01.09.2004

Rendez-vous mit einem Vorzeige-Terrorist

Essay von Brendan O’Neill

Die modernen Terroristen sind uns ähnlicher, als wir wahrhaben wollen, sagt Brendan O’Neill.

"Ich schätze, es ist beunruhigend zu erfahren, dass die Selbstmordattentäter des 11. September keine Irren von einem fremden Planeten, sondern eigentlich ziemlich normal waren.“

Mit Aussagen wie dieser sorgte Terrorismusexperte Marc Sageman auf einer internationalen Konferenz Anfang Juli in Washington für Aufruhr. Er stellte dort die Ergebnisse seiner Nachforschungen über 382 mutmaßliche Terroristen vor, die in direktem oder indirektem Kontakt zu Osama bin Ladens Terrornetzwerk stehen sollen. Sageman vertrat die Auffassung, unser stereotypes Bild vom Terroristen als armem jungen einsamen Mann, der in den staubigen Armutsvierteln der muslimischen Welt aufwächst, von Fundamentalisten einer Gehirnwäsche unterzogen wird und fortan bereitwillig fanatische Anschläge ausübt, habe wenig mit dem zu tun, was wir Al Qaida nennen. Stattdessen handele es sich bei diesen Terroristen um zumeist gebildete, wohlhabende, weltgewandte und professionelle Männer mit guten Jobs, intakten Familien und ohne jede Geisteskrankheit. „Einige Konferenzteilnehmer“, berichtet Sageman, „waren ziemlich irritiert, da sie den Eindruck hatten, ich hätte nicht die Männer von bin Laden beschrieben, sondern sie selbst.“

Sageman ist Professor an der University of Pennsylvania, Anti-Terror-Berater der US-Regierung und Autor des Buches Understanding Terror Networks. Die letzten beiden Jahre verbrachte er damit, das verfügbare Material über Terroristen, die mit Al Qaida in Verbindung stehen sollen, zu studieren. Dabei wertete er auch Informationen über führende Mitglieder des Terrornetzwerkes wie bin Laden, al Zawahiri, al Rashidi sowie Mitglieder anderer ähnlich orientierter Terrororganisationen wie Dschihad aus Ägypten, Jemaah Islamiyah (die für das Attentat von Bali verantwortlich zeichnete) und der süd-philippinischen Abu Sayyaf Gruppe aus. Palästinensische, tschetschenische oder andere Gruppen, die in lokale Aufstände verwickelt sind, ließ er außer Acht und konzentrierte sich ausschließlich auf muslimische Terroristen mit globaler Ausrichtung.

„Entgegen der sehr oberflächlichen These, Terrorismus sei eine direkte Folge von Armut, stammt die Mehrheit der Al Qaida-Mitglieder zumindest aus mittleren Einkommensverhältnissen und ist gut gebildet.“

Bei seinen Forschungen gelangte Sageman zu dem Ergebnis, dass traditionelle Terrorismus-Theorien wenig zum Verständnis der Motivationen und Handlungsweisen der Terroristen neuen Typs beitragen. Ging man bislang davon aus, dass sich Terroristen zumeist aus ungebildeten, verarmten Schichten und zerstörten Familien rekrutieren, trifft dies auf Al Qaida-Mitglieder und Unterstützer nicht zu. Selbst die klassische Annahme, sie entstammten in den meisten Fällen fanatisch-religiösen Kreisen, ließ sich nicht erhärten. „Es wäre zwar irgendwie beruhigend zu glauben, diese Jungs seien ganz anders als wir“, sagt Sageman, „aber das ist leider nicht der Fall.“

Seine Informationen bezog Sageman aus Regierungsdokumenten, weltweiten Abhör- und Prozessprotokollen sowie aus Nachrichtenberichten und akademischen Analysen. Auch wenn er zugibt, dass nicht alle seine Quellen hundertprozentig verlässlich und seine Informationen nicht umfassend sind, ist er sich dennoch sicher, dass irgendetwas an diesen neuen Gruppen „anders“ sein müsse.

Entgegen der sehr oberflächlichen These, Terrorismus sei eine direkte Folge von Armut, stellte er fest, dass die Mehrheit der Al Qaida-Mitglieder zumindest aus mittleren Einkommensverhältnissen stammt und gut gebildet ist. Von den 306 Mitgliedern, über die er Informationen hat, gehören gut 17 Prozent höheren Schichten, fast 55 Prozent Mittelschichten und nur 27,5 Prozent niedrigeren Schichten an. Bei Terroristen arabischer Herkunft (aus Saudi-Arabien, Ägypten, Jemen und Kuwait) ist der Anteil aus der Mittelschicht besonders hoch, während Terroristen niedrigerer sozialer Herkunft meist aus den maghrebinischen Staaten Nordafrikas stammen. Selbst unter denjenigen, die noch am ehesten dem Stereotyp des klassischen Terroristen entsprechen – den Südostasiaten – , scheinen erstaunlich viele der Mittelschicht anzugehören.

„Die Al Qaida-Leute halten die Taliban für eine Truppe ignoranter und fanatischer Wilder, die nicht mal lesen und schreiben können.“

Sageman ermittelte außerdem, dass 42 Prozent der ihm bekannten Terroristen ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen können, weitere 29 Prozent studiert haben und immerhin gut 12 Prozent zumindest eine gymnasiale Schulbildung genossen haben. Manche von ihnen sprechen drei bis vier Sprachen. Noch überraschender aber ist Sagemans Erkenntnis, dass neun von zehn der ihm bekannten Terroristen eine säkulare Schule besuchten. Die Annahme, islamische Terroristen würden in Pakistan und anderswo in religiösen Schulen neue „bin Ladens“ heranziehen, geht nach Sagemans Ansicht völlig fehl: „Nur wenige Terroristen gingen auf solche Schulen.“ Mit den afghanischen Taliban haben die modernen Terroristen wenig gemein: „Die Al Qaida-Leute halten die Taliban für eine Truppe ignoranter und fanatischer Wilder, die nicht mal lesen und schreiben können“, sagt Sageman. Tatsächlich stammt keine der 382 Personen, die Sageman untersuchte, aus Afghanistan, dem Land, in dem vor 25 Jahren die Mudschaheddin gegen die sowjetischen Truppen kämpften.

Die Modernität und der hohe Bildungsgrad der Al Qaida-Kader schlägt sich auch in ihren Berufen nieder. Sie sind alles andere als aussichtslose Tagelöhner, die die Verheißung von Ruhm und Reichtum in die Fänge des Terrorismus spülte – die meisten hatten gute Jobs. Von 268 von Sageman zu dieser Frage untersuchten Terroristen gingen 42,5 Prozent als Ärzte, Rechtsanwälte oder Lehrer geregelten und anerkannten Berufen nach, knapp ein Drittel waren angelernte Arbeitskräfte, und nur ein knappes Viertel hatte keine Berufsausbildung.

Sagemans Daten zeigen: Islamische Terroristen sind junge, erfolgreiche und angesehene Araber und Asiaten. Ihr Durchschnittsalter liegt bei knapp 26 Jahren. Auch die Führungsriege ist mit durchschnittlich knapp 28 Jahren sehr jung.
Sageman fand weiter heraus, das 73 Prozent verheiratet sind und die Mehrzahl auch Kinder hat. Die meisten waren nie als Verbrecher in Erscheinung getreten, sieht man einmal von Kreditkartenbetrug, Geldwäsche oder anderen ähnlich gelagerten Verstößen einiger zumeist verarmter maghrebinischer Araber ab.

Obwohl Al Qaida-Mitglieder und ihre Sympathisanten über ein pervertiertes Weltbild verfügen, sind sie keineswegs geistesgestört. Sageman fand heraus, dass nur in vier Fällen eine psychische Störung vorliegen könnte und nur einer der Terroristen geistig zurückgeblieben sei. Auch Kindheitstraumen spielen keine große Rolle; weniger als 10 Prozent verloren während ihrer Kindheit einen Elternteil. Alles in allem, sagt Sageman, „hatten sie eine gute und behütete Kindheit“ – auch hier einige verarmte maghrebinische Araber ausgenommen.

Unsere Vorstellungen darüber, wie ein Terrorist denkt und fühlt, basieren auf der Annahme, sie seien mit uns nicht zu vergleichen. Oft wird behauptet, Terroristen verübten Anschläge und Morde, weil sie Freude am Töten hätten, weil sie unzivilisiert seien und aus nicht-westlichen und unterentwickelten Regionen kämen. Sagemans Forschungen zeigen aber, dass manche der nihilistischen Terroristen aus westlichen Zusammenhängen stammen und auch materiell keine Not zu leiden hatten. „Diese Typen gehörten in ihren Ländern der Elite an“, sagt Sageman. „Sie sind einigen Gruppen in westlichen Gesellschaften sehr ähnlich.“

„Moderne Terroristen sind internationale Leute, gewissermaßen globale Bürger.“

Mithin stellt sich die Frage: Was ist schief gelaufen? Wie konnten aus angesehenen Mittelschichtkindern Massenmörder werden? Was bewog Menschen, die offensichtlich viel mit uns gemein haben – gute Bildung, gute Berufe, intakte Familien –, Terroristen zu werden und die New Yorker Zwillingstürme und das Pentagon in Schutt und Asche zu legen, Urlauber in Bali zu massakrieren, in Madrid Züge in die Luft zu jagen und bei all diesen Taten wahllos unschuldige Zivilisten zu morden? Auch Sageman hat darauf keine einfache Antwort. Aber er sieht einen Aspekt, der die Al Qaida-Terroristen von Gruppen wie den Taliban oder pakistanischen Fundamentalisten unterscheidet und uns helfen kann, ihre Entwicklung und ihr Denken besser zu verstehen. „Sie sind internationale Leute, gewissermaßen globale Bürger“, sagt Sageman, „sie haben ihre Heimat verlassen, sind um die Welt gereist, und viele haben sogar im Westen gelebt.“

Sageman fand heraus, dass 70 Prozent der von ihm erfassten Personen sich erst im Ausland, manche von ihnen sogar erst im Westen, terroristischen Kreisen anschlossen. „Letztlich“, fasst Sageman zusammen, „handelt es sich um nationale Eliten, die zum Studieren in den Westen geschickt wurden, weil hier die Hochschulen einfach besser sind. Mohammed Atta ist ein gutes Beispiel: er verließ Ägypten, um in Hamburg Architektur zu studieren. Dort gründete er dann die Hamburger Terrorzelle, die die Terroranschläge vom 11. September mitkoordinierte.“

Andere, in der Regel maghrebinische Araber, verließen ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen, fährt Sageman fort. Sie kamen nach Spanien, Italien und Frankreich, um dort zu arbeiten. Darüber hinaus gibt es noch jene, die bereits seit längerer Zeit im Westen lebten, französische, spanische, italienische und britische Staatsbürger, die dann ebenfalls Teile des Terrornetzwerkes wurden. Nach Sagemans Daten wuchsen etwa 10 Prozent der Terroristen in Frankreich und Spanien auf.

„Die meisten der Attacken wurden von Menschen verübt, die im Westen nicht nur ausgebildet und sozialisiert, sondern auch radikalisiert wurden.“

Sagemans Erkenntnisse zeigen, dass die Annahme, der islamische Terrorismus sei ein Problem, das in fernen und entlegenen Weltregionen entstanden sei und nun den Westen von außen bedrohe, völlig an der Sache vorbeigeht. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ gründet auf der Vorstellung eines „äußeren Feindes“, den es zu bekämpfen gelte – zum Beispiel in Afghanistan, obwohl es bei Al Qaida gar keine Afghanen gibt, oder im Irak, obwohl das Land nachweislich keine Verbindung zu Al Qaida unterhielt. Die meisten der Attacken islamischer Terroristen haben in ihrer Entstehung weit mehr mit dem Westen zu tun, als wir zugeben wollen: Sie wurden von Menschen verübt, die im Westen nicht nur ausgebildet und sozialisiert, sondern auch radikalisiert wurden.

Der Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 1993 wurde von Ramzi Ahmed Yousef organisiert, einem 25jährigen Pakistani, der im walisischen Swansea ein College besuchte. Unterstützung erhielt er von Leuten, die er in New York in einer Moschee kennen gelernt hatte. 1999 wurde der 33jährige Algerier Ahmen Ressam bei dem Versuch festgenommen, auf dem internationalen Flughafen in Los Angeles eine Bombe zu platzieren. Ressam hatte enge Beziehungen zur algerischen Gemeinschaft in Frankreich, bevor er nach Kanada übersiedelte. In einer dortigen Moschee kam er mit islamischen Extremisten in Kontakt.

Auch Mohamed Atta scheint seine besondere Ausprägung des anti-westlichen Terrorismus eher in Hamburg als in Kairo entwickelt zu haben, wo er zwar einer regierungsfeindlichen muslimischen Brüderschaft angehörte, aber nie in terroristische Aktivitäten verwickelt war. Zacarias Moussaoui, der „20. Entführer” des 11. September 2001, wurde in Frankreich geboren und kam in einer Moschee im Londoner Stadtteil Brixton in Kontakt mit islamischen Fundamentalisten. In derselben Moschee verkehrte übrigens auch Richard Reid – ein arbeitsloser Einzelgänger mit durchschnittlicher Intelligenz – , bevor er im Dezember 2001 mit einer in einem Schuh versteckten Bombe versuchte, ein Flugzeug in die Luft zu sprengen. Khalid Sheikh Mohammed, der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge des 11. September, hatte zuvor an der Universität im US-amerikanischen Bundesstaat North Carolina studiert.

Sageman geht davon aus, dass irgendetwas in ihrer „globalen Erfahrung“ diese Menschen in die Arme der neuen Terrornetzwerke treibt. „Sie haben ihre traditionellen und kulturellen Bindungen verloren“, sagt er. „Viele von ihnen hatten wahrscheinlich Heimweh, fühlten sich einsam, marginalisiert und wohl auch gesellschaftlich ausgeschlossen.“ Diese Erkenntnis passt auch zu der Tatsache, dass die meisten von ihnen nicht „aktiv“ rekrutiert wurden, sondern eher auf der Suche nach Anschluss in „schlechte Kreise“ gerieten. „Sie suchten Moscheen auf, nicht so sehr wegen ihrer eigenen Religiosität, sondern weil sie Freundschaften suchten.“

„Heimweh allein produziert aber keine Terroristen. Da steckt mehr dahinter. Diese Typen sind isoliert, dann gelangen sie unter den Einfluss radikaler Moslems, die ihnen erzählen, sie seien unglücklich, weil sie von der Gesellschaft ausgestoßen würden. Der Grund dafür sei der allgemeine Werteverfall, die Korruption, der Materialismus und die Dekadenz des Westens, den man deswegen bekämpfen müsse.“ Diese Schilderung macht Sinn. Durch diesen Prozess, so Sageman, begännen einige Araber und Asiaten, sich in Cliquen zu organisieren, die sich immer mehr von der Gesellschaft abkapselten und ihre eigene Mikro-Kultur entwickelten.

Gibt es also nicht doch etwas in den westlichen Gesellschaften, das gebildete und respektable Individuen dazu bringt, sich abzukapseln und abgehobene, gesellschaftsfeindliche Cliquen zu bilden? Fest steht jedenfalls: Einige dieser Terroristen wurden nicht in Kabul, Kairo oder Teheran zu Terroristen, sondern in London, New York, Montreal und Hamburg. Dieser Terrorismus ist nicht die Folge eines orientalischen Fanatismus, der von außen den Westen infiltriert. Er verweist vielmehr auf das Scheitern zentraler Institutionen der westlichen Welt, denen es heute nicht mehr gelingt, die Gesellschaft zu integrieren und den Menschen eine sinnvolle Perspektive zu bieten. Nicht nur unter Immigranten nimmt das Gefühl der Atomisierung und Entfremdung zu, auch wenn es sie womöglich härter trifft. Letztlich sind wir alle von zunehmender Illusionslosigkeit und sozialem Pessimismus betroffen. Könnte es sein, dass der neue Terrorismus, den wir als so fremd empfinden, aus denselben korrodierenden Kräften entsteht, die auch uns beeinflussen?

Die Forschungsergebnisse von Marc Sageman fordern uns auf, uns mit solch unangenehmen Fragen eingehender zu befassen. Nach den barbarischen Anschlägen von Madrid schrieb die konservative Kolumnistin Barbara Amiel in der britischen Zeitung Daily Telegraph, die Terroristen kämen aus einem „moralisch fremden Universum“. Tatsache ist: Sie bewohnen unsere Welt, leben in unseren Gesellschaften und sind uns auch in vielen anderen Dingen sehr ähnlich. Es wird Zeit, über die Ursprünge des neuen Nihilismus und darüber, wie wir ihn bekämpfen können, noch einmal nachzudenken.

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