01.11.2002

Sind wir alle wie Ally McBeal?

Analyse von Frank Furedi

Der Trend zur Beziehungsunfähigkeit ist Ausdruck eines fundamentalen Kulturwandels. Von Frank Furedi.

Ehekrisen? Scheidungen? Alleinerziehende Eltern? Die Diskussion um all diese und andere Themen, um die „Krise der Familie“, verstellen den Blick auf Trends, die die Art, wie wir leben, wesentlich stärker prägen werden. Erwachsene tun sich heute nicht nur schwer damit, eine stabile Ehe zu führen, sie haben Probleme mit jeder Form von intimer Beziehung.

Eine Studie, die die britische UK Future Foundation im Januar 2002 im Auftrage von Abbey National herausgab, zeigte, dass heute erstmals die Zahl der allein lebenden Menschen größer ist als die der Alleinerziehenden oder der „Familienmenschen“. In einem Artikel der Studie heißt es: „In Großbritannien ist das Singleleben heute die Regel.“ Die Zunahme der Singles deutet darauf hin, dass heute nicht nur die Familie in der Krise steckt, sondern Menschen es generell schwierig finden, mit vertrauten persönlichen Beziehungen zurechtzukommen.

Die Zunahme der Singles ist ein Phänomen in allen Industriestaaten. 1950 lebten zirka drei Prozent der Amerikaner und Europäer allein. Heute sind es in Großbritannien bereits sieben Millionen Erwachsene – dreimal so viele wie noch vor vierzig Jahren. Das Statistikhandbuch Social Trends geht davon aus, dass 2020 in vierzig Prozent aller Haushalte nur mehr eine Person leben wird.

"Die Zunahme der Singles deutet darauf hin, dass Menschen es heute generell schwierig finden, mit vertrauten persönlichen Beziehungen zurechtzukommen.”

In Frankreich hat sich die Zahl der Alleinlebenden seit 1968 verdoppelt, und in Schweden leben bereits heute 40 Prozent der Menschen ohne Partner. Der Trend zum Singledasein ist am deutlichsten in den städtischen Ballungsräumen der Industriestaaten ausgeprägt: In München, Frankfurt und Paris beträgt der Anteil der Ein-Personen-Haushalte über 50 Prozent, in London sind es knapp 40 Prozent. Die Zunahme der Ein-Personen-Haushalte rührt vor allem von der hohen Zahl 25- bis 45-jähriger Singles her. Seit 1960 ist die Zahl der 25- bis 45-jährigen Singles in Deutschland um 500 Prozent angestiegen.

Diese Veränderungen sind nicht einfach ein demografisches Phänomen, sie sind Ausdruck eines Kulturwandels. Die starke Zunahme der Singles gerade in den großen Städten lässt vermuten, dass überkommene Formen des Zusammenlebens sowie intimer Beziehungen den Erwachsenen von heute wenig geben.
Zweifellos gibt es einige sehr gute Gründe dafür, Single zu bleiben. Manche Menschen verwenden sehr viel Zeit auf einen anstrengenden, anspruchsvollen Beruf. Um sich anderen intensiv zuzuwenden, fehlt ihnen die Zeit. Es gibt Phasen, in denen das Verlangen nach Unabhängigkeit sich nur durch individuelles Experimentieren verwirklichen lässt. Dann wollen wir keine Kompromisse eingehen, und das Zusammenleben mit anderen erscheint uns als „Falle“.

Damit allein lässt sich der starke Anstieg der Single-Haushalte jedoch nicht befriedigend erklären. Hinter dem Trend stehen wesentliche soziale und kulturelle Faktoren. Die Grundlagen dauerhafter Beziehungen sind nicht durch individuelle Entscheidungen, sondern durch mächtige kulturelle Verschiebungen erschüttert worden. Dass sich so viele 20-, 30-und 40-Jährige für ein Leben als Single entschieden haben, hat damit zu tun, dass überkommene Arten der Hinwendung nicht mehr tragen.

Auf eine Art ist die steigende Zahl der Singles eine Fortsetzung des geschichtlichen Trends einer zunehmender Individuation. Jedoch ist die Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte mehr als nur die Bugwelle eines seit zwei Jahrhunderten zu beobachtenden sozialen Trends. Überzeugte Junggesellen und Jungfern galten noch bis vor kurzem als schrullig und verschroben. Heute sind sie der Mainstream. Eine solche Verschiebung weist auf eine grundlegende Veränderung in der Art hin, wie Intimität heute wahrgenommen wird.
Alles in allem bedeutet diese Veränderung eine durchaus begrüßenswerte Aufwertung der Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen. Früher wurden Bindungen häufig als notwendiger Zwang empfunden, und die Flucht vor einem solchen Zwang war teilweise auch ein Weg in die Freiheit. Das Problem heute ist, dass wir sehr oft nicht wissen, wie wir diese Freiheit so gestalten können, dass wir als Erwachsene dennoch selbstbestimmt eine intime Beziehung führen können.

Die meisten Untersuchungen zeigen, dass Menschen zwar ihre Freiheit schätzen, sich aber auch nach festeren emotionalen Bindungen sehnen. Und obwohl Singles immer wieder betonen, sie seien glücklich alleine und hätten sich bewusst für das Singleleben entschieden, sieht die Wirklichkeit ein wenig komplizierter aus. Eine von Match.com in Auftrag gegebene Untersuchung kam 2001 zu dem Ergebnis, dass über die Hälfte der Singles mehr oder weniger stark auf der Suche nach einem Partner war, gleichzeitig jedoch behauptete, mit dem Singledasein zufrieden zu sein.

Der Zynismus, mit dem Singles Liebe nicht selten abtun, lässt ahnen, dass sich dahinter Angst vor Schmerz und Enttäuschung verbirgt. Die vorauseilende Annahme von Schmerz und Scheitern ist das Symptom einer Kultur, die große Probleme damit hat, in intimen Beziehungen irgend einen tieferen Sinn zu sehen. Der recht alte Widerstreit zwischen einerseits dem Verlangen nach Selbstverwirklichung und nach einer festen Bindung andererseits ist heute schwer aufzulösen. Lange Zeit konnte dieser Konflikt durch den mächtigen Einfluss der Ideologie der romantischen Liebe zumindest gemildert werden – Selbstverwirklichung wurde dabei gefeiert als Wert, der durch die intime Verbindung mit einer zweiten Person zu erreichen sei. Diese Synthese von Autonomie und Bindung löste oder verhüllte den ihr inhärenten Interessenkonflikt für einige Zeit.

“Der Zynismus, mit dem Singles Liebe nicht selten abtun, lässt ahnen, dass sich dahinter Angst vor Schmerz und Enttäuschung verbirgt.”

Die Ideologie der romantischen Liebe konnte jedoch nur funktionieren, solange von Frauen verlangt werden konnte, ihr Verlangen nach Autonomie zugunsten der Beziehungspflege zurückzustellen. Seit den 70er-Jahren ist diese einseitige Zweckehe zerbröselt. Wenn Frauen gleichermaßen wie Männer nach Selbstverwirklichung streben, kann Liebe nicht mehr die Linse einer Ideologie sein, die Bindungswillen zu dauerhaften Bindungen bündelt.

Nicht nur die neue Rolle der Frau zog den traditionellen Formen von Bindung den Teppich unter den Füßen weg. In den 80ern wurde das von Neukonservativen wie Margret Thatcher formulierte Diktum, dass es Gesellschaft nicht gebe, zum Ausdruck eines immer stärkeren Rückzugs auf das Ich. Paradoxerweise waren es aber nicht allein die Vorkämpfer des Freien Marktes, die das Ich in den Mittelpunkt stellten. Es kam vielmehr zu einer Konvergenz mit der alternativen, in den 60er-Jahren entstandenen Therapiekultur, deren wesentliche Botschaft lautete: „Tu, was du für richtig hältst und fühle dich gut dabei“ – oder in der Kurzform „Ich bin ok.“ Diese Idee, nämlich nur das zu tun, was man selbst angenehm findet, untergräbt jede feste Beziehung. Individuen, die nur tun, was ihnen gerade in den Kram passt und die alles andere als Zumutung abwehren, sind wie nervöse Kinobesucher, die beständig nach dem Notausgang schielen. Menschen mit dieser Einstellung werden nicht nur mit ehelichen und familiären, sondern mit jeder Art von Bindung ein Problem haben. Das Singleleben als Lifestyle bedeutet nicht nur die innerliche Aufkündigung des Familienlebens. Auch die Bindungen zu Kollegen und Freunden lockern sich.

“Paradoxerweise waren es nicht allein die Vorkämpfer des Freien Marktes, die das Ich in den Mittelpunkt stellten. Es kam vielmehr zu einer Konvergenz mit der alternativen, in den 60er-Jahren entstandenen Therapiekultur.”

Diejenigen, die den Single-Lifestyle positiv sehen, behaupten häufig, dass die Singles von heute Intimität und Bindung in Netzwerken der Freundschaft leben – und eben nicht mehr in der Familie. Untersuchungen belegen das nicht. Seit 1986 ist die Zahl britischer Singles, die ihren besten Freund oder ihre beste Freundin mindestens einmal pro Woche treffen, zurückgegangen. Weiter zeigen die Untersuchungen, dass Menschen zwischen 30 und 40 heute nur etwa halb so viele Freunde haben wie ihre Altersgenossen vor 30 oder 40 Jahren.

Das Zelebrieren des Ichs, ein Gemeinplatz der Gegenwartskultur, wirkt sich auf Bindungen verheerend aus. Nicht, dass die Einzelnen heute besonders selbstsüchtig wären und sich um andere nicht scherten. Vielmehr gibt der Egokult der Gegenwart, die private „Ich-AG“, kaum Sinnangebote her, mit denen Männer und Frauen eine Bindung, einen Kanal zueinander aufbauen könnten. Diese Unfähigkeit, intime Beziehungen in einem übergreifenden Bedeutungsnetz zu verorten, ist die augenfälligste Leerstelle in den Liebeserzählungen unserer Zeit.

Die Liebe sagt uns heute wenig über Hingabe, Bindung, Selbstaufgabe, Verbindung fürs Leben. Die Gegenwartsgeschichte der Liebe ist die Geschichte des Ich – ich finde mich, ich verwirkliche mich, ich gewinne meine Autonomie, ich wachse an meinen Erfahrungen. Diese Selbstbezüglichkeit unterspült die Basis jeder intimen Beziehung. Eigensinn, abgekoppelt von weiter gehenden kulturellen Bedeutungen und Verbindlichkeiten, führt zu einem Rückzug aus jeder Art von Vertrauen und Vertrautheit.
Intimität und Vertrautheit können nicht bestehen, wenn Beziehungen keine geteilte Bedeutung haben. Bleibt die Frage, warum eine Beziehung, wozu? Ohne Antwort wird jede Beziehung beliebig. Ohne äußeren Fixpunkt kann eine Bindung nicht standhalten gegen die Kräfte des Alltags.

“Hingabe wird heute nicht selten mit einer Gesundheitswarnung versehen: ,Diese Art von Hingabe schadet ihrem Ich.’“

Die Schwierigkeiten, auf die man bei der Suche nach der Bedeutung einer Beziehung stößt, bestärken die Angst vor jeder engeren Bindung. Viele Menschen sehen Beziehungen bereits als emotionale Risikofaktoren. Eine Strategie, um ein solches Risiko zu minimieren, ist, von Anbeginn an zu der Quelle der möglichen Enttäuschung auf Distanz zu gehen: eine emotionale Distanzbeziehung zum Zwecke der Schadensminimierung. Eine Reihe von Strategien hierzu ist bereits zu einem gewissen Maß formalisiert worden – voreheliche Verträge ebenso wie biografische Strategieangebote für Singles. All das dient der Versicherung gegen einen möglichen Schadensfall des Ichs.
Hingabe wird heute nicht selten mit einer Gesundheitswarnung versehen: „Diese Art von Hingabe schadet ihrem Ich. Bindungen haben potenziell traumatisierende Nebenwirkungen.“ In der Partnerberatung sind solche Hinweise inzwischen Standard, und auch die Kirchen sind bereits dabei, sie in ihren revidierten Kanon aufzunehmen.

Beziehungen, so gesehen, degradieren die Bedeutung jeder Art von Hingabe. Regierungsamtlich wird diese Art von Beratung mittlerweile unterstützt. Die Beratungsbranche rät Paaren, Leidenschaft abzuschalten und im übrigen von ihrer Beziehung, zu ihrer beiden Besten, auch nicht allzu viel zu erwarten. Der Rat mag gut gemeint sein. Er wirkt jedoch wie ein Aufruf, sich impfen zu lassen, beworben mit Bildern möglicher Gesundheitsschäden, die dadurch auftreten könnten. Ohne Leidenschaft, ohne Unmittelbarkeit werden Beziehungen zu pragmatischen Vertragsangelegenheiten – ein Merger von Ich-AG mit Ich-AG. Und wer wollte das? Langweiliger und sinnloser geht es kaum.

Es überrascht nicht, dass viele kluge Männer und Frauen Leidenschaft in die Besenkammer gestellt und sich sich selbst und ihrem eigenen Leben zugewandt haben. Leidenschaft mit Gewinnwarnung? Ein Leben als Single scheint da zumindest weniger riskant.

“Sind vertraute Bindungen heute möglich? Die Antwort ist ein zögerliches Ja.”

Sind vertraute Bindungen heute möglich? Die Antwort ist ein zögerliches Ja. Trotz des weit verbreiteten Zynismus, was Bindungen angeht, entwickeln nach wie vor viele Menschen ihre Menschlichkeit durch erfüllte Beziehungen mit anderen. Solange jedoch die Gesellschaft vertraute Beziehungen nicht braucht und für sie keinen Platz hat außer den der Selbstverwirklichung, sind wir alle Singles – ganz gleich, ob wir in einer Beziehung leben oder allein.Das Problem heute ist nicht, dass viele Menschen allein leben. Eine Gesellschaft von Singles ist nur dann ein Problem, wenn sie ein Ersatz wird für den Aufbau geteilter Beziehungen, geteilter Erfahrungen mit anderen. Unsere Aufgabe ist es, unseren Beziehungen Sinn zu verleihen – im Rahmen viel weitergehender Veränderungen, die anstehen. Weder eine Verklärung der Vergangenheit noch die instrumentelle Vernunft der politischen Korrektheit werden wir dazu brauchen können. Der Verlust alter Sicherheiten kann uns Möglichkeiten eröffnen, vorausgesetzt, wir wagen es, auszutesten, was vertraute Beziehungen für uns heute bedeuten können.

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