01.03.2009

Die westliche Internalisierung der Fatwa

Essay von Kenan Malik

Vor 20 Jahren verhängte Ayatollah Khomeini das Todesurteil gegen Salman Rushdie. Über den Multikulturalismus und die politische Feigheit des linksliberalen Lagers im Umgang mit der Rushdie-Affäre.

Als das Buch Die Satanischen Verse im September 1988 veröffentlicht wurde, dachte man, es würde die Welt in Brand setzen, wenn auch nicht auf die Weise, wie es dann tatsächlich geschah. Salman Rushdie war damals der vielleicht am meisten gefeierte britische Romanautor seiner Generation. Seinen Ruhm hatte er mit Mitternachtskinder begründet, dieser ausladenden, humorvollen epischen Satire auf das Indien nach der Unabhängigkeit, mit der er zuerst den Booker Prize 1981 und dann den Booker of Bookers als der bedeutendste aller Booker-Prize-Gewinner gewann. Zwei Jahre nach Midnight’s Children schilderte er in Scham und Schande die Geschichte Pakistans als ein satirisches Märchen. Schließlich folgten Die Satanischen Verse. Nach fünfjähriger Arbeit und einem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Vorschuss über 850.000 US-Dollar von seinem Verleger Penguin hatte der Roman etwas Geheimnisumwobenes, schon lange vor seiner Veröffentlichung. Aber die wirklichen Mythen um ihn vermehrten sich erst danach.

Binnen eines Monats waren Die Satanischen Verse in Rushdies Herkunftsland Indien verboten. Eine aufgebrachte Menge hatte ein Exemplar des Romans im englischen Bolton auf der Straße verbrannt. Am 14. Februar 1989 kam dann die entscheidende Wende – die Fatwa, das Todesurteil des Ayatollah Khomeini. Die Fatwa verwandelte den Fall Rushdie, ursprünglich eine Streitfrage, die weitgehend auf Großbritannien und den indischen Subkontinent beschränkt war, in einen globalen historischen Konflikt. Sie führte einen Streit über Blasphemie und Meinungsfreiheit hinüber in die Dimension des Terrors geopolitischen Ausmaßes. Für viele Beobachter entzündete sich diese Auseinandersetzung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Dabei gab es auch zahlreiche andere, insbesondere westliche Kommentatoren, denen das Bild des brennenden Buches und die Fatwa als Vorboten einer neuen Qualität von Konflikten in einer künftigen Welt galten. Von den Unruhen im Notting Hill der 50er-Jahre bis zu den Grunwick-Auseinandersetzungen 1977 und den innerstädtischen Krawallen der 80er-Jahre waren Schwarze und Asiaten in Großbritannien oft in herbe Konflikte mit den britischen Autoritäten verwickelt. Doch waren dies hauptsächlich politische Konflikte oder aber solche, die die öffentliche Ordnung betrafen: Auseinandersetzungen wegen gewerkschaftlicher Organisation, wegen Diskriminierung oder wegen polizeilicher Schikanen waren schon vor der Massenimmigration bekannt. Der Fall Rushdie schien anders gelagert zu sein. Dies war der erste kulturelle Konflikt größeren Ausmaßes, ein Konflikt, wie man ihn in Großbritannien vorher nie gekannt hatte. Die Wut der Muslime schien nicht von Schikane, Diskriminierung oder Armut genährt zu sein, sondern von einem Gefühl des Verletztseins, das Rushdie in ihrem Innersten ausgelöst hatte. 20 Jahre später erscheint die Rushdie-Affäre noch immer wie ein Konflikt aus einem anderen Zeitalter – dies jedoch aus einem ganz anderen Grund. Die Themen, die er an die Öffentlichkeit spülte – das Wesen des Islam, seine Beziehung zum Westen; die Bedeutung des Multikulturalismus; die Grenzen der Toleranz in einer liberalen Gesellschaft sowie die Meinungs- und Redefreiheit in einer pluralistischen Welt –, sind zur Definitionsfrage unseres Zeitalters geworden. So ist es nun die Politik der Zeit vor Rushdie, die ungewöhnlich erscheint.

Wir haben weitgehend akzeptiert, dass wir in einer multikulturellen Welt leben und dass es in dieser Welt wichtig ist, andere Völker und Kulturen nicht zu beleidigen. Der Soziologe Tariy Modood hat dies so formuliert: „Wenn Menschen denselben politischen Raum für sich beanspruchen und Konflikte vermeiden wollen, müssen sie das Ausmaß, in dem sie die fundamentalen Überzeugungen der anderen der Kritik unterziehen, beschränken.“ Kurz vor der Veröffentlichung der Satanischen Verse sagte Rushdie einem Journalisten, dass der Gedanke absurd sei, ein Buch könne Unruhen auslösen. Dies sei eine eigenartige Weltsicht. Heute jedoch müssen wir eingestehen, dass Bücher sehr wohl Unruhen auslösen können, und deswegen müssen wir sehr darauf achten, welche Bücher wir schreiben, welche Karikaturen wir veröffentlichen, welche Witze wir erzählen oder welche Kunst wir produzieren. Um zu sehen, wie sehr sich die geistige Landschaft in den letzten 20 Jahren verändert hat, müssen wir lediglich die Reaktionen auf Die Satanischen Verse mit denen auf Aisha. Das Juwel von Medina, der luftigen, romantischen Geschichte von Sherry Jones über Aisha, die jüngste Frau Mohammeds, vergleichen. Das amerikanische Verlagshaus Random hatte dieses Werk für eine Vorabsumme von 100.000 US-Dollar gekauft. Denis Spellberg, außerordentlicher Professor für Islamgeschichte an der Universität von Texas, dem man das Buch vorlegte in der Hoffnung, seine Unterstützung zu finden, verurteilte es jedoch als „anstößig“. Random House nahm es sofort aus dem Programm. Und auch kein anderes amerikanisches Verlagshaus wollte es danach veröffentlichen.

Ayatollah Khomeinis Todesurteil konnte die Veröffentlichung der Satanischen Verse nicht aufhalten. Rushdie war fast ein Jahrzehnt gezwungen, sich zu verstecken. Übersetzer und Verleger wurden umgebracht und Buchläden angegriffen, und die Angestellten von Penguin mussten schusssichere Westen tragen. Doch zog Penguin zu keinem Zeitpunkt seine Entschlossenheit in Zweifel, das Buch zu veröffentlichen. Heute geht ein Verleger schon wegen eines Briefes eines aufgebrachten Wissenschaftlers in Deckung. In den 20 Jahren seit der Veröffentlichung der Satanischen Verse und der Zurücknahme des Juwels von Medina wurde die Fatwa im Western de facto internalisiert. Die Veränderungen in der politischen und kulturellen Landschaft haben ihre eigenen Mythen bezüglich der Rushdie-Affäre hervorgebracht. Es lohnt sich, die Angelegenheit erneut unter die Lupe zu nehmen, da diese Mythen jetzt unsere Haltung gegenüber Meinungs- und Redefreiheit, Multikulturalismus und dem radikalen Islam prägen.

Der erste Mythos ist, dass die Kontroverse über Rushies Roman religiös motiviert war. Dies ist eine Fehlinterpretation, denn der Konflikt war tatsächlich politischer Natur. Die Satanischen Verse wurden deswegen in Indien thematisiert, weil zwei Monate nach ihrer Veröffentlichung 1988 eine Wahl anstand. Die Hardliner unter den Islamisten instrumentalisierten Rushdies Buch, um politische Zugeständnisse zu erreichen. In der Folge wurde es in Großbritannien zum Problem, nachdem es als Waffe in der Auseinandersetzung zerstrittener Gruppen innerhalb der Islamisten fungierte. Noch bedeutsamer war der Kampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran um die Vorherrschaft in der islamischen Welt. Seit den 70er-Jahren finanziert Saudi Arabien mit Ölgeldern die Salafi-Organisationen und baut weltweit Moscheen, um seine Position als Sprachrohr für den Ummah dauerhaft zu festigen. Es folgte die iranische Revolution von 1979, die den Schah stürzte, eine islamische Republik etablierte, Teheran zur Hauptstadt des muslimischen Radikalismus und Ayatollah Khomeini zu dessen spirituellem Führer machte und somit die Position Riads herausforderte. Die Rushdie-Affäre wurde zu einem Schlüsselproblem der Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Die Saudis gründeten das UK Action Committee on Islamic Affairs (Aktionskomitee des Vereinigten Königsreichs für Islamische Angelegenheiten), die führende Anti-Rushdie-Vereinigung in Großbritannien. Saudi-Arabien stellte das Geld zur Verfügung, einer der beiden weiteren Vorsitzenden war ein saudischer Diplomat. Der andere war Iqbal Sacranie, der später der erste Generalsekretär des 1997 gegründeten Muslimischen Rates Großbritanniens wurde. Sacranie war es, der kurz nach der Verkündigung der Fatwa über Rushdie sagte, dass „der Tod ein zu gnädiges Urteil für ihn“ sei. Die Fatwa war der Versuch des Iran, den Saudis die politische Initiative zu entreißen, zu einem Zeitpunkt, als der Iran durch seinen Rückzug aus dem Krieg mit dem Irak einen Gesichtsverlust erlitt und politische Reformer in Teheran die Oberhand gewannen.

Der zweite Mythos besagt, dass sich alle Muslime von den Satanischen Versen beleidigt fühlten. Tatsächlich waren die meisten Muslime nur geringfügig davon berührt. Bis zur Verkündigung der Fatwa beschränkten sich die Aktionen gegen die Satanischen Verse hauptsächlich auf den indischen Subkontinent und auf Großbritannien. Abgesehen von der Beteiligung Saudi-Arabiens gab es wenig Begeisterung für Aktionen gegen den Roman – weder in der arabischen Welt oder in der Türkei noch in muslimischen Kreisen in Frankreich oder Deutschland. Auch als Saudi-Arabien Ende 1988 ein Verbot des Romans in muslimischen Ländern weltweit durchsetzen wollte, gab es außer in Südafrika und Malaysia nur wenig Resonanz. Selbst im Iran konnte man das Buch öffentlich kaufen, und viele Zeitungen veröffentlichten sogar Rezensionen. Heute bedeutet „radikal“ im islamischen Kontext „religiös fundamentalistisch“. Vor 20 Jahren bedeutete es das Gegenteil: militant säkular. Organisationen wie das Asian Youth Movement erhielten in Großbritannien erhebliche Unterstützung, da sie sowohl dem Rassismus als auch dem Einfluss der Moscheen entgegentraten. Für viele säkulare Muslime war Rushdie ein Held und keineswegs ein Schurke, da er als Galionsfigur sowohl gegen den Rassismus als auch gegen den Klerikalismus galt.

Der dritte Mythos liegt darin, die Anti-Rushdie-Fanatiker als mittelalte, schlecht ausgebildete, wenig integrierte und blindwütige Männer einzustufen – vergleichbar mit der heutigen Vorstellung islamistischer Terroristen. Viele entsprachen tatsächlich diesem Bild. Aber ebenso waren viele von ihnen jung, politisch links ausgerichtet, eloquent, gut ausgebildet und sozial integriert. Nur wenige von ihnen waren religiös, geschweige denn fundamentalistisch. Viele waren Mitglieder des Asian Youth Movement, andere waren Mitglieder in linksgerichteten Organisationen, und viele von ihnen sahen Rushdie anfangs als einen wichtigen Mitstreiter. Warum, so fragt man sich, wurden diese Menschen von der Anti-Rushdie-Kampagne mitgerissen? Es war die Desillusionierung durch die säkulare Linke auf der einen, die Institutionalisierung der multikulturellen Politik auf der anderen Seite. Das Auseinanderdriften der Linken in den 80er-Jahren, die Verabschiedung von einer Politik des Universalismus zugunsten eines ethnischen Partikularismus, der Wechsel von einer Politik der Ideologie hin zu einer Politik der Identität trieb viele junge säkulare Asiaten in den Islamismus als eine alternative Weltsicht. Diesen Prozess beschleunigte der Multikulturalismus in seiner politischen Umsetzung.

Jede Gruppe der an Kulturen und Nationalitäten vielfältigen englischen Stadt Bradford, so eine Erklärung der Stadtväter, hat das „gleiche Recht, ihre eigene Identität, Kultur, Sprache, Religion und ihre eigenen Bräuche“ zu pflegen. Eine so geartete multikulturelle Politik ermutigte das Anwachsen eines fragmentierten Identitätsbewusstseins. Gleichzeitig wandten sich Politiker, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene, angesichts der Konfrontation mit säkularer Militanz auf den Straßen nicht selten an religiöse Führer in der Hoffnung, diese würden als konservative Bollwerke fungieren. Der Bradford Council of Mosques (Bradfords Rat der Moscheen) etwa, der die berühmt gewordene Demonstration im Januar 1989 organisierte, in deren Verlauf ein Exemplar der Satanischen Verse verbrannt wurde, war von der Verwaltung Bradfords als Sprachrohr für die muslimischen Gemeinden der Region gegründet worden. Diese Verbindungsstelle zwischen der örtlichen Verwaltung und den Moscheen verlieh der konservativen religiösen Führung mehr Glaubwürdigkeit innerhalb dieser Gemeinden und marginalisierte die säkular ausgerichteten Bewegungen. Säkulare Muslime sah man in der Folge als Verräter ihrer Kultur (sie gehörten der „weißen Linken“ an), während der radikale Islam nicht nur an Akzeptanz, sondern für viele auch an Authentizität gewann.

Die Politik des Multikulturalismus hat den radikalen Islam nicht geschaffen, verhalf ihm aber, Freiraum in den muslimischen Gemeinden zu gewinnen, wie er vor den späten 80er-Jahren nicht existierte. Antirassistischer Protest ging in den 80er-Jahren von politischen Fragen wie polizeiliche Überwachung und Einwanderung über in religiöse und kulturelle Themen: die Forderung nach muslimischen Schulen, nach getrennter Erziehung für Mädchen, einer Kampagne für Halal-Fleisch in den Schulen und – höchst explosiv – die politische Konfrontation wegen der Satanischen Verse. Der Anti-Rushdie-Protest kam also nicht überraschend: Er war Ausdruck der sich verändernden sozialen und politischen Landschaft innerhalb der westlichen Gesellschaften der 80er-Jahre und trug zu ihrer Veränderung bei. Vor 20 Jahren noch verteidigten die meisten linksliberal eingestellten Menschen das Recht Rushdies, die Satanischen Verse trotz der auf muslimischer Seite empfundenen Beleidigung zu veröffentlichen. Heute jedoch argumentieren viele, dass man auf religiöse und kulturelle Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen müsse, da solche Empfindlichkeiten sehr tief lägen. Die Vermeidung „kultureller Erniedrigung“ wird heute vielfach höher eingestuft als das abstrakte Recht auf Meinungs- und Redefreiheit.

Ein derartiges politisches Vorgehen erzeugt jedoch genau die Probleme, auf die es angeblich eine Antwort sein will. Man erinnere sich an den Aufruhr wegen des Buches Aisha. Der Juwel der Medina. Kein einziger Muslim trat gegen dieses Buch auf, bevor Random House es aus dem Programm nahm. Es ist durchaus möglich, dass niemand die Verleger zu dieser Maßnahme veranlasst hätte. Aber nachdem Random House die Anstößigkeit dieses Buches zum Thema gemacht hatte, ließ es sich nicht mehr vermeiden, dass sich zumindest einige Muslime beleidigt fühlten. Nachdem das Verlagshaus das Buch aus dem Programm genommen hatte, griff es ein kleiner unabhängiger Verleger in Großbritannien auf: Gibson Square, dessen Direktor Martin Rynja ein hartnäckiger Vertreter der Meinungsfreiheit ist. Am 26. September 2008 – genau 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Satanischen Verse – wurden die Büroräume von Gibson Square in in Brand gesteckt. Ob es auch zu diesem Brandanschlag gekommen wäre, wenn Random House das Buch ohne größeres Aufsehen veröffentlicht hätte, ist schwer zu sagen. Es wird immer einzelne Extremisten geben, und wir können wenig dagegen tun. Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass ihnen Linksliberale eine fadenscheinige Legitimität verleihen.

Die Lektion, die die Vertreter des linksliberalen und grünen Spektrums aus dem Rushdie-Skandal schlichtweg nicht gelernt haben, lautet, dass sie selbst ihre eigenen Monster hervorgebracht haben. Es ist ihre Angst, man könnte Anstoß erregen, die zu einer Kultur beigetragen hat, in der Menschen verlernen, mit Kritik und abweichenden Meinungen umzugehen. Es gibt in den Satanischen Versen eine Szene, in der eine der Figuren, Saladin Chamcha, sich plötzlich in einem Auffanglager für Immigranten befindet. Alle Insassen sind in Monster verwandelt – Löwen mit Menschenköpfen und Wasserbüffel. „Wie hat man dies angestellt?“, will Saladin wissen. „Sie beschreiben uns einfach“, lautet die Antwort, „das ist alles. Sie haben die Macht der genauen Beschreibung, und wir unterwerfen uns den Bildern, die sie von uns entwerfen.“ Rushdie thematisierte die Wucht des Rassismus. Er hätte jedoch auch über die Antwort auf die Rushdie-Affäre schreiben können. Indem die alten Linken akzeptierten, dass die feindliche Ablehnung der Satanischen Verse etwas mit Theologie zu tun habe, dass sich alle Muslime von dem Roman beleidigt fühlten und dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Meinungsfreiheit notwendigerweise eingeschränkt werden müsse, haben sie eine Beschwerde- und Grollkultur mit aufgebaut, in der Empörung zum Markenzeichen der eigenen Identität geworden ist. Die Mythen des Rushdie-Skandals haben viele der Monster erst geschaffen, vor denen sich die westliche Welt heute fürchtet. Wenn wir diese Monster vernichten wollen, müssen wir von diesen Mythen Abschied nehmen.

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