13.10.2014

Selbstmedikation: Den medizinischen Paternalismus überwinden

Analyse von Jessica Flanigan

Medikamente müssen auch vor Abschluss ihres Zulassungsverfahren Patienten zur Verfügung stehen. Dafür plädiert die amerikanische Ethikerin Jessica Flanigan. Im Interview mit Marco Visscher erläutert sie, warum medizinischer Paternalismus der Gesundheit schadet

Marco Visscher: Sie plädieren für das Recht auf Zugang zu Medikamenten, lange vor ihrer Zulassung und ohne ärztliche Verschreibung.

Jessica Flanigan: Nehmen wir an, ein neues Medikament kann 200 Leben pro Jahr retten. Und nehmen wir ferner an, dass das Zulassungsverfahren fünf Jahre dauert. Dann sind 1000 Patienten gestorben, während sich das Medikament in den Mühlen der Bürokratie befand. Sie hätten gerettet werden können, aber die ganzen Jahre standen die Aufsichtsbehörden im Weg. Jede zusätzliche Ausweitung des Zulassungsverfahrens führt zu mehr Toten.


Was können wir in diesem Zusammenhang aus dem Vioxx-Drama von 2004 lernen, als ein Schmerzmittel vom Markt genommen wurde, da es ein höheres Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko mit sich brachte?

Dass man ein neues Medikament streng kontrollieren muss, um schnell eingreifen zu können, sobald Probleme auftreten. Und dass man Pharmaunternehmen zur Offenheit verpflichten muss, damit sie keine missliebigen Informationen zurückhalten. Eines sollten wir dabei aber nicht vergessen: Einige Patienten haben Vioxx gehamstert, als die Sache durch die Medien ging. Weshalb? Weil Vioxx für sie das allerbeste Medikament war. Sie wollten es weiter nehmen, auch in Kenntnis des Herzinfarktrisikos. Das Mittel verbesserte ihre Lebensqualität oder sie waren ohnehin schon alt. Wie auch immer, eine beachtliche Patientenzahl wollte das Risiko eingehen und Vioxx weiter einnehmen.

„Ich weiß doch am besten, welches Risiko ich einzugehen bereit bin“


Patienten verfügen doch nicht über die Expertise, ein solches Risiko richtig einzuschätzen?

Doch, gerade sie. Beim Thema Sicherheit von Arzneimitteln fällt man ein Urteil darüber, welche Risiken akzeptabel sind. Wer befindet sich in denn in der besten Position, um zu entscheiden, was für mich annehmbar ist? Ein Beamter, der für alle dasselbe beschließt? Oder doch lieber ich selbst? Selbstverständlich ich selbst. Ich weiß doch am besten, welches Risiko ich einzugehen bereit bin.


Aber viele Menschen sind nicht hinreichend gebildet oder zu wenig erfahren, um solche Abwägungen vorzunehmen.

Das stimmt. Deshalb muss meiner Meinung nach medizinischer Rat für jeden zugänglich sein. Ich finde, dass diejenigen, die die Wirksamkeit von Medikamenten beurteilen und über sie wachen, der Gesellschaft einen Dienst erweisen, indem sie Forschungsergebnisse zusammenstellen. Auch das Zertifizieren von bestimmten Medikamenten als unschädlich und effektiv begrüße ich. Ich bin allerdings nicht der Auffassung, dass jemandem das Recht zukommen darf, Menschen am Gebrauch von Medikamenten zu hindern, die diese selbst wollen. Damit würde das Recht des Patienten verletzt, denn meine Entscheidung über meinen eigenen Körper wird dadurch strafbar. Bei allen anderen Rechten würden wir das nicht hinnehmen. Weshalb ausgerechnet dann, wenn unsere Gesundheit auf dem Spiel steht?

 

„Das ist der Preis einer freien Gesellschaft.“


Einige würden Entscheidungen treffen, die sich nachteilig für sie auswirken.

Gewiss. Das gilt auch für den Umgang mit Kreditkarten. Da kann man doch auch nicht ernsthaft fordern, dass der Staat vorab die finanziellen Ausgaben der Leute absegnen muss. Wir müssen schlichtweg lernen, anderen den Spielraum für Entscheidungen zu geben, die wir selbst so nie treffen würden. Wir akzeptieren ja auch Risikoverhalten wie Klettern in den Bergen. Das ist nun einmal der Preis einer freien Gesellschaft.


Gibt es dabei keine Grenzen?

Doch. Das Recht auf Selbstmedikation endet meines Erachtens da, wo anderen Schaden zugefügt wird. Man darf nicht nach Lust und Laune Antibiotika einnehmen, denn dessen massenweiser Gebrauch führt zu Immunität, was wiederum mehr Infektionen zur Folge hat.


Können Sie die Bedenken dagegen, dass jeder einfach so ungetestete Medikamente nehmen darf, nachvollziehen?

Selbstverständlich. Nicht getestete Medikamente können sehr gefährlich sein. Eigentlich würde ich niemandem empfehlen, sie zu verwenden. Für Patienten, die wenig Alternativen haben, können sie aber von Interesse sein. Warum sollte man ihnen diese Option verweigern?

 

„Wenn medizinischer Paternalismus verkehrt ist, dann gilt dies auch für alle Regelungen, die den Zugang zu bestimmten Arzneimitteln verbauen“

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts agierten Ärzte sehr paternalistisch. Sie belogen die Patienten über ihre Diagnosen, sie enthielten ihnen lebensrettende Behandlung vor. Heute können Ärzte nicht einfach ohne Zustimmung des Patienten handeln und sie müssen alle sachdienlichen medizinischen Informationen geben. Das ist für uns heute ganz normal, aber noch in den 1970er-Jahren räumten 90 Prozent der Onkologen ein, dass sie Patienten verschwiegen, wenn diese Krebs im Endstadium hatten. Und wenn medizinischer Paternalismus verkehrt ist, dann gilt dies für alle Regelungen, die den Zugang zu bestimmten Arzneimitteln verbauen, genauso. Selbstmedikation ist der Folgeschritt.


Vielleicht sind wir dazu noch nicht bereit.

So hörte sich das auch schon vor 50 Jahren an: „Oh, wenn wir Krebskranken mitteilen, dass sie sterben, werden sie depressiv, rücksichtslos und selbstmordgefährdet.“ Nichts davon trat ein.


Würde das Recht auf Selbstmedikation unserer Gesundheit nutzen?

Es gibt Anzeichen dafür, dass man dort, wo es keines ärztlichen Rezeptes für Medikamente bedarf, sorgfältiger mit seiner Gesundheit umgeht. Wenn wir die die Gesundheitsfürsorge Ärzten überlassen, entwickeln wir eine erlernte Hilflosigkeit. Dann sind wir anfälliger für problematische Nebenwirkungen. Ich gehe also davon aus, dass Selbstmedikation positive Folgen zeitigt. Aber auch wenn dem nicht so wäre, darf noch lange kein Staatsvertreter die Patientenrechte einfach so verletzen. Aus meiner Sicht verfügt nur man selbst über die moralische Autorität, über seinen eigenen Körper zu entscheiden.

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