11.10.2011

Sieben Milliarden Gründe zum Feiern

Kommentar von Daniel Ben-Ami

Ende des Monats werden sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben. Kein Grund zur Sorge, sondern zum Feiern! Dank unserer Erfindungsgabe und mit Hilfe des Wirtschaftswachstums können wir bessere Lebensbedingungen für alle Menschen schaffen

Je näher wir dem Zeitpunkt rücken, an dem mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, desto mehr scheinen auch die Befürchtungen darüber zu wachsen. Weltweit und insbesondere in Deutschland war die Angst darüber schon lange vor dem 31. Oktober (dem prognostiziertem Datum des Überschreitens dieser psychologisch wichtigen Grenze) zu spüren. Statt dieses historische Ereignis zu feiern, was eigentlich angemessen wäre, wird es überwiegend mit Sorge erwartet.

In den letzten Jahren ist es zunehmend üblich geworden, Bevölkerungsfragen offen zu problematisieren. So hat Al Gore, ehemaliger US-Vizepräsident, Friedensnobelpreisträger und vielleicht der weltweit bekannteste Grüne, immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Klimawandel hingewiesen. Auch in Jonathan Franzens Besteller-Roman Freedom  (dt. Freiheit) wird Überbevölkerung als Problem dargestellt. Etliche NGOs, wie die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW), organisieren Kampagnen zu Bevölkerungsfragen.

Gerade in Deutschland hat die Diskussion eine akut schizophrene Form angenommen. Auf der einen Seite wird die wachsende Weltbevölkerung mit Sorge betrachtet, gleichzeitig gibt es aber auch große Befürchtungen angesichts der schrumpfenden einheimischen Bevölkerung. Tatsächlich hat Deutschland einem aktuellen Bericht des Statistischen Bundesamtes zufolge europaweit den geringsten Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung. Im Vergleich zum Jahr 2000 ging die Zahl der 18-Jährigen bis 2010 um 14 Prozent zurück.

Die starke Alterung der deutschen Bevölkerung bot die Kulisse für Thilo Sarrazins umstrittenes Buch Deutschland schafft sich ab. Darin fordert der SPD-Politiker und ehemalige Bundesbank-Vorstand u.a. strengere Begrenzungen für die Zuwanderung aus muslimischen Ländern. Sarrazin mokierte sich etwa auch darüber, dass türkische und arabische Migranten in Deutschland mehr und mehr kleine „Kopftuchmädchen“ produzieren würden. Solche Befürchtungen über eine zu hohe Weltbevölkerung auf der einen Seite und zu wenige (inländisch) Deutsche auf der anderen Seite müssen nicht notwendigerweise in sich widersprüchlich sein. Aus Sarrazins Perspektive besteht die Gefahr ja gerade darin, dass zu hohe globale Geburtenraten den Fortbestand der schrumpfenden inländisch deutschen Bevölkerung bedrohen würden.

Aber während Sarrazin seine Bevölkerungsangst ziemlich explizit artikuliert, kommt der Mainstream-Ansatz tendenziell zurückhaltender daher. Die 7 Billion Actions-Kampagne der Vereinten Nationen ist ein typisches Beispiel. Implizit wird „Überbevölkerung“ immer wieder als Problem dargestellt. Sie wird mit Fragen von Nachhaltigkeit, Verstädterung, Zugang zum Gesundheitswesen und den Rechten von Jugendliche verbunden. Viele internationale Partner, einschließlich der DSW, beteiligen sich an der Kampagne.

Leider werden die grundlegenden Annahmen hinter der Idee der Überbevölkerung nur selten in Frage gestellt. Typischerweise geht die Kritik daran über Fragen der Statistik nicht hinaus. Gegner der Bevölkerungspanik weisen in der Regel darauf hin, dass, obwohl die Weltbevölkerung wächst, die Steigerungsrate rückläufig sei. Oder mit anderen Worten: Die Geburtenrate, also die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau, ist gefallen. Im Jahr 1960 hatte eine Frau z.B. durchschnittlich noch fünf Kinder, heute sind es drei.

Auch wenn diese Zahlen stimmen, hat man damit noch nicht den Kern des Problems erfasst. Der grundlegende Fehler der Überbevölkerungsthese liegt darin, dass sie eine grob einseitige Sicht auf die Menschheit präsentiert. Sie sieht Menschen im Wesentlichen als Konsumenten und unterschätzt oder ignoriert ihre Rolle als Produzenten. In dieser engen Sicht ist jeder Mensch nicht mehr als ein weiteres Maul, das gestopft werden muss, oder ein weiter Verursacher von Müllbergen. Dass Menschen auch über zwei Hände und ein Gehirn verfügen, wird dabei gerne außer Acht gelassen. Aber gerade diese Werkzeuge ermöglichen uns, neue Ressourcen zu erschließen und die natürliche Welt unseren Bedürfnissen entsprechend zu verändern.

Um zu sehen, warum die Angst vor Übervölkerung so abwegig ist, lohnt es sich, zurück zu dem Mann zu gehen, der dieser Weltsicht seinen Namen verliehen hat: den Ökonom und Priester Thomas Malthus (1766-1834). In seinem 1798 veröffentlichten Aufsatz An Essay on the Principle of Population argumentierte er, dass die Bevölkerung zwangsläufig schneller wachsen werde als die Nahrungsmittelversorgung, so dass das Bevölkerungswachstum durch Hunger und Krieg eingedämmt werden müsse. Es lohnt sich, ihn ausführlich zu zitieren:


“Die Kraft der Bevölkerungsvermehrung ist um so vieles stärker als die der Erde innewohnende Kraft, Unterhaltsmittel für den Menschen zu erzeugen, dass ein frühzeitiger Tod in der ein oder anderen Gestalt das Menschengeschlecht heimsuchen muss. Die Laster der Menschheit sind eifrige und fähige Handlanger der Entvölkerung. Sie stellen die Vorhut im großen Heer der Zerstörung dar, oftmals vollenden sie selbst das entsetzliche Werk. Sollten sie aber versagen in diesem großen Vernichtungskrieg, dann dringen Krankheitsperioden, Seuchen und Pest in schrecklichem Aufgebot vor und raffen Tausende und Abertausende hinweg. Sollte der Erfolg immer noch nicht vollständig sein, gehen gewaltige, unvermeidbare Hungersnöte als Nachhut um und bringen mit einem mächtigen Schlag die Bevölkerungszahl und die Nahrungsmenge der Welt auf den gleichen Stand.“


Im Rückblick von mehr als 200 Jahren lässt sich kaum eine Prognose finden, die hoffnungsloser falsch lag, als diese. Seit sie verfasst wurde, ist die Weltbevölkerung von etwa einer Milliarde auf knapp sieben Milliarden Menschen gewachsen. Auch in Bezug auf die allgemeine Lebensqualität ist genau das Gegenteil von Malthus Prognosen eingetreten: Sie hat sich im Großen und Ganzen enorm verbessert. Dies ist vielleicht am deutlichsten an der durchschnittlichen weltweiten Lebenserwartung ablesbar. Sie ist von etwa 30 Jahren um 1800 auf 68 Jahre im Jahre 2009 gestiegen. Ein enormer Fortschritt, der mit vielen weiteren Verbesserungen des globalen Lebensstandards einherging.

Durch den Prozess wirtschaftlichen Wachstums und die eng damit zusammenhängenden Entwicklungen auf dem Feld technologischer Innovation hat sich das Leben der überwiegenden Mehrheit der Menschheit enorm verbessert. Viele alte Menschheitsträume sind heute Wirklichkeit, z.B. Flugzeuge, Tauchgeräte, Computer, Operationen am offenen Herzen, Verhütungspillen, das Elektronenmikroskop, Penicillin, Handys, Radargeräte, Fernseher, Spül- und Waschmaschinen. Das Wirtschaftswachstum hat breiten Bevölkerungsschichten Zugang zum Stromnetz, zu Bildung, zu moderner Gesundheitsversorgung sowie zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen ermöglicht.

Natürlich bleibt die Welt ein zutiefst ungerechter Ort. Obwohl der Lebensstandard stark angestiegen ist, auch für die meisten der Armen, haben viele Menschen immer noch keinen Zugang zu zahlreichen dieser Errungenschaften. Die Antwort darauf ist: mehr Wachstum, damit die gesamte Weltbevölkerung mindestens in dem gleichen Überfluss leben kann, wie die Menschen in Amerika oder Deutschland.

Vor allem grüne Denker werden dieser Forderung entgegnen, dass die Erde nicht genügend Ressourcen bereithält, um westlichen Wohlstand für alle Menschen zu ermöglichen. Dieses Argument wird z.B von dem britischen Akademiker Tim Jackson angeführt, dessen Buch Wohlstand ohne Wachstum auch in Deutschland zum Bestseller geworden ist. Unter Berufung auf natürliche Grenzen des Wachstums, wie Ressourcenknappheit und die Bedrohung durch den Klimawandel, fordert Jackson uns auf, unsere Ambitionen zurückzuschrauben und Verzicht zu üben. (Das Video einer Livedebatte in englischer Sprache zwischen Daniel Ben-Ami und Tim Jackson: hier)

Solche Argumente über natürlichen Grenzen sind im Wesentlichen nur eine moderne Variante des Malthusianismus. Statt zu behaupten, es gebe zu viele Menschen, wird jetzt einfach behauptet, es gebe zu wenig Ressourcen. Tatsächlich werden beide Argumente von vielen zeitgenössischen Ökoaktivisten auch gerne kombiniert: Sowohl die Ressourcennutzung als auch das Bevölkerungswachstum müssten gedrosselt werden.

Wie der traditionelle Malthusianismus, so unterschätzt auch Jackson die Kraft der menschlichen Kreativität. Nehmen Sie etwa die weit verbreitete Vorstellung, der Welt könne das Öl ausgehen, als Beispiel. Viele Neo-Malthusianer sehen darin den Beweis, dass wir entschleunigen und uns mit weniger zufrieden geben müssen, da unserer Zivilisation ansonsten der Kollaps drohe. Dabei gibt es mehrere Möglichkeiten, wie dieses Problem in Zukunft zu überwinden wäre: Erstens könnte das vorhandene Öl effizienter genutzt werden. Autos und andere benzinbetriebene Maschinen könnten weniger Öl pro produzierter Energieeinheit verwenden. Zweitens könnten neue Ölquellen entdeckt werden. Eine Möglichkeit wäre z.B., Schieferöl zu nutzen. Die Technologie, Öl aus riesigen Flächen von Gestein zu extrahieren, existiert bereits. Schließlich ist es möglich, andere Energiequellen wie Erdgas und Kernenergie zu verwenden. Im Falle von Kraftfahrzeugen könnten auch alternative Technologien wie Elektro-und Wasserstoff-Brennstoffzellen eingesetzt werden.

Technologische Weiterentwicklungen und Innovationen können auch, sofern er tatsächlich ein Problem darstellt, bei der Bekämpfung des Klimawandels helfen. Zum Beispiel emittieren Atomkraftwerke keine Treibhausgase. Aber um Investitionen in solche Technologien finanzieren zu können, ist mehr und nicht weniger Wachstum notwendig. Investitionen in neue Energieinfrastrukturen sind nicht billig.

Seit Malthus haben alle apokalyptischen Rufer, die vor den Gefahren des Bevölkerungswachstums gewarnt haben, immer falsch gelegen - einfach weil sie konsequent die Kraft menschlicher Erfindungsgabe und des Wirtschaftswachstums unterschätzt haben.

Vorausgesetzt wir fallen nicht dem aktuell verbreiteten sozialen Pessimismus anheim, werden die heutigen neomalthusianischen Grünen genauso falsch liegen wie ihre Vorgänger. Wenn das kreative Potenzial der Menschen erkannt und genutzt wird, können wir gemeinsam die Herausforderungen, vor der die Menschheit steht, meistern.

Wenn in der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober die Uhr Mitternacht schlägt, um an den Beginn eines neuen Tages zu erinnern, sollten wir auch kurz daran denken, dass sieben Milliarden Menschen sieben Milliarden Gründe zum Feiern sind.

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