29.07.2014

Regelmäßig sieben Quadratmeter

Essay von Renate Dienersberger

Ein Bericht von den Zuständen, in denen Asylbewerber in Deutschland leben. Strenge Regeln schränken das Leben der Flüchtlinge ein, isolieren und demoralisieren sie. Ein Umdenken in der Asylpolitik könnte auch helfen, Ängste vor Zuwanderung zu verringern

Niemand, der auf sich hält, stellt den einschlägigen Artikel 16a Ziffer 1 des Grundgesetzes - „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.” - in Frage. Doch gleichzeitig grassiert die Angst vor zu viel Zuwanderung, vor „Überfremdung”, vor Engpässen auf dem Arbeitsmarkt und einem Überhandnehmen „unerwünschter” Kulturen. Geradezu klassisch ist auch das Argument, solange so viele Deutsche hierzulande in Armut lebten, sei es einfach nicht fair, Hundertausende von Flüchtlingen auf Staatskosten „durchzufüttern”, ihnen Wohnraum zu finanzieren und ärztliche Behandlung angedeihen zu lassen. In Bayern hat die CSU kürzlich mit dem Slogan „Wer betrügt, der fliegt” die Debatte befeuert, und durch die fatale Situation in Ländern wie Syrien und Afghanistan steigt die Zahl der Flüchtlinge derzeit wieder stark an. So ist die Asyldiskussion nun wieder politisches Tagesgeschäft geworden, speziell in einem Jahr, in dem in 14 Bundesländern Kommunal- oder Landtagswahlen anstehen. Aber auch anderswo in Europa schlägt das übergreifende Thema Immigration hohe Wellen – von Italien mit seinen Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa bis hin zu den Eidgenossen in der Schweiz, die am 9. Februar 2014 per Volksabstimmung gar für eine Begrenzung der Zuwanderung aus EU-Ländern votierten.

„Deutschland hat sich so einiges einfallen lassen, um Flüchtlingen vor einer möglichen Anerkennung ihres Bleiberechts den Aufenthalt so unangenehm und schwer wie möglich zu machen.“

Deutschland hat sich so einiges einfallen lassen, um Flüchtlingen vor einer möglichen Anerkennung ihres Bleiberechts den Aufenthalt so unangenehm und schwer wie möglich zu machen. Die Abschreckungsabsicht, die dahintersteckt, ist durchaus offiziell, schon seit den 1990er-Jahren. [1] Weitgehend einzigartig in der EU ist zum Beispiel die hierzulande geltende Residenzpflicht, also ein Reiseverbot für Flüchtlinge über Landesgrenzen hinweg, in Bayern und Sachsen sogar auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde bezogen. Eine beeindruckende Zusammenstellung sämtlicher Auflagen ist im Asylverfahrensgesetz [2] nachzulesen. Der mehrfache Verstoß gegen die Residenzpflicht ist ein Straftatbestand und kann mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden; mehrfaches Schwarzfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln bereits mit bis zu 30 Tagessätzen. Hier ahnt man schon, wie Statistiken entstehen, die eine angeblich hohe Kriminalitätsrate bei Flüchtlingen ausweisen. Laut Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat [3], einem überparteilichen Dachverband, der sich seit 1986 um die Belange von Flüchtlingen in Bayern kümmert und mit zahlreichen Projekten versucht, sowohl die hiesigen Lebensbedingungen der Betroffenen zu verbessern als auch die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Migranten voranzubringen, liegt diese Rate nach Ausschluss der „Verstöße gegen Mitwirkungspflichten” [4], die Deutsche gar nicht begehen können, eher etwas niedriger als beim Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Das Statistische Bundesamt erfaßt nicht den Aufenthaltsstatus ausländischer Straftäter und kann deshalb hierzu keine verlässlichen Zahlen liefern.

Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [5] wiederum (in dem interessanterweise noch immer D-Mark-Beträge zu lesen sind, vgl. § 3 „Grundleistungen”) ist z.B. auch die Ernährung von Flüchtlingen durch Essenspakete mit immer gleicher Zusammensetzung (statt der Auszahlung eines Geldbetrags zum eigenständigen Einkauf von Lebensmitteln) rechtens, aber ausschließlich Bayern beharrte bislang auf dieser Methode.

Von den Menschen, die in Asylbewerberheimen und sonstigen Flüchtlingsunterkünften leben, und von der Art ihrer Unterbringung bekommt die Öffentlichkeit kaum etwas mit. Sammelunterkünfte sind in der Regel nicht öffentlich zugänglich, und selbst wenn sie es wären, würde sich wohl kaum ein Durchschnittsbürger aus freien Stücken dorthin begeben. Eine vage Vorstellung von der Wohnsituation eines Flüchtlings ermöglicht folgender Auszug aus einem Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom April 2010, unterzeichnet von Ministerialrat Dr. Bloeck, Seite 1, letzter Absatz:
 

Individueller Wohnbereich: Zum individuellen Wohnbereich zählen die Wohn-/Schlafräume. Pro vorgehaltenem Platz soll eine durchschnittliche Wohn-/Schlafraumfläche von sieben Quadratmetern regelmäßig nicht unterschritten werden. Dieser Grundsatz gilt nicht für die Aufnahmeeinrichtung.”


Tatsächlich handelt es sich bei den Behausungen für Immigranten um eine Art Parallelwelt mitten unter uns, die wir nicht wahrnehmen und auch nicht wahrnehmen wollen. Eine willkürlich gewählte Flüchtlingsunterkunft in München offenbart beispielhaft die Lebensumstände von Menschen jeden Alters und vielfältiger Herkunft mit ihren noch vielfältigerer Lebensgeschichten, unter einem Dach, Wand an Wand, Tür an Tür, mit gemeinsamen Toiletten- und Duschräumen und einer einzigen Gemeinschaftsküche. Die Zimmer gleichen eher Zellen, sind winzig und ärmlich, durch die winzigen Fenster dringt kaum Tageslicht.

Hinter diesen Türen erwarten den Besucher zwar die gleichen Anzeichen bitterer Armut, aber völlig unterschiedliche Schicksale:

„Bis zu einer Anerkennung ihres Bleiberechts als Asylanten haben Flüchtlinge keinen Anspruch auf Sprachkurse, egal, wie lange ihr Aufenthalt bis dahin dauern mag.“

Majed ist 27 Jahre alt, seine Mutter 63. Die beiden stammen aus Syrien und leben seit achteinhalb Jahren hier – in einer Zelle, die gewiss keine 14 Quadratmeter mißt. Majed sitzt im Rollstuhl, seine Hände sind an den Handgelenken nach innen abgewinkelt und unbeweglich, er ist körperbehindert von Geburt an. Die beiden haben einst Syrien verlassen, weil für jemanden wie Majed dort kein Platz ist, zumal beide der Minderheit aramäischer Christen angehören; als solcher hat man dort auch ohne Behinderung schon einen schweren Stand. Majed spricht gut Deutsch, obwohl er keinen Sprachkurs bewilligt bekam; er hat die Sprache selbst gelernt, ohne Hilfe. Bis zu einer Anerkennung ihres Bleiberechts als Asylanten haben Flüchtlinge keinen Anspruch auf Sprachkurse, egal, wie lange ihr Aufenthalt bis dahin dauern mag.

Majeds Mutter hat zwei Geschwister, die seit langer Zeit in Wiesbaden leben. Deren Familien haben Bleiberecht nach § 60(1) des Aufenthaltsgesetzes [6] und gehen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen nach. In den letzten sechs Jahren haben Majed und seine Mutter fünf Anträge auf Verlegung in ein Wiesbadener Flüchtlingsheim gestellt, die letzten beiden Male mit der Hilfe eines Anwalts, dessen Honorar sie selbst bezahlen müssen. Bayern würde sie sofort ziehen lassen, aber Wiesbaden lehnt ab, zumal Majed auch noch täglich einen Pflegedienst braucht. Majed und seine Mutter sind Opfer der Residenzpflicht; sie verhindert, daß die beiden Unterstützung von ihren Familienangehörigen in einem anderen Bundesland finden könnten.

In den nächsten beiden Räumen leben seit zwei Jahren die 17-jährigen afghanischen Zwillinge Giti und Reda mit ihrer Mutter Roksana und ihrem achtzehnjährigen Bruder Vehid. Diese Familie kam aus Kabul nach Deutschland. Der Vater war ein wohlhabender Mann, die Mutter arbeitete als Kindergärtnerin. Die drei Kinder besuchten in Kabul eine höhere Schule, bis es in ihrer Familie zu schweren Auseinandersetzungen um den Grundbesitz kam, in deren Verlauf einer ihrer Onkel ihren Vater tötete. Von diesem Tag an waren sie und ihre Mutter entrechtet. Die Mädchen wurden sofort von der Schule genommen. Die dagegen rebellierende Mutter wurde mehrfach brutal verprügelt, all ihr Besitz ging automatisch in die Hände der Brüder ihres getöteten Mannes über. Als Roksana erfuhr, dass ihre damals 15-jährigen Töchter zwangsverheiratet werden sollten, organisierte sie mit ihrem letzten verbliebenen Geld die Flucht nach Europa und landete eher zufällig in München.

Giti und Reda, die gut Deutsch sprechen, haben kürzlich die Hauptschule abgeschlossen, beide mit der Note 1,5. Nun arbeiten sie auf ihren Quali hin. Reda sagt, es sei schwierig, hier im Flüchtlingsheim zu lernen; ihre Mutter habe Schlafstörungen und heftige Schmerzen in jenem Knie, das durch die Misshandlungen bleibende Schäden davongetragen hat; deshalb müsse ihre Mutter sich oft tagsüber hinlegen. Dann könnten sie und ihre Schwester kein helles Licht zum Lesen und Lernen anmachen. Über die Schule habe sie ein Praktikum in einer großen Firma bekommen, dort sei man von ihrer Arbeit sehr angetan gewesen und habe ihr einen Minijob angeboten. Aber ihr Antrag wurde von der Ausländerbehörde abgelehnt; den Job hat ein Anderer bekommen.

„Die meisten jugendlichen Flüchtlinge kommen unbegleitet mithilfe von Schleppern nach Deutschland; nicht selten wurden sie von ihren Eltern weggeschickt, in der Hoffnung, dass in Europa für junge Menschen leichter Arbeit zu finden ist.“

Minderjährige Flüchtlinge haben nur bis zur Vollendung ihres 16. Lebensjahrs Anspruch auf Schulbesuch. Bevor sie in den normalen Unterricht integriert werden können, müssen sie natürlich die deutsche Sprache erlernen. Nach Auskunft des Bayerischen Flüchtlingsrats sind Fleiß, Motivation und Lernbereitschaft bei Flüchtlingskindern signifikant höher als bei hier geborenen Kindern und Jugendlichen aus problematischem sozialem Umfeld.

In den ersten neun Monaten vom Tage ihrer Ankunft in Deutschland gilt für Flüchtlinge ein striktes Arbeitsverbot. Anschließend darf ein Asylbewerber prinzipiell einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sofern gewährleistet ist, dass kein Deutscher und kein EU-Bürger sich für die entsprechende Stelle (in der Regel Jobs als Küchenhilfe, Putzkraft usw.) interessiert. Um dies sicherzustellen, muss der Flüchtling eine Bestätigung seines potentiellen Arbeitgebers bei der Ausländerbehörde einreichen, die umgehend an die Arbeitsagentur weitergeleitet wird. Dort wird die Stelle ausgeschrieben. Nur wenn sich kein anderer Interessent für den Arbeitsplatz findet, kann dem Flüchtling die Erwerbstätigkeit gestattet werden.

Hieraus ergibt sich zweifelsfrei, dass die eifrig geschürten Ängste, Asylbewerber würden uns Arbeitsplätze wegnehmen, jeglicher Grundlage entbehren.

Kinder und Jugendliche sind in der Regel viel schneller bereit, sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Oft genug jedoch sind die in Europa strandenden Jugendlichen traumatisiert durch furchtbare Geschehnisse in ihrer Heimat. Die meisten jugendlichen Flüchtlinge kommen unbegleitet mithilfe von Schleppern nach Deutschland; nicht selten wurden sie von ihren Eltern weggeschickt, die den Schlepper teuer bezahlten in der Hoffnung, dass in Europa für junge Menschen leichter Arbeit zu finden ist und ihr Kind nicht nur bessere Lebensmöglichkeiten vorfinden, sondern auch alsbald jeden Monat Geld in die Heimat schicken wird. Mit politischer Verfolgung hat diese Form illegaler Einwanderung wenig zu tun. Aber was kann der Jugendliche dafür?

Die Geschichte der afghanischen Familie hingegen läßt keine Zweifel an einer klassischen Asylberechtigung offen. Der achtzehnjährige Bruder der beiden Mädchen hat nun einen kleinen Job neben der Schulausbildung, er verdient 120 Euro im Monat. Dieser Betrag wird auf sein Taschengeld von 150 Euro angerechnet. Die vierköpfige Familie bekommt somit insgesamt 340 Euro im Monat von staatlicher Seite – für Essen (jenseits der Essenspakete), Nahverkehrstickets, Medikamente für die Mutter und alle anderen Ausgaben.

2013 haben Asylsuchende insbesondere in Bayern durch verschiedene Aktionen auf ihre Lebenssituation aufmerksam gemacht, teils mit durchaus aufsehenerregenden Methoden [7]. Diese Protestzüge und –camps mit Hungerstreiks lösten einigen Unwillen in der Bevölkerung aus. Die Asylsuchenden artikulierten sich schließlich auch nicht zimperlich, sie stellten Forderungen in Bezug auf ihre Unterbringung und Verpflegung. Und sie waren sichtbar, furchtbar sichtbar sogar, in der Innenstadt, tage-, wochenlang. Bis man sie entfernte [8], mit der Begründung, der Staat lasse sich nicht erpressen.

Zum 1. März 2014 wird die Zwangsmaßnahme der „Sachleitung Essenspakete” in Bayern nun abgeschafft. Ob diese Entscheidung den oben genannten Aktionen geschuldet ist, obliegt der Einschätzung des Betrachters.

„Abertausende von arbeitsfähigen und -willigen Menschen dümpeln hierzulande in katastrophalen Umständen vor sich hin, wissen tagaus, tagein nichts mit sich anzufangen und müssen zwangsläufig im Laufe der Jahre schier verzweifeln.“

Im Durchschnitt dauert es Alexander Thal zufolge ca. ein Jahr, bis erstmals über einen Asylantrag entschieden wird. Diese Durchschnittsangabe ist aber nicht sehr aussagekräftig; Sinti und Roma aus Nicht-EU-Ländern werden z.B. üblicherweise innerhalb weniger Tage als nicht asylberechtigt eingestuft (was unter dem Aspekt der politischen Verfolgung in ihrer Heimat höchst fragwürdig ist) und umgehend wieder ausgewiesen. Die erste Entscheidung passiert etwa ein Drittel aller Flüchtlinge mit positivem Ergebnis. Über alle weiteren Instanzen hinweg bleiben rund 80 Prozent aller Immigranten, die den Weg nach Deutschland gefunden haben, hier – sei es mit anerkanntem Status, als Geduldete oder gar als Illegale. Diese Zahlen sind nicht offiziell und entsprechen auch nicht den Wünschen der Regierung. Aber dies ist die tatsächliche Bilanz der deutschen Flüchtlingspolitik, woraus sich zwanglos ableiten lässt, dass die Abschreckungssytematik in der Behandlung von Immigranten zwar eine Menge Elend produziert, aber keinesfalls das erhoffte Ergebnis – nämlich die Eindämmung des Flüchtlingsstroms und möglichst hohe Rückführungszahlen.

Solange sein Aufenthaltsstatus nicht geregelt ist, ist ein Flüchtling in Deutschland unzähligen Auflagen unterworfen und hat keine Chance, sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Da nur einer Minderheit in absehbarer Zeit ein offizielles Bleiberecht zugesprochen wird, dümpeln Abertausende von arbeitsfähigen und -willigen Menschen hierzulande in katastrophalen Umständen vor sich hin, wissen tagaus, tagein nichts mit sich anzufangen und müssen zwangsläufig im Laufe der Jahre schier verzweifeln. Diese Tatsache ist umso frappierender, als ein Großteil dieser Gruppe nicht etwa aus Kranken und Greisen, sondern aus jungen Menschen besteht, die auf eigene Faust aus der Misere ihrer Heimatländer geflohen sind und sich nichts mehr wünschen würden, als die deutsche Sprache lernen zu dürfen, die Einheimischen und ihre Gepflogenheiten kennenzulernen, sich angenommen zu fühlen und mit ihre Hände Arbeit eigenes Geld zu verdienen, um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft finanzieren zu können. Wenn ihnen das über Monate und Jahre, manchmal gar über Jahrzehnte nicht gestattet wird, muss man sich nicht wirklich über eine mit den Jahren steigende Neigung zu regelwidrigen Verhaltensweisen oder verzweifelten Protestaktionen wundern.

Keine Frage, es gibt gewiß auch Betrüger unter den Immigranten. So wie es eben überall auf der Welt einen gewissen Prozentsatz von Menschen gibt, die nur zu ihrem eigenen Vorteil handeln, unabhängig davon, wer dadurch eventuell geschädigt wird. Den Satz „Wer betrügt, der fliegt” könnte man durchaus hinnehmen, wenn er durch den zweiten Halbsatz „aber wer nicht betrügt, dem geben wir eine reelle Chance” ergänzt würde.

Taufik ist gebürtiger Iraner und heute 31 Jahre alt. In seiner Zelle hängen zwei große Fahnen zu beiden Seiten des kleinen Fensters: Links die deutsche, rechts die irakische. Unter dem Fenster wuchert Schimmel an der Wand. Taufik gehört der Volksgruppe der Kurden an, einer in einigen Gebieten des Iran verfolgten Minderheit. Er stammt aus Tikrit, wuchs aber im Iran auf, weil seine Eltern dort Arbeit als Putzkräfte fanden und ihn dabei mitarbeiten ließen. 2001, also mit 17, kehrte er in den Irak zurück. In den nächsten beiden Jahren wurde er zum Pazifisten. Die angsteinflößenden Tätowierungen auf seiner kahlgeschorenen Kopfhaut stammen aus dieser Zeit, es sind arabische Verse gegen den Krieg. Als am 20. März 2003 die Amerikaner mit ihrem Bombenangriff auf Bagdad den Irakkrieg einläuteten, entschloss sich Taufik zur Flucht aus seiner Heimat. Er hatte Hoffnung auf ein neues Leben in Europa. Und er schaffte es, über die Türkei kam er nach München, ohne Pass. Zunächst war das Glück ihm hold, er bekam sofort die Duldung, einen Sprachkurs, Schulunterricht, er machte den Quali und durfte ein Praktikum als Kfz-Mechaniker absolvieren. Der Betrieb bot ihm anschließend eine Lehrstelle an. Aber die Ausländerbehörde lehnte das ab, nachdem diese freie Stelle bekannt geworden war – ein EU-Bürger bekam den Vorzug. Noch einmal fand Taufik ein Lehrstellen-Angebot, diesmal in einem Friseursalon. Das gleiche Spiel – er durfte die Stelle nicht annehmen.

Heute arbeitet Taufik als Vorarbeiter in einer Reinigungsfirma. Sein Duldungsstatus erlaubt zwar eine solche Erwerbstätigkeit, nicht aber ein Verlassen der Flüchtlingsunterkunft. Für die von Schimmel überzogene Zelle muss er 200 Euro Miete zahlen, eine andere Unterkunft darf er sich nicht suchen. Er sagt, er lebe hier wie im Gefängnis, obwohl er niemandem etwas getan habe. Dabei arbeite er seit nunmehr elf Jahren auf nichts anderes hin als auf ein Entkommen aus der Abhängigkeit und auf ein freies, selbstfinanziertes Dasein.

„Auch ein Asylsuchender ohne Aufenthaltserlaubnis, ein Flüchtling mit gefälschten Papieren, ein aramäischer Rollstuhlfahrer ist zuallererst mal ein Mensch.“

Es ist leicht, auf ein Gesetz stolz zu sein, das mit einem einzigen Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.” – den durchschlagenden Beweis für hehre Willkommenspolitik und grenzenlose Solidarität mit allen Verfolgten auf dem Globus zu liefern scheint. Der allererste Satz im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lautet jedoch:
 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.”


Da steht nicht etwa, die Würde des Deutschen, des EU-Bürgers, des anerkannten Asylanten sei unantastbar. Auch ein Asylsuchender ohne Aufenthaltserlaubnis, ein Flüchtling mit gefälschten Papieren, ein aramäischer Rollstuhlfahrer ist zuallererst mal ein Mensch.

Das Argument, solange der Staat es nicht schaffe, seinen eigenen notleidenden Bürgern – wie alleinerziehenden Müttern, armen Rentnern oder arbeitslosen Jugendlichen – hinreichende finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, müssten die Belange von Flüchtlingen zurückstehen, geht in die Irre, denn: Das Eine hat mit dem Anderen schlichtweg nichts zu tun. Es handelt sich um zwei völlig verschiedene Aufgaben eines Staates. Erheblich sinnvoller wäre es z.B. etwa die Etats für Flüchtlingshilfe und Rüstung gegeneinander abzuwägen.

Auch ohne unbegrenzte Zuwanderung zuzulassen, ließen sich durch ein Umdenken bezüglich des Umgangs mit den Menschen, die ihren Weg trotzdem zu uns finden, zahllose Leidensgeschichten vermeiden und gleichzeitig jene Unsummen an Geld, die aufgrund der bisherigen Asylpolitik über Jahre und Jahrzehnte für hässliche Hinhalte- und Zermürbungsmethoden verschleudert werden, vernünftiger zum Einsatz bringen. Anstatt Abertausende von Flüchtlingen jahrelang in Ungewissheit unter menschenunwürdigen Umständen, isoliert von der einheimischen Bevölkerung und zahllosen nicht einmal im Ansatz verständlichen Verordnungen ausgesetzt dahinvegetieren zu lassen, sollte es zum dringlichsten Bestreben der Länder werden, Immigranten dabei zu unterstützen, sich in unserer zunächst so fremden Welt zurechtzufinden, so schnell wie möglich unsere Sprache zu lernen und dadurch auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu bekommen. Nur dann könnten sie „vollwertige” Mitglieder unserer Gesellschaft werden, die in der Lage wären, Güter zu kaufen, Steuern zu zahlen und die Sozialkassen zu füllen, anstatt sie zu belasten. Unter integrativen Randbedingungen würde sich auch nach relativ kurzer Zeit herauskristallisieren, wie groß der so gern kolportierte Anteil an arbeitsscheuen, angeblich nur nach Sozialleistungen gierenden Immigranten tatsächlich ist – und wie viele der Zuwanderer ihre Chance auf ein selbstbestimmtes und -finanziertes Leben nutzen. Das Ergebnis könnte so manchen überraschen.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#117 - I/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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