23.08.2012

Pussy Riot: Nicht nur in Russland wird Ikonoklasmus bestraft

Von Tim Black

Viele westliche Beobachter waren begeistert von Pussy Riots Aktionen gegen Putin und die russische Kirche. Warum aber haben es Häretiker bei uns zu Hause so schwer? Spiked-Redakteur Tim Black zur Frage, weshalb viele zwar die freie Rede in Russland, aber nicht hier im Westen unterstützen

Die Geschichte ist inzwischen hinlänglich in den Medien ausgebreitet worden: Im Februar dieses Jahres betrat eine Gruppe von maskierten Frauen die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Über ihre Köpfe hatten sie sich grelle Strumpfhosen gezogen. Angesichts ihrer Aufmachung wird es wenig überraschen, dass sie nicht zum Beten dort waren. Sie waren vielmehr dort, um den damals noch als Präsident kandidierenden Wladimir Putin und dessen Partner in Sachen staatlich organisierter Kriminalität, der russisch-orthodoxen Kirche, ordentlich in den Arsch zu treten. Als Zeichen des Protestes gegen die herrschenden Verhältnisse sangen sie ihren Song „Holy Shit“, indem sie Jungfrau Maria darum bitten, Putin wegzusperren. Das Ganze begleiteten sie mit wilden Tänzen vor und auf dem Altar der Kirche.

Der Spaß währte nicht lange. Im März, kurz vor Putins Wahl zum Präsidenten, wurden mehrere Mitglieder von Pussy Riot verhaftet. Drei wurden wegen „einer groben Verletzung der öffentlichen Ordnung, einschließlich Volksverhetzung und Teil einer geplanten Verschwörung“ angeklagt. Und vergangene Woche richteten sich alle Augen auf einen vollen Gerichtssaal in Moskau, wo das Urteil verkündet wurde. Die drei Angeklagten - Maria Alyokhina, 24 Jahre alt, Nadezhda Tolokonnikova, 22 und Jekaterina Samutsevich, 30 - wurden zu je zwei Jahren Straflager verurteilt. Richterin Marina Sysrova begründete das Urteil mit den Worten: „Tolokonnikova, Samutsevich und Alyokhina haben sich eines Aktes des Vandalismus schuldig gemacht. Ihre grobe Verletzung der öffentlichen Ordnung zeigt ihre offensichtliche Missachtung der Gesellschaft. Die Aktionen der Mädchen waren ein Sakrileg, eine Blasphemie und verletzten die Regeln der Kirche.“

In Russland fielen die Reaktionen auf den ganzen Wirbel Rund um Pussy Riot je nach Herkunft und Klassenzugehörigkeit sehr unterschiedlich aus. Für die kleine Schicht weit gereister, kosmopolitisch und westlich liberal gesinnter Russen, die Putin „abscheulich“ finden, wie es der britische Kommentator John Kampfner bemerkte, ist das Urteil eine Schande und ein Zeichen russischer Rückständigkeit. Doch während diese Moskauer und St. Petersburger „Kreativen“, wie Putin diesen am gesellschaftlichen Aufstieg interessierten Teil seiner Wählerschaft nennt, empört waren, war die große Mehrheit der gewöhnlichen Russen alles andere als begeistert von Pussy Riot. Laut der unabhängigen Forschungsgruppe Levada sympathisierten nur sechs Prozent der Befragten mit Pussy Riot, 51 Prozent der Russen fühlten sich den Frauen gegenüber „gleichgültig, gereizt oder feindselig“. Ganz wie der britische Punk der 1970er Jahre und dessen dadaistische und avantgardistische Vorläufer der 1920er Jahre stellte sich Pussy Riot – früher als Performance-Kollektiv Voina agierend - gegen die Konventionen und den Geschmack der Masse. Das Ziel: das dumme Publikum zu schockieren. Kein Wunder, dass sich die Unterstützung für sie in Grenzen hielt.

Aber wie man es auch dreht und wendet, die Verhaftung, das Verfahren und das Urteil sind das Letzte. Drei Frauen wurden in eine Strafkolonie geschickt, weil sie Schimpfwörter in einer Kathedrale sagten; sie wurden verurteilt, weil sie sich selbst ausdrücken wollten. Und wer das Recht auf freie Rede unterstützt, wie ich es tue, kann den Pussy Riot-Fall nur als Angriff auf eben dieses Recht betrachten.

Nicht, dass irgendjemand in westlichen Kreisen etwas anderes behaupten würde. Als der Fall Pussy Riot weltweit an medialer Aufmerksamkeit gewann (BBC, CNN aber auch die ARD übertrugen die Verhandlung live), kam es zu einem großen Stelldichein von Möchtegern-Unterstützern der freien Meinungsäußerung. Popgrößen von Paul McCartney, den Sex Pistols, den Red Hot Chilli Peppers bis zu Madonna reihten sich bei den üblichen Verdächtigen, wie Amnesty International oder Human Rights Watch ein, um den Prozess öffentlich zu verurteilen. Auch viele Politiker, aktuelle und ehemalige, haben sich dem Protest angeschlossen. Der britische Außenminister Alistair Burt etwa sagte, er sei „zutiefst von der Verurteilung betroffenen ..., die nur als eine unverhältnismäßige Reaktion auf einen Ausdruck persönlicher, politischer Überzeugung bewertet werden kann.“

Viele Kommentatoren dachten ganz ähnlich. Michael Idov, Redakteur der GQ Russland, sagte der Fall habe die „Tiefen rachsüchtiger Rückständigkeit ... aus Russlands Boden hervorgeholt“. Tatsächlich hatte das Urteil die britische Bibel der linksliberalen Elite, den Guardian, so sehr erzürnt, dass er am Tag der Urteilsverkündung den neuen Song „Putin lights up the Fires“ von Pussy Riot auf seiner Website veröffentlichte. An anderer Stelle war ein Telegraph-Kolumnist damit beschäftigt, das Urteil der Pussy Riots mit dem Fall des Briten Peter Tatchell zu vergleichen, der im Jahr 1998 vor Gericht gestellt wurde, weil er den Erzbischof von Canterbury bei der Osterpredigt unterbrach. Er wurde zu einer Geldstrafe von 18.60£ verurteilt.

Russland, so scheint es, bietet mit Putins quasi-Absolutismus die perfekte Bühne für Kommentatoren, NGOs, Politiker und müde alte Popstars, ihre ach so liberalen Standpunkte zu demonstrieren. Nebenbei können sie auch noch die tollen Werte des Westens feiern, auch wenn diese nur in Form einer Geldstrafe von 18,60£ daherkommen. Ein Kolumnist sehnte sich schon fast nostalgisch nach der Zeit, als britische oder amerikanische Popkultur noch radikal war. „Im Westen“, schrieb er, „haben wir vergessen, dass die moderne Kultur einst Leute hervorgebracht hatte, die es als ihre Pflicht ansahen, Dinge anzuprangern, die auch in unseren Gesellschaften tief verankert waren. Sie wurden so zu Wegweisern für eine bessere Welt.“

Blasphemie im Westen

Und hier kommen wir zu einem Problem der westlichen, pseudo-liberalen Überheblichkeit Russland gegenüber. Deren Protagonisten scheinen nicht begreifen zu können, in welchem Ausmaß der Vorwurf der Blasphemie, für den Pussy Riot verurteilt wurden, gegenwärtig im Westen eine ganz andere, nämlich säkularisierte Form angenommen hat. Denn das ist ja der springende Punkt bei Vorwürfen wie dem der Blasphemie, Ketzerei, Irrlehre oder Dissidenz - ihre Inhalte ändern sich mit der Zeit. Also ja: in Großbritannien aber auch Deutschland zum Beispiel wurden eindeutige Blasphemie-Gesetze abgeschafft. Die Kirche ist nicht mehr maßgebend; Religion und Theologie sind in der Gesetzgebung heute nicht entscheidend. So kann man den Namen des Herrn verleugnen und Politiker in einer Kirche kritisieren. Aber auch wenn christliche Gedanken die Welt nicht mehr regieren, so tut es heute umso mehr eine sich liberal verkleidende Pseudo-Tugend. Die „tief verankerten Aspekte“ unserer Gesellschaft, die verändert werden müssen, sind nicht mehr die altmodischen religiösen Ideen, sondern es ist der zeitgenössische Irrsinn – von der dogmatischen Ökoideologie bis zum offiziellem und sinnentleerten „Anti-Rassismus“. Das Bekunden verquerer sozialdarwinistischer Überzeugungen, wie es kürzlich ein Dozent der Cambridge University tat – in Deutschland lässt der Fall Sarrazin grüßen -, führt heute nicht direkt in den Gulag, aber man kann sich der Antipathie eines Großteils der respektablen Presse sicher sein und läuft zudem Gefahr, seinen Job zu verlieren, wenn man auf seinem Recht auf freie Meinungsäußerung beharrt

Also ja, wer sich von „manchen Aspekten seiner westlichen Gesellschaften“ distanziert oder sie sogar verneint, fällt nicht gleich den drakonischen Sanktionen des Putinrussland zum Opfer – man muss das im Zusammenhang mit den schrillen Protesten gegen den Pussy Riot-Prozess eigentlich gar nicht extra erwähnen. Aber solche Häretiker werden im Westen mit einer subtileren, weniger schweren, aber nicht weniger einschränkenden Form von informeller Zensur bestraft. Und das meistens durch eben solche selbsternannten Progressiven.

In den vergangenen Jahren gab es unzählige Beispiele für diese „das darf man nicht sagen“ Mentalität, die so sehr das heutige Leben in westlichen Gesellschaften bestimmt. Ironischerweise ist eines der Dinge, die man heute in Westeuropa öffentlich nicht mehr äußern kann, ohne die sanfte Hand der „liberalen“ Zensur auf seiner Schulter zu spüren, das religiöse Dogma. Wie zum Beispiel als vor ein paar Jahren ein Hausbesitzer einem homosexuellen Paar aus religiösen Gründen den Zutritt zu seinem Haus verwehrte. Der Vorfall löste damals große öffentliche Empörung aus und sogar der damalige konservative britische Innenminister Chris Grayling verteidigte die Homosexuellen. Genauso auch der Fall des Londoner Bürgermeisters, Boris Johnson, der einer Gruppe durchgeknallter Christen-Fundis verbot, Plakate in der Stadt zu kleben, die die Möglichkeit auf Heilung durch Therapie und Religion für Homosexuelle bewarben.

Und gerade wenn es um Umweltschutz geht, ist Kritik oder Zweifel bei denen, die vergangene Woche mit Strumpfhosen und Sturmhauben zur Unterstützung von Pussy Riot gesehen wurden, nicht nur verpönt, nein, sie wird sogar als Zeichen geistiger Umnachtung gewertet – man befindet sich dann im Modus der Leugnung. Während früheren Kritikern der Kirche ein Bund mit dem Teufel vorgeworfen wurde, wird den Kritikern des grünen Dogmas der menschengemachten Erderwärmung heute ein Bündnis mit großen, bösen Konzernen vorgeworfen.

Was rechtgläubig ist, und somit auch, was blasphemisch ist, wird im Westen nicht mehr von der Kirche entschieden - es wird von eben diesen selbsternannten Freiheitsfreunden entschieden, die sich so lautstark für die Freilassung von Pussy Riot stark machen. Kein Wunder, dass sie ähnliche Blasphemie im Westen nicht sehen, geschweige denn etwas dagegen tun können und wollen. Nach wie vor kommen die allermeisten Häretiker auch noch ungestraft davon. Aber Vorsicht, dass man bloß nichts Falsches sagt! Denn die Zwangsjacke, in der die freie Meinungsäußerung heute steckt, wird enger. Auch im Westen sind manche Themen de facto heilig. Auch wenn ich nicht vorhabe, dumme oder rassistische Vorurteile zu unterstützen, finde ich diese „das darf man nicht sagen“ Stimmung mindestens genauso beleidigend. Schließlich deutet sie darauf hin, dass wir, also die dumme Masse, unfähig sind, Dinge zu hören, ohne entweder direkt und ohne Nachfrage danach zu handeln oder uns immer unglaublich darüber aufregen müssen.

Also: Wenn Pussy Riots Recht auf Meinungsfreiheit unsere Unterstützung verdient, dann verdienen das auch die Gegner der westlichen Rechtgläubigkeit - mögen es Skeptiker der gegenwärtigen Ökoideologie oder fromme, altmodischen Christen sein.

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