22.10.2022

Schockwellen aus Großbritannien

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: kloniwotski (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Der Zusammenbruch der britischen Regierung wurde durch eine Finanzkrise ausgelöst. Deutschland und die EU stehen vor den gleichen Problemen.

Nach nur sechs Wochen als britische Premierministerin hat sich Liz Truss am Donnerstag gezwungen gesehen, ihr Amt inmitten einer Regierungskrise aufzugeben. Der Rücktritt war unausweichlich, nachdem sie mit dem Scheitern ihrer finanzpolitischen Initiative zur Stärkung des Wirtschaftswachstums ein Chaos an den Finanzmärkten verursacht hatte. Es gelang ihr nicht, sich durch die zwischenzeitliche Entlassung ihres engen Vertrauten, Finanzminister Kwasi Kwarteng, zu retten. Er wurde für die Krise verantwortlich gemacht, obwohl das krisenauslösende Mini-Budget auch Truss' Handschrift trug. Auch die schnelle Rückgängigmachung praktisch aller finanzpolitsicher Maßnahmen durch Kwartengs Amtsnachfolger, den früheren Außenminister Jeremy Hunt, konnte den Zusammenbruch ihrer Regierung nicht mehr verhindern.

In ihrer Rücktrittserklärung sagte sie, sie sei mit der „Vision“ angetreten, durch niedrige Steuern hohes Wachstum zu ermöglichen. Doch sie habe das Mandat nicht erfüllen können, für das sie von ihrer Partei gewählt worden sei. Gegenüber der BBC hatte sie bereits zuvor öffentlich Fehler eingeräumt: „Ich wollte etwas tun […], Menschen bei ihren Energierechnungen helfen und das Thema der hohen Steuerlast angehen. Aber wir sind zu weit gegangen.“

Mini-Crash verhindert

Die neue Regierung von Liz Truss hatte ein paar richtige Töne angeschlagen. Kwarteng hatte verkündet, dass die neue Regierung bei der Förderung des Wachstums „mutig" sein würde. Er versprach, dass sie den „gleichen alten wirtschaftlichen Managerialismus, der uns eine stagnierende Wirtschaft beschert hat", beiseiteschieben würde. Stattdessen werde man sich darauf konzentrieren, „wie wir Investitionen und Wachstum freisetzen können, und nicht, wie wir besteuern und ausgeben. Es geht darum, die Größe der britischen Wirtschaft zu vergrößern", so Kwarteng.

Entgegen seinen Behauptungen war der von ihm vorgestellte Haushalt „hauptsächlich auf die Ankurbelung der Nachfrage und des Verbrauchs ausgerichtet und nicht auf Reformen auf der Angebotsseite oder strukturelle Veränderungen“. Die stark expansive Fiskalpolitik beinhaltete einen Energiepreisdeckel für etwa 150 Milliarden Pfund sowie eine Senkung von Steuern und Sozialabgaben im zweistelligen Milliardenbereich über zwei Jahre sowie neue steuerliche Anreize für Investitionen. Obwohl Steuersenkungen von etwa 45 Milliarden Pfund als Aushängeschild des Mini-Budgets dienten, hatten diese eher symbolischen Charakter, denn in diesem Umfang hätten sie kaum einen Wachstumsbeitrag leisten können.

„Die Zeiten sind vorbei, in denen europäische Regierungen relativ sorglos die Staatsschulden ausweiten konnten und dies ohne Reaktion an den Finanzmärkten möglich war."

Die Regierung hatte die Erwartung geweckt, dass dieser Haushalt einen substanziellen Politikwechsel und sogar ein neues Denken ermöglichen würde. Die Reaktion der eigenen Tory-Partei aber auch bei vielen Bürgern und in der Finanzwirtschaft war eine Mischung aus Verwirrung und Alarmismus, denn die Regierung ließ weitgehend offen, wie das gewaltige Budget finanziert werden würde.

Der Haushalt löste in Windeseile Chaos an den Finanzmärkten aus, das die Bank of England zu Interventionen zwang. Nachdem das Pfund gegenüber dem US-Dollar, aber auch gegenüber dem Euro deutlich an Wert verlor, hob sie die Leitzinsen um 0,5 Prozent auf 2,25 Prozent an, den höchsten Wert seit 14 Jahren. Dennoch fiel das Pfund vorerst weiter und erreichte am 26. September ein Rekordtief gegenüber dem US-Dollar. Um die Krise weiter einzudämmen, durch die ganze Pensionsfonds von der Insolvenz bedroht wurden, stellte die Zentralbank 65 Milliarden Pfund für ein Notkaufprogramm für Anleihen bereit. Bis zum 14. Oktober, als das Programm auslaufen sollte, hatte die Bank 19,3 Milliarden ausgegeben.

Schockwellen in der EU

Als die Bundesregierung am 29. September ihren 200 Milliarden Euro schweren Abwehrschirm verkündete, war es daher kein Zufall, dass Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) klarstellte: „Wir wollen ein klares Signal an die Kapitalmärkte senden. Auch wenn wir jetzt den Abwehrschirm nutzen, hält Deutschland an seiner stabilitätsorientierten und an Nachhaltigkeit interessierten Finanzpolitik fest. Die deutschen Staatsanleihen bleiben der Goldstandard in der Welt.“ Seine Ansage war klar: Deutschland sei sich trotz ebenfalls ausufernder Staatsausgaben mit bislang drei Entlastungspaketen von insgesamt etwa 100 Milliarden Euro und dem 200-Milliarden-Abwehrschirm – die genauso wie Kwartengs abgeblasenes Mini-Budget schuldenfinanziert werden – seiner Funktion als Stabilitätsanker der EU bewusst und werde seine Fiskalpolitik entsprechend ausrichten. In Deutschland und der EU sind nach dem „Doppelwums“ nicht die gleichen Folgen eingetreten wie in Großbritannien, obwohl die Bundesregierung sogar noch gigantischere Staatausgaben plant als die Truss-Regierung. Einschließlich des gestern im Bundestag durchgewunkenen Abwehrschirms hat der Bundestag allein in diesem Jahr unvorstellbare 500 Milliarden Euro zur Kreditaufnahme ohne Gegenfinanzierung gebilligt. Darunter die „Sondervermögen“ für den Kima- und Transformationsfonds und die Bundeswehr sowie die Entlastungspakete und nun der Abwehrschirm gegen die Energiekrise.

Diese Episode zeigt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen europäische Regierungen relativ sorglos die Staatsschulden ausweiten konnten und dies ohne Reaktion an den Finanzmärkten möglich war. Denn trotz der Billionen Euro Zinseinsparungen durch die Niedrigzinspolitik des letzten Jahrzehnts haben die Staaten gigantische Staatschulden aufgehäuft. Im Jahr 2007 lagen die Staatschulden der EU-Staaten bei 6,7 Billionen Euro. Bis 2021 hatten sie sich, ohne Berücksichtigung der neuerdings von der EU aufgenommenen Schulden, auf 12,7 Billionen praktisch verdoppelt. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt stieg die Staatsverschuldung der EU im 1. Quartal 2022 auf 95,6 Prozent. In Großbritannien sind die Staatschulden im gleichen Zeitraum von 0,65 auf 2,2 Billionen Pfund zwar noch schneller nach oben geschnellt, aber die Staatschuldenquote lag Ende 2021 nur wenig höher als in der EU, nämlich bei 102,6 Prozent.

„Europa lebt schon lange und sogar mit jedem Jahr immer umfassender über seine Verhältnisse."

Während die Schulden steigen und nun in der Energiekrise der Versuch gemacht wird, Wohlstandsverluste durch weitere Staatsausgaben zu verschleiern, ist das Wirtschaftswachstum gelähmt. Wegen der auch in Deutschland voranschreitenden, europaweiten Erosion der industriellen Wertschöpfung und schwindsüchtiger Unternehmensinvestitionen hängt das wirtschaftliche Wachstum immer stärker vom privaten Konsum ab und der Fähigkeit der Staaten, diesen zu stabilisieren.

Seit der Finanzkrise 2008 bis unmittelbar vor dem Beginn der Corona-Krise im Jahr 2019 hat die Eurozone nur noch ein reales Wachstum von durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr erreicht. Um dieses Wachstum zu erzielen, mussten die Staaten ihre jährlichen Haushaltsdefizite in diesem Zeitraum auf mehr als 2,5 Prozent des BIP ausweiten. Faktisch mussten die Staaten die Schulden ausweiten, um überhaupt noch ein Minimalwachstum zu erzwingen. Rein rechnerisch hätte es in jedem Jahr seit der Finanzkrise ein Minuswachstum von 2 Prozent gegeben, wenn die Staaten dieses nicht mit höheren Schulden finanziert hätten.

Europa lebt schon lange und sogar mit jedem Jahr immer umfassender über seine Verhältnisse. Die Staaten kaschieren die realen Wohlstandverluste, die die Menschen nun erstmals durch massive Reallohnverluste spüren, mit Hilfe einer Wirtschafts- und Geldpolitik, die es erlaubt hat, die strukturellen Probleme der Wirtschaft ignorieren zu können. Das Scheitern der britischen Regierung ist ein ernster Warnschuss. Er hat die enger werdenden Grenzen dieser Wirtschafts- und Geldpolitik aufgezeigt, die in den letzten Jahrzehnten zu einer schleichenden Zerstörung der Realwirtschaft geführt hat. Es bleibt zu hoffen, dass der Knall im Bundestag und von den Wählern gehört und verstanden wurde und die Fortsetzung dieser wohlstandsvernichtenden Wirtschaftspolitik endlich in Frage gestellt wird.

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