28.10.2013

Privatsphäre: Erst denken, dann twittern!

Von Brendan O’Neill

Auf Twitter verschwimmen die Grenze zwischen öffentlich und privat. Neben vielen Banalitäten twittern wir auch unsere dunkelsten Gedanken. Das schadet uns als Personen und der Demokratie. Ein Kommentar des Chefredakteurs des britischen Novo-Partnermagazins Spiked, Brendan O’Neill.

Ich bin ein großer Fan neuer Technologien. Mein I-Phone ist geradezu ein Teil von mir. Das I-Pad habe ich in zwei Versionen. Und mit Spotify habe ich jederzeit Zugriff auf Millionen von Musikstücken. Ich bin bei Facebook und sogar auf Instagram aktiv, der Foto-Austausch-Plattform für Hipster, obwohl ich keineswegs ein Hipster bin.

Aber mit einem der Technologie-Hypes des 21. Jahrhunderts will ich nichts zu tun haben: Twitter. Twittern finde ich furchtbar. Ich finde es gut, alle Musikalben der Welt und den Zugang zu einer unvorstellbaren Menge an Informationen jederzeit in meiner Tasche griffbereit zu haben. Aber einen Twitter-Zugang auf dem I-Phone, über den ich alles, was mir gerade durch den Kopf geht, in Form eines 140-Zeichen-Statements der Öffentlichkeit präsentieren kann, will ich nicht. Da habe ich gewissermaßen eine Twitter-Intoleranz.

Es gibt viele Gründe dafür, dass ich mich von Twitter fernhalte. Einerseits bin ich ohnehin zu beschäftigt. Aber mir missfällt auch die intolerante Twitter-Kultur, die mit ihrem Konsenszwang letztlich alle abweichenden Meinungen unterdrücken möchte.

Vor allem aber glaube ich nicht, dass ich meine innersten Gedanken laufend einem öffentlichen Publikum zugänglich machen kann, ohne mich dabei selbst zum Idioten zu machen. Ich meide Twitter, weil ich an dem Unterschied zwischen dem festhalten will, was ich denke – und was oft belanglos und unausgegoren ist –, und dem, was ich öffentlich sage, was hoffentlich keines von beidem und mitunter vielleicht sogar von allgemeinem Interesse ist.

Wegen meines hitzigen Temperaments sehe ich durchaus manchmal rot. Daher wäre es ein gravierender Fehler, wenn ich mich bei Twitter anmelden würde – potentiell die ganze Welt könnte dann die von mir in meiner Verärgerung spontan geäußerten Gedanken beäugen, obwohl ich deren Veröffentlichung vielleicht schon längst bereuen würde.

Aber nicht nur die Impulsiven unter uns haben alberne und unüberlegte Gedanken, sondern das gilt für alle Menschen. Jeder denkt gelegentlich wirres Zeug oder hat sich schon dabei ertappt, wie man sich in der Verärgerung über einen Vorgesetzten, eine Person des öffentlichen Lebens oder einen Freund in den Bart murmelt: „Ich werde diesen Arsch umbringen!“ Das Problem mit Twitter ist, dass es uns erlaubt – ja sogar dazu ermutigt – auch den albernsten und dunkelsten Gedanken in den Tiefen und Untiefen unseres Verstandes öffentlich Ausdruck zu verleihen.

„Heute geben wir den Anspruch auf Privatsphäre bereitwillig auf, indem wir unsere täglichen Gewohnheiten und Gedanken im Internet dem kritischen Blick Fremder aussetzen und so für die Öffentlichkeit durchsichtig machen.“

Die meisten Twitter-Skandale sind eine Folge dessen, dass die Menschen in der emotional aufgeladenen Twitter-Arena auch all das öffentlich aussprechen, was sie einst nur dachten. Meistens ist das durchaus unproblematisch. Es ist kein Weltuntergang, wenn man aus dem Gedanken: „Hmm, diese Pfannkuchen sind köstlich“ eine öffentliche Botschaft macht, auch wenn es durchaus etwas merkwürdig erscheint.

Aber da die Menschen nun mal auch finstere Gedanken haben, trägt Twitter zur Zerstörung der Trennlinie zwischen den persönlichen Gedanken und der öffentlichen Rede insofern bei, als auch jene öffentlich ausgesprochen werden: „Ich hasse dich.“ „Ich hau’ dir eine rein.“ „Ich bring’ dich um.“

Die Tatsache, dass man auf Personen oder Umstände spontan mit zornigen Gedanken reagiert, ist so alt wie die Menschheit selbst; aber heute ist das Besondere, dass wir uns durch das surrende kleine Gerät in unserer Hand aufgefordert fühlen, diese nichtigen und vorübergehenden Gedanken zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen.

Die Errichtung einer Trennlinie zwischen unserem öffentlichen und unserem privaten Leben war eine der großen Errungenschaften der modernen Demokratie. Der englische Jurist Edward Coke sagte bereits im 16. Jahrhundert: „Eines Mannes Haus ist seine Burg“, und im vierten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung ist festgehalten: „Das Recht des Volkes auf Sicherheit der Person, der Wohnung, der Urkunden und des Eigentums (…) darf nicht verletzt werden.“ Dem Individuum sollte ein rein privater Raum garantiert sein.

Heute geben wir diesen Anspruch bereitwillig auf, indem wir unser Privatleben, unsere täglichen Gewohnheiten und Gedanken im Internet dem kritischen Blick Fremder aussetzen und so für die Öffentlichkeit durchsichtig machen.

Ohne Privatsphäre kann der Mensch jedoch nicht frei und aufrichtig denken und daher auch seine Persönlichkeit nicht voll entwickeln. Wenn wir uns ständig nur selbst vor anderen darstellen wollen, verwirrt und hemmt uns das letztlich nur.

Natürlich ist Twitter nicht die einzige Ursache für den Verfall der Privatsphäre. Aber Twitter macht diesen Verfall besonders anschaulich. Vielleicht wird der nächste Twitter-Skandal ja durch die folgende Frage ausgelöst: Warum kann man heute nicht mehr einfach etwas denken, ohne es auch gleich ausplaudern zu müssen?

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