01.04.2001

Schlechte und gute Nachrichten

Analyse von Katharina Rutschky

Katharina Rutschky über Kritik als Ticket für Anerkennung und die exzessive Handynutzung.

Kritik als klassenlose Verführung

Für schlechte Botschaften wird man nicht mehr gemeuchelt, sondern findet Anerkennung.
Als es noch keine “Medien” gab und jede wichtige Nachricht, zum Beispiel über den Ausgang einer Schlacht, von einem menschlichen Boten überbracht werden musste, da soll es öfter vorgekommen sein, dass der Überbringer einer schlechten Nachricht kurzerhand abgemurkst wurde. Zumindest fiel er in Ungnade und tat gut daran, sich eine Weile nicht sehen zu lassen. Den Botschafter mit der Botschaft zu verwechseln und ihn zum Opfer von Wut und Enttäuschung zu machen, ist inzwischen aus der Mode gekommen. Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, weil Hitler von dem Privileg des Alleinherrschers einen allzu exzessiven Gebrauch gemacht hat. Nach allem, was man weiß, sorgte Hitler nämlich dafür, dass sich gar keine Boten mehr fanden und damit die schlechten Nachrichten von vorneherein unterblieben.

Um Hitlers Defizite auszubügeln, werden heute schlechte Nachrichten nicht mehr unterdrückt oder beschönigt, sondern in ihrer krassesten und deutlichsten Form geschätzt und verbreitet. Das schlimmstmögliche Szenario für wahrscheinlich, ja wahr zu halten, egal ob es sich um Hunde, Rinder oder ertrunkene Kinder handelt, gilt als Ausweis des kritischen Bewusstseins. Gerade hierzulande scheint die Menschheit zusehends besorgter, vorausschauender, vorsichtiger, mitleidiger – mit einem Wort, moralischer zu werden. Die düsteren Gegenwartsanalysen und Zukunftsprognosen stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Verlässlichkeit des Gewissens und zur Höhe der Moral. Je schlechter man von der Welt und seinen Mitmenschen denkt, desto besser ist man. Auch desto schlauer und gescheiter: Wer vom Schlimmsten ausgeht, den kann man nicht enttäuschen, der lässt sich nichts vormachen. Der steht nicht als der Gelackmeierte da, wenn wirklich etwas passiert; denn gerade das hat er ja immer befürchtet und vorhergesagt…

“Je schlechter man von der Welt und seinen Mitmenschen denkt, desto besser ist man.”

Mit einer gewissen moralisch, aber auch intellektuell gefärbten Wollust lassen sich deshalb alle gern über den desolaten Zustand der Welt informieren. Nie wird jemand einmal wieder sagen können, er habe leider gar nichts gewusst von diesem oder jenem Unrecht. Die Medien, als Agenturen des kritischen Bewusstseins, lösen mit ihren traurigen Belehrungen keinen Widerstand, keine Ressentiments aus. Ganz im Gegenteil schüren sie einen gewissen Enthusiasmus, der sich in Verkaufszahlen, Einschaltquoten, öffentlichen Diskussionen und politischen Reaktionen materialisiert. Abgemurkst werden die Boten schlechter Nachrichten ganz gewiss nicht mehr.

Bemerkenswert ist auch die Nivellierung des kritischen Bewusstseins. Die da unten und die da oben, die Gebildeten und die Dummen, die Armen und die Reichen, sie finden sich inzwischen in einem Universalismus der Sorge, des Misstrauens, des Verdachts zusammen. Seinerzeit nahmen die da unten mit Neugier und Schadenfreude die Desaster von denen da oben zur Kenntnis. Sie haben Eheprobleme wie unsereiner und sind auch mit Geld vor Leid und Tod nicht zu retten. Die da oben dünkten sich noch als Elite und hatten mit denen da unten Mitleid, konnten Verständnis mobilisieren. Man hoffte, dass gleiche Bildungschancen hier Abhilfe schaffen. Passiert ist etwas ganz anderes: Das kritische Bewusstsein der kulturkritischen Bildungselite ist zum volkstümlichen Konsumgut geworden, nicht anders als der trockene Weißwein in der Eckkneipe oder der Anspruch auf Authentizität in jeder anderen Hinsicht. Beziehungsprobleme kennt jeder, deshalb nehmen wir sie auch keinem Politiker übel. Anders sieht es aus, wenn einer mal Hausbesetzer war und sich mit Turnschuhen als Minister einer Landesregierung hat vereidigen lassen. Wandlungen und Verwandlungen sieht das kritische Bewusstsein weder derer da oben noch derer da unten vor. Joschka Fischer, nimmt man ihn als Stellvertreter für viele andere, die als Oppositionelle und scheinbare Außenseiter Karriere gemacht haben, wird so inbrünstig gehasst und schlecht gemacht, weil er der Protagonist der Nivellierung des kritischen Bewusstseins ist. Wenn einer wie Fischer Außenminister werden kann, dann taugt es nicht mehr zum Ausweis, mit dem die einen da oben sich von denen da unten besserwisserisch absetzen können.

Und so ist es ja auch: Die Boulevardpresse hat von Anfang an auf Skandale gesetzt. Was ist ein Skandal? Ein Ereignis, das man ins öffentliche Bewusstsein einfädeln kann. Heute überkreuzen sich die Verdächtigungen derer da unten mit den Projektionen derer da oben so genau, dass man niemandem mehr Recht geben kann. Die einen sehen nichts als Lug und Trug und persönlichen Verrat, die anderen haben etwas von struktureller Gewalt und anderen Gesetzmäßigkeiten mitzuteilen. Unterm Strich kommt heraus, dass alle aufgeklärt und kritisch sind.

Was folgt daraus? Es ist schön, dass niemand mehr die Macht hat, von oben nach unten Zensuren zu verteilen. Jede Besserwisserei, jeder Dünkel wird von Einschaltquoten und anderen Maßstäben auf die Probe gestellt. Alle finden sich in dem Verdacht, dass man niemandem trauen kann. Wenn das kritische Bewusstsein andererseits zum Volksgut geworden ist, wie ich behaupte, dann müssen wir weitersehen und prüfen, was danach kommen könnte. Traditionell war das kritische Bewusstsein immer negativ – vielleicht müssen wir uns nun, wo es zum Volkssport geworden ist, eines ausdenken, das positiv operiert? Vielleicht könnte man mit dem Nachdenken darüber anfangen, welchen systemstabilisierenden Stellenwert die Katastrophenrhetorik gegen ihren Willen eigentlich hat?

Es gab Zeiten, wo jedwede Kritik auf scharfen Widerstand stieß. Heute ist Kritik ein Ticket für Anerkennung und Erfolg. Je schlimmer, je besser. Sie zahlt sich aus in Anerkennung, Prestige und Geld. Verführerisch ist sie auch, weil sie keine Klassen mehr kennt. Vieles mehr wäre anzuführen. Die Frage bleibt: Wie lässt sich Kritik realisieren?

Von Schamlosen, Geheimnislosen und Liebeständlern

Wider das Handy: Wer will schon akustischer Spanner sein?
Bestimmt gibt auch der kommende Sommer einer Reihe von Mitmenschen wieder hinreichend Gelegenheit zum Meckern und Nörgeln. Kurze Shorts, die sich über dicke Männerbäuche spannen und bleiche Beine freigeben, haben es mir angetan. Andere fühlen sich vom Anblick des allzu üppig exponierten weiblichen Fleisches, Beine bis zum Po und höher, Busen bis zum Nabel und tiefer, in ihrem Wohlbefinden gestört. Die meisten Menschen kommen allerdings gut damit zurecht, dass längst keine Kleiderordnung mehr existiert, die eine ziemliche Bedeckung des Körpers auch bei tropischen Temperaturen verlangt. Ja, wir haben uns sogar daran gewöhnt, dass der splitterfasernackte Mensch beiderlei Geschlechts auf den Liegewiesen in öffentlichen Parks eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Die Zeiten, wo empörte Bürger in solchen Fällen nach der Polizei riefen und diese wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einschritt, sind definitiv vorbei. Was hat diese Revolutionierung der öffentlichen Moral möglich gemacht? War es der Fortschritt, der Sieg über die Spießer, ihre Doppelmoral oder gar ein trotziges Votum für den Hedonismus? Nein, behaupte ich, es war die Erkenntnis, dass man Dinge, die einem nicht gefallen, durch souveränes Wegsehen ganz einfach aus der Welt schaffen kann, in der man Gottseidank dann doch alleine wohnt. Wegschauen heißt die Devise, nicht zwanghaft Hinschauen und moralisch Anstoß nehmen. Den Zumutungen von Exhibitionisten aller Art kann man sich entziehen, indem durch sie hindurchsieht, sie übersieht, und das ist Strafe genug für alle, die es sich in der Öffentlichkeit allzu gemütlich machen und mit ihrem Benehmen eine Distanzlosigkeit erzeugen, die wir allenfalls Kleinkindern konzedieren möchten.

So weit, so gut, hätte ich noch im letzten Sommer sagen können. Da hatten nämlich noch nicht hundert Prozent aller Jugendlichen und jungen Leute unter 25 ein Handy in der Tasche. Es waren Geschäftsleute, diese Pioniere der Handynutzung, die man dabei beobachten konnte, wie sie nach erfolgtem Klingeln aus ihren Businessmäppchen ihr Gegenüber um Entschuldigung baten, aufsprangen und in eine Ecke flüchteten, wo sie dann, quasi hinter vorgehaltener Hand, ihre Geschäftsgeheimnisse bewisperten. Solche Szenen wirken heute mit ihrer Bemühung um Diskretion angesichts der massenhaften Nutzung des Handys an jedem Ort und bei jeder Gelegenheit völlig antiquiert. Zum Beispiel neulich in einem überfüllten ICE, in dem ich sogar im Rauchergroßraumwagen nur einen Platz auf dem Teppichfußboden finden konnte, um zwischen Frankfurt und Berlin Anton Tschechov zu lesen. Das Reisen in Großraumwagen bot früher den Vorzug vor dem im kleinen Abteil, dass dort lautstarke Reisebekanntschaften auf Kosten meiner Lesekonzentration nicht geschlossen werden konnten. Seit dem Handy ist das alles anders und es gilt nun ganz im Ernst, einer neuen Schamlosigkeit Grenzen zu ziehen, die mit dem Handy bewaffnet ist. Herr und Frau Jedermann, Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller sind wieder da und überschwemmen die Bahn, aber auch sonst den öffentlichen Raum mit Hilfe des Handys mit einer Trivialkommunikation, aus der ich mich nicht ausblenden kann wie mein Auge vor dem Anblick der Exhibitionisten.

“Sind wir in der Gewöhnungsphase wie seinerzeit mit den Miniröcken und Nacktbadern?”

Berauscht vom neuen Medium, scheuen sich Leute nicht, ihr Liebesgedaddel den Umsitzenden zu Gehör zu bringen. Schlimm ist es, dass ich meinen Tschechov nicht lesen kann – noch schlimmer, dass ich mein bisschen Taktgefühl mit Füssen treten muss und unfreiwillig zum Voyeur werde bzw. zum akustischen Spanner bei einer hocherotischen Verwicklung. Muss ich demnächst mit Ohropax reisen, damit ich nicht in Versuchung gerate, mich ungefragt in das Privatleben wildfremder Menschen einzuklinken, wie es der Respekt, ja, die heilige Scheu gebietet, die Schranke zwischen Privat und Öffentlich hoch anzusetzen und mich rechtlich, politisch bestens abzusichern? Schließlich sind die Grund- und Menschenrechte ursprünglich vor allem Schutzrechte, die jeden Einzelnen vor dem Zugriff der Öffentlichkeit bewahren sollen, mit der hochtrabenden Erwartung, dass jedes Individuum Wert darauf legt, seine Privatsphäre zu schützen.

Das Handy und die Nutzung, welche die meisten von ihm machen, offenbart, dass dem nicht so ist und vielleicht sogar die Idee vom mündigen Staatsbürger, Wähler und autonomen Subjekt leise anfängt zu wackeln. Oder sind wir in der Gewöhnungsphase wie seinerzeit mit den Miniröcken und Nacktbadern?

Im ICE zwischen Frankfurt und Berlin wurde ich nicht nur Zeuge des Liebesgedaddels, das ein grauhaariger Handybesitzer hörbar aufführte, sondern auch unfreiwilliger, hilfloser Zuhörer bei dem trivialen Austausch, zu dem Handys normalerweise benutzt werden. Tschechov ade! Das Privatleben vieler Leute ist geheimnislos, habe ich gelernt. Mangels Masse irgendwelcher Art kommunizieren sie über die Kommunikation, also über die Technik. Das geht ungefähr so: “Du, hier ist die Verbindung schlecht. Das Netz ist scheiße.” – “Hörst du mich? Jetzt ist er weg.” – “Ich ruf später noch mal an.” – “Was machst du gerade?” – “Du, wir haben jetzt zehn Minuten Verspätung. Ob die das noch aufholen?” Usw. usw.

Eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern, den Abschied vom Papa hatte ich auf dem Bahnhof mitbekommen, rief stehenden Fußes aus dem Zug mit dem Handy an. “Du, hat alles geklappt. Willst du mit Jakob reden? Jakob, willst du Papi was sagen?” Der Säugling wird Gottseidank ausgelassen. Das Gehör ist leider kein Richtfunk. Man hört und kann nichts dagegen machen. Handyleute, denkt daran!

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