25.10.2011

Schweizer Wahlen: Fortschritt und Wachstum adé?

Von Sabine Beppler-Spahl

Angst vor zu viel Einwandereren war ein zentrales Thema im Schweizer Wahlkampf; für Sabine Beppler-Spahl ein Symptom für den wachsenden sozialen Pessimismus in der westlichen Welt. Es geht darum, Fortschritt, Einwanderung und das Streben nach etwas Besserem wieder positiv zu besetzen.

Die Schweiz hat ein neues Parlament gewählt. Mit besonderer Spannung wurde das Wahlergebnis der Schweizerische Volkspartei (SVP) erwartet. Die Partei, die bisher die stärkste politische Kraft des Landes war, hatte im Vorfeld der Wahl mit dem Slogan „Masseneinwanderung stoppen“ geworben. Auch die Volksabstimmung über Minarette war eine Initiative der SVP. Hochrechnungen zufolge erlangte sie bei der Wahl vom Sonntag 25,9 Prozent der Stimmen. Damit bleibt sie zwar stärkste politische Kraft, muss aber einen Verlust von 3 Prozent gegenüber den letzten Wahlen hinnehmen. Anlässlich der Wahl drucken wir eine Rede ab, die NovoArgumente-Redakteurin Sabine Beppler-Spahl am 8.10.2011 bei einem Vortrag in Zürich im Rahmen des „Battle of Ideas“-Debattenfestivals hielt.


Steckt die Schweiz in einer Identitätskrise? Gibt es noch zukunftsweisende Vorstellungen und Ideen? Das ist das Thema der heutigen Diskussion. Ich möchte mir nicht anmaßen, als Deutsche für die Schweiz zu sprechen, kann aber einen Aspekt aufgreifen, in dem sich die öffentlichen Debatten in Deutschland und der Schweiz zu ähneln scheinen. Gerade ist mir am Züricher Hauptbahnhof die Kampagne der SVP gegen Masseneinwanderung in Form unzähliger Plakate, auf denen schwarze Stiefel die Schweizer Fahne zertrampeln, begegnet. Auch in Deutschland wird Einwanderung zwiespältig betrachtet. Wenn Einwanderung begrüßt wird, dann in der Regel nur die unmittelbar wirtschaftlich nützliche der Hochqualifizierten. Dies wurde Anfang des Jahres deutlich, als im Zuge des arabischen Frühlings, der noch eine positive Aufbruchsstimmung verbreitete, plötzlich junge Männer aus den nordafrikanischen Staaten nach Europa einreisen wollten. Schon die Zahl von 20.000 Flüchtlingen, die in Lampedusa eingetroffen waren, löste eine Welle der Ablehnung aus. Positive Impulse wie die der Befreiungsbewegungen kehrten sich ganz plötzlich ins Gegenteil um und ihre Folgen wurden von vielen als Bedrohung wahrgenommen.

Wie konnte dies geschehen? Warum wird eine Aufbruchsstimmung nicht als Chance wahrgenommen und warum sollen wir von einer „Masseneinwanderung“ dieser Art nicht profitieren können? Schließlich könnten auch unsere Länder einen Dynamisierungsschub gebrauchen. Um die Angst vor Einwanderung zu erklären, müssten natürlich verschiedene Aspekte betrachtet werden – die globale Wirtschaftskrise oder die Multikulti-Politik der vergangenen Jahre etwa. Ich kann mich hier nur auf einen Aspekt beschränken und möchte grundlegender werden. Die Angst vor Einwanderung, so meine These, erklärt sich vor allem daraus, dass die deutsche Gesellschaft – und die Schweizer Gesellschaft vielleicht auch – den Glauben an sozialen Fortschritt weitgehend verloren hat. Sie ist fixiert mit der Vorstellung natürlicher Grenzen – der Annahme also, alles um uns herum sei begrenzt: die Ressourcen, unser Wohlstand usw.

Die Annahme, wir könnten, was unseren Lebensstandard betrifft, nicht mehr viel weiter gehen, ist in den Augen einer großen Mehrheit der Bevölkerung längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Wir glauben nicht mehr daran, dass es unseren Kindern noch besser gehen wird als uns. Wir sind überzeugt davon, dass die „Ausbeutung der Erde“ an ihre Grenzen stoßen wird – wenn nicht jetzt, dann zumindest in der Zukunft. Wenn wir, so die weitverbreitete Meinung, weiter leben wie bisher, gehe dies auf Kosten der nächsten Generation. Ob Ressourcenknappheit oder Umweltverschmutzung – stets droht unser Handeln in der Katastrophe zu enden. Fortschritt darf, wenn überhaupt, nur noch nachhaltig sein. Das ist zwar ein Widerspruch in sich, da Nachhaltigkeit von uns verlangt, alles wieder so herzustellen wie es war und keine Ressourcen zu verbrauchen, die wir nicht unmittelbar ersetzen können. Dennoch ist die Nachhaltigkeit zu unserem absoluten Leitmotiv geworden. [1]

Das mag zugespitzt und karikiert klingen, ist aber von der Tendenz her genau das, was sich alle politischen Richtungen und alle Parteien von Grün bis Konservativ-Liberal auf die Fahnen geschrieben haben. Natürlich strebt eine große Wirtschaftsnation wie Deutschland mit ihren wirtschaftspolitischen Zielen offiziell noch Wachstum an. Doch inoffiziell wird angesichts eines sinkenden Bruttoinlandsprodukts darauf verwiesen, es könne ohnehin nicht ewig immer weiter nach oben gehen.

Die Debatte über Einwanderung ist nur ein Ausdruck dieser fatalistischen Grundstimmung. Ein Aspekt dieser Stimmung ist, dass wir Menschen in erster Linie als Verbraucher und Konsumenten sehen. Dieses Bild prägt unsere Vorstellung von Einwanderung. Bei uns werden Einwanderer entweder als Opfer gesehen, denen wir aus humanitären Gründen verpflichtet sind zu helfen, oder aber als Eindringlinge, die statt in ihrem Land zu bleiben um dort zu arbeiten, hierher kommen und die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen zusätzlich verschmälern (die berühmte Einwanderung in die Sozialsysteme). Beide Sichtweisen haben mehr miteinander gemein als zunächst erscheinen mag. Beide sehen Einwanderer als Menschen, die zusätzlich etwas vom Kuchen abhaben möchten, der, bildlich gesprochen, nur so groß ist wie er ist. In beiden Fällen stehen die Zeichen auf Verteilung (wir sind moralisch verpflichtet abzugeben) und auf Schadenbegrenzung (bitte nicht zu viele).

Die Vorstellung, unsere Ressourcen seien begrenzt, ist eines der größten Grundirrtümer unserer Zeit. Mit diesem Irrtum aufzuräumen wird immer wichtiger. Nicht nur, weil es sonst unmöglich ist, Immigration positiv zu verteidigen, sondern auch, weil er uns alle in einer Art gesellschaftlichen Starre zu fesseln droht. Unsere Ressourcen sind nicht begrenzt und die Vorstellung, sie seien es, basiert auf falschen Prämissen. Es ist eine Art Hausfrauen-Handtaschenpolitik, die davon ausgeht, dass wir nur das, was wir zur Zeit haben – also das, was in unserem Portemonnaie vorhanden ist – ausgeben und verbrauchen dürfen. Was für die Hausfrau stimmen mag, gilt für die Welt nicht. Wir vergessen, dass Ressourcen flexibel sind und eine Funktion menschlicher Gestaltungskraft.

Jeder Versuch, unsere Ressourcen als festgelegte Einheit zu definieren und ihren Endpunkt zu bestimmen, hat sich in der Vergangenheit als Irrtum erwiesen. Warum? Weil Menschen nicht nur Ressourcen verbrauchen, sondern sie entwickeln. Auch wenn dies emphatisch klingen mag, will ich es so ausdrücken: Wir sind nicht nur Verbraucher, sondern auch Erfinder, Schöpfer und Produzenten. Diese Sicht auf die andere Seite, die produktive Seite unseres Lebens droht in unserer heutigen Zeit, wo wir auf Konsum, Verbrauch und Begrenzungen fixiert sind, immer mehr in den Hintergrund zu geraten.

Immigration ist nichts anderes als ein Beispiel für die kreative, gestalterische Seite unseres Daseins. Migration gab es nicht nur schon immer, sondern ist auch ein Ausdruck für das uralte, menschliche Streben sich aufzumachen und nach etwas Besserem zu suchen. Dieses Streben war schon immer eine treibende Kraft – nicht nur für individuelles Fortkommen, sondern auch für gesellschaftlichen Fortschritt. Wer seine Koffer packt und den Gang in ein fremdes Land wagt, um dort für sich und seine Familie eine bessere Zukunft und mehr Wohlstand zu finden, zeigt, dass er sich nicht schicksalhaft mit dem Hier und Jetzt und den vorhandenen Begrenzungen abfinden möchte.

Der Mut, ins Ungewisse aufzubrechen, nach Neuem zu suchen sowie die Bereitschaft ein persönliches Risiko einzugehen sind Eigenschaften, die uns leider häufig fehlen. In unserer Zeit der niedrigen Erwartungen erscheinen sie uns fast suspekt. Doch gehören sie zu den besten Eigenschaften, die wir besitzen. Sie haben Geschichte gemacht und viele Millionäre. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele und eines meiner Lieblingsbeispiele ist Australien: Mark Webster, Direktor der Organisation Acacia Immigration Australia, hat vor einigen Jahren die Liste der 500 reichsten Australier studiert. Heraus kam, dass es sich fast ausschließlich um Immigranten handelte, die nach 1945 eingewandert waren. Es gibt aber auch andere Beispiele für den dynamisierenden Effekt der Einwanderung. Im Jahr 2009 vermeldete der amerikanische Sender CBS, dass die amerikanische Wirtschaft einen Großteil ihres Wachstums in der Dekade von 1990 bis 2001 der Immigration zu verdanken habe. [2]

Wenn wir eine solche Entwicklung heute nicht mehr für möglich halten, dann sagt dies mehr über uns als über den Charakter der modernen Einwanderung. Wir haben den Glauben an die Dynamik unserer eigenen Wirtschaft und an weiterer Prosperität verloren. Auch fehlt uns der Blick dafür, dass unsere Gesellschaft dynamisch ist oder sein könnte. Wer heute glaubt, unsere Gesellschaft könne nicht mehr Einwanderer aufnehmen, der argumentiert ähnlich wie diejenigen, die uns schon seit über hundert Jahren weismachen wollen, unsere Ressourcen neigten sich dem Ende zu. In beiden Fällen erscheinen die Ausgangslage und das, was eine Gesellschaft produzieren und erreichen kann, von vornherein fixiert.

Es geht mir hier nicht um einen Zweckoptimismus. Es stimmt, dass wir in den nächsten Jahren große Herausforderung meistern müssen. Dafür werden wir all unsere produktiven Kräfte benötigen. Wir werden mehr, nicht weniger Wachstum brauchen und viele denkende Köpfe. Für mich ist es ein Zeichen unverzeihlicher Kleingeistigkeit, die auf uns alle negativ zurückfällt, wenn jemand wie Thilo Bode, der frühere Vorsitzende von Greenpeace Deutschland, die Schweiz der fünfziger Jahre als Zukunftsmodell anpreist.

Um also zu der Frage vom Anfang zurückzukehren: Gibt es noch zukunftsweisende Ideen? Es gibt sie bestimmt, aber wir müssen sie suchen und für sie offen sein. Ein Anfang wäre, die Grenzen in unseren Köpfen zu überwinden. Für mich wäre es an der Zeit, Fortschritt, Einwanderung und das Streben nach etwas Besserem wieder positiv zu besetzen.

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