verdiente Professoren und rebellische Studentenführer, Erzkonservative und Freidenker, grauhaarige Alt-68er in jugendlichen Jeans sowie diejenigen, die ihr ganzes Leben lang in der 68er-Ideologie die Wurzel alles Bösen sahen.
Das Wort „Liberalismus“ kommt von „libertas“ – Freiheit. Der naive Beobachter dieses Aufruhrs wundert sich: Wer in Forschung und Lehre sollte an der Freiheit Anstoß nehmen? Die Begründung der Ökonomisierung der Hochschule ist schlicht und einfach wie die Lehre des Propheten Adam Smith: Alle Probleme der Hochschule seien letztendlich Folgen des fehlenden Wettbewerbs. Die Hochschule müsse sich am freien Markt ein Beispiel nehmen – am besten, indem sie sich auch auf den Markt begäbe. Erst der freie Wettbewerb auf allen Ebenen – unter einzelnen Hochschullehrern und ganzen Forschungseinrichtungen – erschaffe die notwendige Ungleichheit, die zur dynamischen Entfaltung der menschlichen Kreativität beitragen solle.
Allerdings ist der freie Wettbewerb auf dem Markt nur deshalb so produktiv und konstruktiv, nur deshalb brachte die Marktwirtschaft der Menschheit jenen Überfluss an materiellen und geistigen Werten, an schlauen Erfindungen und intelligenten Innovationen, weil sich dieser Wettbewerb an einem klaren und natürlichen (nicht etwa von einem König oder Kaiser willkürlich festgelegten) Kriterium orientiert: an der Maximierung des Gewinns durch Erfolg beim Kunden, gemessen am Geld. Wer für sein Produkt keine Kunden findet, wird vom Markt vertrieben. Und das ist gut so, denn dies ist die Grundlage des Fortschritts.
Wenn Forschung und Lehre diesen Vorschlag buchstäblich nähmen und anfingen, sich tatsächlich an den Kriterien der Marktwirtschaft zu orientieren, müssten in erster Linie alle Produktionsabteilungen, die in absehbarer Zukunft kein Geld bringen, sondern nur Kosten verursachen, geschlossen werden. Jede andere Lösung wäre unwirtschaftlich. Das würde aber das Ende jeglicher Grundlagenforschung und die Rückkehr zur bloßen Technologie bedeuten, wie etwa im alten Babylon. Da jedoch eine Reise ins alte Babylon heute nicht mehr möglich ist, bietet sich eine Möglichkeit, ein Modell einer solchen ausschließlich am Markt orientierten Forschung in der Gegenwart zu finden. Dieses Modell ist Russland.
Während die Jahre 1992 bis 1998 in Russland durch den Zerfall aller gesellschaftlichen Strukturen, inklusive der Wissenschaft, gekennzeichnet waren, steigt seitdem die Nachfrage nach guter angewandter Forschung in vielen Fachbereichen, vor allem in den Bereichen Jura, Wirtschaftswissenschaft, Betriebs- und Organisationspsychologie u.ä. Wer etwa die Taktiken der Wahlkompanien oder die Effizienz eines bestimmten Typs der Werbung erforscht, kann durchaus erfolgreich sein. Die einst berühmte russische Grundlagenforschung, etwa in der Mathematik oder der theoretischen Physik, ist jedoch fast vollständig ausgerottet. Ein guter Forscher, auch im Rang eines Professors und Institutsleiters, verdient weniger Geld als eine Teilzeit-Putzfrau in einer Bank. Ist dies aber nach der Logik des Marktes nicht vollkommen richtig? Die Putzfrau macht die Bank sauber und im gewissen Sinne attraktiv für potenzielle Anleger. Kurz- und mittelfristig bringt sie deshalb mehr Geld als ein Mathematikprofessor.
Selbst wenn wir die nicht unbestrittene These, dass eine gute Forschung letztlich einem praktischen Nutzen dienen und deshalb auch marktfähig sein sollte, annehmen würden, wäre eine ausschließlich am Profit orientierte Forschung schon deshalb absurd, weil die Zeitspanne, in der sie praktisch anwendbar wird, die Zeitspannen der Wirkung des Marktes erheblich übersteigt. Lobatschewski hat seine Vorstellungen über den nicht-euklidischen Raum am Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt. Ohne diese Ideen wäre möglicherweise die Entwicklung der Atombombe in der Mitte des 20. Jahrhunderts unmöglich gewesen. Das gute alte Computerspiel „Civilization“ veranschaulicht diese Tendenz sehr klug: Der Spieler muss nach und nach zivilisatorische Entwicklungen hervorbringen, wobei er immer eine Auswahl hat, was er als Nächstes entwickeln will. Schon zu Beginn des Spieles steht ihm z.B. die „Anbetung der Toten“ zur Wahl – wozu eigentlich? Was soll sie? Wie jede Entwicklung kostet sie Zeit und Geld, wie im wirklichen Leben. Doch ein Anfänger, der nicht rechtzeitig die Anbetung der Toten entwickelt hat, hat verloren! Zu spät erfährt er, dass ohne jene Anbetung keine Mystik möglich ist, ohne Mystik keine Sternenkunde, ohne Sternenkunde keine Seefahrt, und ohne Seefahrt ist das Spiel gegen einen mit Fregatten und dann mit Schlachtschiffen und U-Booten bewaffneten Gegner hoffnungslos.
„Die Befürchtung, dass die Wissenschaft zur Wirtschaft verkommt, mag berechtigt sein. Aber nicht zur Marktwirtschaft, sondern zur Planwirtschaft.“
Bei einem aufmerksamen Blick erscheinen jedoch in der drohenden Liberalisierung und Ökonomisierung der Hochschule seltsame Züge. Vielleicht das Wichtigste, was nicht in das Bild einer freizügigen Marktwirtschaft passt, ja diesem Bild offensichtlich widerspricht, ist die stets wachsende Anzahl der Regulierungsinstrumente, mit denen die Verwaltungsorgane (die in verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich heißen, aber doch die gleiche Funktion ausführen) den Forschungsprozess zu steuern versuchen. Der „gelenkten Forschung“ (die Assoziation mit der putinschen „gelenkten Demokratie“ ist absichtlich) liegt der Glaube zugrunde, dass ein intelligenter Verwaltungsapparat in Zusammenarbeit mit einer Gruppe ausgewiesener Experten die Bedürfnisse und Trends genau erkennen und durch diese Erkenntnis den Lauf der Dinge steuern könne. Wie der Journalist Konrad Adam formuliert hat, sollte die Forschung auf folgende Art und Weise funktionieren: „Man hat einen Plan, macht eine Ausschreibung, holt Angebote ein, wählt das passende aus und schließt einen Liefervertrag.“
Schon diese zwei zusammenhängenden Züge – die Regulierungsbesessenheit und der Glaube, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft nach bestimmten Forschungsresultaten ermittelbar seien, dass der Staat mit Expertenhilfe entscheiden könne, was geforscht und was nicht geforscht werden solle – zeigen uns, um was es sich tatsächlich handelt: Die Befürchtung, dass die deutsche (vielleicht auch die europäische) Wissenschaft zur Wirtschaft verkommt, mag berechtigt sein. Aber nicht zur Marktwirtschaft, sondern zur Planwirtschaft.
Auch andere Merkmale passen dazu. Wie immer in der Planwirtschaft, so werden die hergestellten Waren nicht direkt ihrem Verbraucher geliefert, sondern einem Vermittler und Verteiler, der selbst diese Ware nicht benutzt, dennoch über ihren Wert, ihren Preis und ihre Verbreitung entscheidet. Wer ist der Kunde des Forschers und Hochschullehrers? Wer ist der Verbraucher des Hochschulstudiums, z.B. in einem offensichtlich angewandten Fach wie der Humanmedizin? Ist es der Medizinstudent, der Arzt werden will, oder der Patient, den dieser Arzt behandeln wird, oder die Gesellschaft, die vom Gesundheitszustand dieses Patienten abhängt? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, an wessen Interessen sich der Professor orientieren soll. Und wer „kauft“ die Ergebnisse der Grundlagenforschung? Der Forschungsminister? Und wie verbraucht er sie? Trägt er sie wie Kleidung? Genießt er sie, so wie wir oft geistige Waren (Bücher, Musik) kaufen, um sie zu genießen? Wenn darüber gesprochen wird, dass der eine oder andere Forscher „sich gut verkaufen kann“, so wird nicht die Qualität seiner Ware gemeint (denn niemand hat die geringste Ahnung davon, wie man hier eine Ware definieren kann, geschweige denn, wie man ihre Qualität misst), sondern die Fähigkeit, den Geld verteilenden Bürokraten so zu betrügen, dass er glaubt, man tue wirklich etwas Wichtiges.
Wie in einer typisch sozialistischen Ökonomie wird die Leistung der Werktätigen (sprich Forscher und Hochschullehrer) aufgrund formeller und erfundener Leistungskriterien bewertet. Ein typisches Beispiel ist der sogenannte „Impact Factor“ (IF), der zeigt, wie oft in den letzten zwei Jahren die Zeitschriften und Verlage, in denen ich publiziere, zitiert werden. Ich wiederhole: nicht, wie oft ich zitiert werde (das wäre zwar ein zweifelhaftes, aber mindestens auf den ersten Blick vernünftig erscheinendes Kriterium), sondern, wie oft die Zeitschriften zitiert werden, in denen ich meine Berichte veröffentlicht habe. Zu diesem IF hat sich mittlerweile eine selbstständige Wissenschaft entwickelt [1], deren Ergebnis feststeht: Das Kriterium darf auf keinen Fall als Maß der Forschungsaktivität einzelner Wissenschaftler oder ganzer Einrichtungen verwendet werden. Selbst der Erfinder des IF, Eugene Garfield, hat mittlerweile (übrigens gegen das eigene Interesse, weil sein Institut daran viel Geld verdient!) mehrmals vor dieser Anwendung gewarnt und immer wieder betont, dass der IF nur als Orientierungshilfe für Bibliothekare gedacht wurde, damit sie bei knappem Budget wissen, welche Zeitschriften gerade „in“ sind. [2] All diese Warnungen spielen jedoch für die Wissenschaftsbürokratie keine Rolle; Hauptsache, ein Index, der so toll und mächtig klingt („Impact“ wird assoziiert mit Impuls, Kraft und Anschlag), und schon kann jeder Beamte eine Tabelle anklicken und sofort wissen, welchen Wert die Arbeiten eines Professors X oder einer Forschergruppe Y haben, man braucht dazu keine Fachkenntnisse, keine Bildung, muss diese Arbeiten gar nicht lesen, geschweige denn verstehen – ein Blick in die Tabelle genügt.
Die Ergebnisse dieser Entwicklung liegen auf der Hand. Die Forscher bemühen sich darum, ihre Berichte in einer populären Zeitschrift unterzubringen (diese werden natürlich öfter zitiert als spezialisierte) oder in einer, in der gerade ein Weltstar seinen Artikel publiziert hat, oder sie bilden „Zitierkartelle“, d.h. Gruppen, in denen sich die Wissenschaftler so häufig wie möglich gegenseitig zitieren. [3] Diese billigen Tricks, deren Auflistung allein mehrere Seiten füllen könnte, folgen dem klassischen Muster: Ein künstliches, erfundenes Leistungskriterium zwingt den Arbeitnehmer, sich an diesem Kriterium zu orientieren. So denkt ein Maurer, dessen Leistung an der Anzahl der gelegten Ziegel gemessen wird, nur daran, so viele Ziegel wie möglich zu verbrauchen, egal, ob die Mauer danach steht oder fällt. Das Lesen und Verstehen der Arbeiten von Kollegen wird dabei völlig unnötig, und die Frage, ob eine mit einem hohem IF veröffentlichte Studie tatsächlich zu einem Zugewinn an Wissen beigetragen hat, wird immer öfter als eine überflüssige, naive Frage angesehen.
„Gerade zur Bewertung von Forschung und Lehre werden Maße angewendet, die kein Forscher in seiner Forschung und kein Dozent in seiner Lehre erwähnen würde.“
Nicht nur in der Forschung werden solche scheinquantitativen Leistungsmaße verwendet, sondern auch in der Lehre, und zwar sowohl für die Lehrenden als auch die Lernenden. Die erbrachte Leistung von Studenten wird z.B. in vielen Bachelorstudiengängen einfach an der Anzahl der Arbeitsstunden gemessen: Karl Marx lässt grüßen. Die Leistung der Dozenten wird mittels verschiedener Evaluationsfragebögen gemessen, was an sich eine sehr gute Idee ist. Nur sind diese Fragebögen von einer ausgesprochen schlechten Qualität, sie entsprechen keinesfalls den in der Wissenschaft allgemein bekannten Kriterien der Befragung. Welch Paradox: Gerade zur Bewertung von Forschung und Lehre werden Maße angewendet, die kein Forscher in seiner Forschung und kein Dozent in seiner Lehre erwähnen würde, so schlecht, so offensichtlich unterhalb jeglichen wissenschaftlichen Niveaus sind sie.
Während wir auf der Suche nach einem Beispiel, wie eine marktorientierte Forschung funktioniert, nach Russland reisen sollten, so haben wir auch für einen bürokratisch organisierten Wettbewerb ein funktionierendes Modell: Großbritannien.
Ein Blick über den Ärmelkanal zeigt ein kompliziertes Bild. Im Gegensatz zu Russland pumpt der britische Staat enorme Summen in die Universitäten. Während in Deutschland in den letzten 15 Jahren ca. 200 Professuren pro Jahr gestrichen wurden, entstanden in Großbritannien ungefähr so viele neue. Alle paar Jahre prüft der Staat alle Hochschulen nach einer Reihe formeller Kriterien und bildet eine Rangliste. Wer in der Liste oben steht, bekommt mehr Geld und hat damit auch in den nächsten Jahren bessere Chancen, seine Position zu befestigen. Wer nach unten gerutscht ist, hat Pech, er bekommt weniger Mittel und noch größere Schwierigkeiten in der nächsten Rankingperiode.
Dabei sind die britischen Wissenschaftsverwalter erstaunlich intelligent: Sobald bestimmte formelle Kriterien feststehen, wird nur noch auf die Erfüllung dieser Kriterien hingearbeitet. Deshalb ändern sie die Kriterien ständig, um den schlauen Forschern die Anpassung zu erschweren. So beginnt man mit dem einfachen Kriterium: der Anzahl der Publikationen – und sobald jeder Kluge gelernt hat, wie er aus einem einzigen Forschungsergebnis ein Dutzend kleiner und kleinster Berichte erzeugt, gilt statt dessen der oben erwähnte Impact Factor usw. Man muss flexibel sein, um in diesem schlauen Spiel gegen die Bürokratie zu bestehen. Bloß mit Wissenschaft hat dieses Spiel wenig zu tun.
Dennoch ist das Ergebnis des gut organisierten Wettbewerbs in England und Schottland genau das Gegenteil dessen, was jeder Anhänger von Adam Smith erwarten würde. Die Verschiedenartigkeit wissenschaftlicher Theorien, die Originalität der Forschungsansätze nimmt nicht zu, wie es ein Marktliberaler glauben sollte, sondern ab. Die Tendenz ist, dass sich auf jedem Forschungsgebiet eine führende Gruppe bildet, die immer mehr Forschungsmittel bekommt, während ihre Konkurrenten dahinvegetieren. Diese Monopolisierung bringt die Gefahr, dass die jeweils führende Gruppe nach einer „einzig wahren“ Theorie (bzw. Methode) arbeitet, und falls sich diese „einzig Wahre“ eventuell als falsch erweisen sollte (was in der Forschung eher die Regel als die Ausnahme ist), so existiert keine lebendige Alternative, um auf diesem Gebiet weiterzuforschen. Der Biochemiker David Colquhoun resümiert in der Zeitschrift Nature: „Heute sind die Universitäten zum Besitz aller Arten von Kontrolleuren, Evaluatoren und Rankingmachern geworden. Sie kosten viel Geld und Zeit, bringen aber wenig. Wer wirklich forscht (und nicht nur darüber redet), kennt die verheerenden Auswirkungen, die das System der staatlichen Kontrolle auf die Forschung im Vereinigten Königreich hat: kurzfristige Planung, intellektuelle Oberflächlichkeit, Gastautorenschaft und sogar Fälschungen. …Von Kontrolleuren können wir nichts Gutes erwarten.“ [4]
Der Aberglaube, dass die Forschung als großer Staatsbetrieb funktionieren kann, ist haltloser als der Glaube, dass das Hufeisen Glück oder eine schwarz Katze Unglück bringt. Wenn der freie Markt unfähig ist, die Entwicklungstendenzen vorherzusehen, so ist auch keine Expertise dazu fähig. Welches Forschungsgebiet verspricht in der absehbaren Zukunft großen Profit, und welches ist dagegen nutzlos, im besten Fall ein Glasperlenspiel? Welcher Experte hätte am 10. September 2001 den volkswirtschaftlichen Nutzen der Islamkunde richtig einschätzen können? Die Kosten des Glaubens an Forschungsplanung sind wesentlich höher als die des Glaubens an schwarze Katzen. Mit Wissenschaft und Ökonomie hat die administrative Regulierung und der Rankingzwang genauso wenig zu tun wie der Größenwahn eines geisteskranken Daimler-Managers mit wirtschaftlicher Vernunft.
Deutschland mag es, seine großen Köpfe zu feiern: Erst hatten wir das Kant-Jahr, dann das Einstein-Jahr. Aber die beiden, Einstein und Kant, hätten weder in einem marktorientierten noch in einem bürokratiegeregelten System eine Chance gehabt. Beide haben wenig publiziert, „nichts Gescheites“ (d.h. Markttaugliches) hervorgebracht und hatten kein Interesse an globalen Netzwerken oder am Antragstellen. Kant, in jungen Jahren noch ziemlich produktiv, hat irgendwann völlig aufgehört zu publizieren, zur vollständigen Bestätigung der modernen Einstellung, dass Forscher ab 50 Jahren „zu alt“ sind, um kreativ zu arbeiten. Zu dem Zeitpunkt, als er mit 57 seine Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte, hätte er schon längst in allen Rankings die unterste Position eingenommen.
Es ist klar, dass ein Forschungssystem, das Menschen wie Kant oder Einstein als nutzlose Faulenzer abtut, nicht funktioniert. Das Schlimmste ist aber, dass wir gar nicht mehr daran glauben, dass unter uns solche Größen überhaupt auftreten könnten. Stattdessen ist die Mittelmäßigkeit einprogrammiert, trotz allen Geredes über „Exzellenz“. „Exzellent“ ist heutzutage, wer die gleiche wissenschaftliche Massenware erzeugt wie die anderen, aber besser und schneller, und nicht, wer tatsächlich etwas Neues tut, was andere nicht können. Man muss nämlich sein Forschungsvorhaben genau begründen, die Ergebnisse möglichst präzise vorhersagen. Dies lässt sich am besten organisieren, wenn man nur das macht, was man schon weiß. Für das Neue bleibt kein Platz. Interessant ist in dieser Hinsicht, typische Kritik an Forschungsprojekten zu lesen. Der häufigste Kritikpunkt ist heute nicht etwa, dass das Projekt langweilig sei, die zugrunde liegende Theorie sich auf dem Niveau des 19.Jahrhunderts befände und die Ergebnisse trivial seien, sondern, dass eines der geplanten Experimente eventuell auch ein nicht vorhergesagtes Ergebnis bringen könnte. Das beste Forschungsprojekt ist also dasjenige, dessen Ergebnisse ganz genau bekannt sind, noch ehe die Arbeit beginnt!
Bei der Besprechung in einer Gutachterkommission über einen Sonderforschungsbereich wurde argumentiert, dass ein gewisses Teilprojekt X, falls es erfolgreich sein würde, nobelpreisverdächtig werden könnte. Da dies jedoch unmöglich sei, müsse etwas am Projekt X faul sein. Das Projekt wurde abgelehnt – gerade weil es möglicherweise hervorragend hätte sein können. Um mit Protagoras zu sprechen: Das Mittelmaß ist das Maß aller Dinge.
Man könnte dennoch argumentieren, dass das System der straffen staatlichen Kontrolle zwar für die Spitzenforschung nicht unbedingt förderlich sei, aber zumindest eine Qualitätsgarantie liefern, einen Mindeststandard gewährleisten könne. Das Musterland Großbritannien zeigt, dass auch dies nicht der Fall ist. An britischen Universitäten prosperieren solche abwegigen Forschungsbereiche wie Golfmanagement, Backen, Qigong, von völlig obskuren Arten der „Alternativmedizin“ gar nicht zu sprechen. Auch als Schutzschild gegen Unwissenschaft funktioniert die Staatskontrolle nicht.
Wer sich in der Politökonomie des real existierenden Sozialismus nicht auskennt, könnte hier einwenden: Die Bemühungen der Wissenschaftskontrolle zielen doch auf mehr Wettbewerb, also mehr Differenzierung zwischen den Besten und dem Mittelfeld, weniger Gleichmacherei. Dafür die Rankings, Skalen, Evaluationen etc. Vielleicht sind die Leistungsmaße in der Tat nicht die besten, doch stimmt mindestens die Idee der konstruktiven Konkurrenz.
„Der Fülle von verschiedenen Wettbewerben, Initiativen, Auswahlverfahren usw. ist kein Zeichen der Marktorientierung, sondern das genaue Gegenteil.“
Wer das sagt, merkt nicht, dass dabei die Wortbedeutung völlig vertauscht wird. Ein Wettbewerb um die Gunst eines Bürokraten hat mit dem freien Kräftemessen auf dem Markt (das so viel zur Entfaltung unseres kreativen Potenzials beitragen soll) genauso wenig zu tun wie der „sozialistische Wettbewerb“ in der ehemaligen DDR mit der sozialen Marktwirtschaft. Damals wurden die Sieger jenes sozialistischen Wettbewerbs „unsere Leuchttürme“ genannt – genauso, wie man heutzutage in Deutschland die neuen Eliteuniversitäten bezeichnet (gleich nach dem ersten Wahlgang hatten viele Zeitungen Deutschlandkarten publiziert, auf denen zwei Leuchttürme in München und einer in Karlsruhe abgebildet wurden). Sogar dieselben Begriffe werden verwendet. Und das angeblich so neoliberale Gerede („Wirtschaftlichkeit!, Wettbewerb!“) ist auch der Planwirtschaft nicht fremd. „Wirtschaft muss wirtschaftlich sein!“ war nicht etwa das Motto des BDI, wie ein naiver Leser denken könnte, sondern der Slogan des achten sowjetischen Fünf-Jahres-Plans unter Leonid Breschnew.
Der Fülle von verschiedenen Wettbewerben, Initiativen, Auswahlverfahren usw. ist kein Zeichen der Marktorientierung, sondern das genaue Gegenteil: Der Markt braucht keine Reihungsverfahren, denn er stellt automatisch fest, wer der Beste ist. Der Wiener Philosoph Liessmann sagt: „Funktionierte der freie Markt in der Brutalität, die [von Anhängern des Neoliberalismus] beschworen wird, wären Rankings überflüssig, da der Markt ohnehin als jene Instanz fungierte, die über Erfolg und Misserfolg, Durchsetzungskraft und Schwäche entscheidet. Nach dieser Logik würden schlechte Schulen, mittelmäßige Manager, drittklassige Universitäten, todbringende Chirurgen und hässliche Models ohnehin … verschwinden. Die unsichtbare Hand des Marktes würde unerbittlich die Reihung vornehmen.“ [5]
Kommen wir damit nicht zu einem seltsamen, paradoxen Schluss? Überall in der Welt, in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit, trägt die Entfesselung des Wettbewerbs zur Befreiung des Menschen und zur Entwicklung seiner Kräfte bei. Und wir wollen nun sagen, dass dies ausgerechnet in der Forschung nicht der Fall sei? Genau im Gegenteil brauche ein Forscher vor allem eine ruhige und abgesicherte Stelle, um sich keine Sorgen um mögliche Konkurrenz zu machen? Die Forschung sei, so unser bisheriges Fazit, der einzige Bereich, in dem der Wettbewerb eher schadet als nützt? Sonderbar!
Das ist genau die Einstellung, die die Befürworter der „Ökonomisierung“ ihren Gegnern gerne zuschreiben. Aber natürlich ist dieses Paradox schnell zu lösen. Den Wettbewerb gibt es in der Forschung bereits, und es gab ihn schon immer. Die Forschung ist der einzige Bereich des öffentlichen Lebens, in dem Menschen ständig miteinander konkurrieren. Wenn ich etwas Neues erfahre – und darin besteht die Forschung schlechthin, Neues zu erfahren –, steht mein neues Wissen sofort im Konflikt mit dem alten Wissen. Der harte Kampf gegen Konkurrenten – in der Tat der Kampf zwischen altem und neuem Wissen – ist also nicht etwas, was ein weises Bildungskartellamt dem unmündigen Forscher erst beibringen muss, er ist vielmehr immanenter Bestandteil seiner täglichen Arbeit. Es konkurrieren Ideen, Modelle und Methoden. Woher wissen wir denn, dass sich die Erde um die Sonne und nicht die Sonne um die Erde dreht? Dass ansteckende Krankheiten von Bakterien und Viren, aber nicht von Giftgasen übertragen werden? Dass Atome trotz ihres Namens teilbar sind? Wir wissen es nur dank des Wettbewerbs, nur deshalb, weil eine bessere, produktivere Theorie einmal eine schlechtere und weniger konstruktive verdrängt hat. Das hat jahrhundertelang funktioniert ohne jegliche Rankings und Brain-up-Initiativen.
Dennoch bestehen zwischen diesem immanenten wissenschaftlichen Wettbewerb und dem aufgezwungenen Pseudowettbewerb um die Gunst der Verwaltungsbürokratie wesentliche Unterschiede. Vor allem findet die echte Konkurrenz innerhalb der Fächer und Fachbereiche statt. Sie hat die Form einer Fachdiskussion zwischen Experten. Da diese Experten trotz aller Meinungsunterschiede ein bestimmtes Grundwissen, bestimmte Grundfähigkeiten und – das Wichtigste – das Thema teilen, um das sie streiten, ist ein rationaler Diskurs möglich. Selbst wenn alle Seiten in diesem Streit von Eitelkeit und Selbstsucht bewegt werden, müssen sie mindestens pro forma ihren Disput so veranstalten (mit handfesten Fakten und nachvollziehbaren Argumenten), als ob es ihnen tatsächlich um die Wahrheit ginge. Im administrativen Wettbewerb zwischen den Vertretern verschiedener Disziplinen geht es nur ums Geld. Welche Fachdiskussion ist möglich zwischen den Experten in der Sinologie (Chinakunde), Kinologie (Forschung über Hunde), Kinesiologie (Bewegungsforschung) und Kinematik (ein Teil der Mechanik)?
„Die großen Erfindungen reagieren nicht auf die Bedürfnisse des Marktes, sie erschaffen diese Bedürfnisse und diesen Markt.“
Die Geschichte der Wissenschaften kennt bisher keinen einzigen Fall, in dem eine große Entdeckung in Übereinstimmung mit einem strengen, in allen Details begründeten, sozial ausgewogenen und verwaltungstechnisch durchdachten Plan gemacht worden wäre. Vielmehr kennt sie zahlreiche wichtige Innovationen, die entgegen allen Plänen und Aufträgen zustande kamen – weil ein Forscher in seiner Freizeit noch ein paar Experimente durchgeführt hat, die mehr brachten als all seine planmäßigen Bemühungen, oder weil er etwas völlig anderes („falsches“) getan hat als das, wofür er bezahlt wurde – oder einfach durch Zufall. Noch im Altertum versprach der Astrologe seinem König, Auskünfte über dessen Gesundheitszustand und militärische Erfolge aus den Sternen herauszulesen; stattdessen sammelte er (insgeheim) objektive mathematische Daten über Planetenbewegungen. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dies heute anders sei.
Das gilt übrigens nicht nur für die Grundlagenforschung, sondern auch für die großen Durchbrüche in den Anwendungen. Auch die angewandte Forschung ist nie nach Plan gelaufen, auch nicht nach dem Zustand des Marktes. Die großen Erfindungen reagieren nicht auf die Bedürfnisse des Marktes, sie erschaffen diese Bedürfnisse und diesen Markt. Hatten viele potenzielle Kunden in den 80er-Jahren das Bedürfnis, mit ihren Freunden übers Internet verbunden zu werden? Ginge z.B. die Pharmaforschung nach Plan vor, hätten wir bisher keine Mittel gegen Psychosen, gegen Depression, keine Antibiotika – nichts.
„Die Wissenschaft kann erst dann nützlich sein, wenn sie nutzlos sein darf.“
Die aktuelle Gefahr besteht also nicht in der Präsenz eines äußeren administrativen Drucks auf Forschung und Lehre. Diesen Druck gab es auch zu anderen Zeiten, obwohl die Geschichte unmissverständlich zeigt, dass sich die Effizienz der Universität als sozialer Einrichtung umgekehrt proportional zur gesellschaftlichen Kontrolle über diese Einrichtung verhielt. Die Wissenschaft kann erst dann nützlich sein, wenn sie nutzlos sein darf.
Die größte Gefahr ist die Verinnerlichung jenes Drucks. Solange der Forscher den gesunden Zynismus behält, ist die Hoffnung nicht gestorben. Der Astrologe wusste natürlich, dass die Horoskope, die er dem dummen König anbot, Unsinn waren. Genauso können wir heute etwa in der Neurowissenschaft versprechen, morgen oder übermorgen die Gedanken von Menschen mittels funktioneller Bildgebungsverfahren zu lesen (und dadurch vielleicht dem gierigen Staat einen „gläsernen Bürger“ zu verschaffen); das ist derselbe Unsinn wie die Astrologie, aber mit diesem Versprechen bekommen wir Mittel, die uns erlauben, tatsächlich Neues über das menschliche Gehirn zu erfahren. Auch der moderne Wissenschaftler kann hinnehmen, dass die Hyperadministrierung der Forschung und Lehre mit all jenen Rankings, Impakten und Innovationsinitiativen nur eine unvermeidliche Plage ist, wie schlechtes Wetter, ein Produkt unserer – o weh! – unvollkommenen Welt, aber mit der echten Forschung als Aufbau des neuen Wissens über Natur und Geist haben diese Prozeduren nichts am Hut. Dann kann es weitergehen, auch unter dem ministerialen Druck.
Die Sache wäre viel schlimmer, wenn wir tatsächlich glaubten, dass das uns aufgezwungene Spiel die Wissenschaft sei; dass die Global Players mit Professorentiteln Forscher seien; dass eine zur „Exzellenz“ ernannte Uni tatsächlich besser sei als eine andere, der diese Ehre verwehrt wurde; oder dass jemand, der seinen trivialen Artikel unter demselben Cover mit einem Nobelpreisträger veröffentlichte, dadurch zu einer wissenschaftlichen Größe geworden sei. Dann ist der Weg offen zu einer Institution der Forschungsfunktionäre, die möglicherweise über lange Zeit immer noch „Wissenschaftler“ heißen werden, so wie sich einst machtgierige Bischöfe und grausame Inquisitoren über lange Zeit als „Nachfolger Jesu Christi“ bezeichnet haben.