01.03.2009

Kreditdoping für die blutarme Realwirtschaft

Essay von Alexander Horn

Über die Hintergründe der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Das Markenzeichen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Orientierungslosigkeit der Politik wie auch der Wirtschaftsexperten. Die Überforderung des Parlaments zeigt sich in den sich täglich überschlagenden Schreckensmeldungen. Trotz billionenschwerer Eingriffe ist es bisher nicht gelungen, die Lage zu beruhigen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Politik vonseiten der Wirtschaftsexperten offenbar keine nennenswerte Unterstützung erfährt. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) gab kürzlich zum Besten, dass er vor allem auf sich selbst und seinen „eigenen Kompass“ gestellt sei: „Die Wirtschaftswissenschaftler haben keine verlässlichen Empfehlungen für uns.“1 Ausdruck der Hilf- und Verantwortungslosigkeit der Wirtschaftsforscher war auch der Vorschlag des DIW-Chefs Klaus Zimmermann, vorläufig auf Wirtschaftsprognosen ganz zu verzichten, da dies nur zusätzliche Verwirrung stifte und bei düsteren Prognosen die Gefahr sich selbst erfüllender Prophezeiungen bestehe.2

In Anbetracht solcher und anderer Verlautbarungen ist es kein Wunder, dass sich die Kritik an der Zunft der Wirtschaftsforscher in den letzen Wochen deutlich verschärft hat. Joachim Starbatty, inzwischen emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, wirft ihnen „Versagen“ vor: „Ökonomen nehmen immer weniger wahr, was um sie herum vorgeht. Sie reduzieren ökonomische Realität auf statistische Zeitreihen. Diese können uns helfen zu erklären, was passiert ist, nicht aber zu erkennen, was sich zusammenbraut“.3 Ähnlich sieht es FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert. Er meint, dass die in Deutschland einst bedeutende „ältere ordnungsökonomische Schule, … die nach Zusammenhängen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fragte“, zugunsten einer mathematisch ausgerichteten Disziplin an den Rand gedrängt wurde und es ihr entsprechend schwer falle, in der aktuellen Krise Orientierung zu geben.4

Einen bedeutenden Schritt weiter geht der britische Soziologe Frank Furedi. Seiner Auffassung nach beschränkt sich die intellektuelle Krise nicht nur auf die Politik- und Wirtschaftswissenschaft, wo sie allerdings besonders offen zutage trete. Der Gesellschaft fehle insgesamt ein Bedeutungsrahmen, der es ermögliche, Ursachen und Wirkungen zu unterscheiden. Die Folge seien Fatalismus und Passivität bei den Menschen.5 Als man, offenbar völlig überrascht von der auch über Deutschland hereinbrechenden Finanzkrise, hierzulande Ende letzten Jahres nach den Ursachen suchte, waren es vor allem Finanzminister Steinbrück (SPD) und Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU), die das Thema „Gier“ auf die Tagesordnung hoben.6 Schon seit Jahren zieht man in der Politik gern über die Verantwortungslosigkeit der weltweiten Managereliten her. Bonuszahlungen wurden so zum allseits verteufelten „Krebsgeschwür des Finanzsystems“. Diese Art Krisenanalyse kommt der Politik entgegen, denn sie gestattet ihr, die Hände in Unschuld zu waschen und sich dann obendrein als Retter in der Not zu profilieren. Dass man für die vorgeschlagene Reparatur des angeschlagenen Wirtschaftsstandorts mehr als gigantische 2000 Milliarden Euro Steuergelder verteilen will, ohne zu wissen, ob das wirklich Abhilfe schafft, lässt sich dann als unumgängliche Reaktion auf das Versagen der Banker schönreden.

Natürlich mag es sein, dass Bankmanager unverantwortliche Risiken eingegangen sind. Das wäre jedoch sachlich zu erörtern. Fakt ist aber zunächst einmal, dass Banken immer dem systemischen Risiko ausgesetzt sind, in Zahlungsunfähigkeit zu geraten. Nur ein geringer Teil der von ihnen vergebenen Kredite ist durch Eigenkapital gedeckt. Deshalb ist die Risikokontrolle in allen Geschäftsfeldern für Banken überlebenswichtig. Generell gehen Banken nur in dem Maße hohe Risiken ein, wie sie diese an anderer Stelle wieder ausgleichen können, um ihr gesamtes Eigenkapital nicht unzulässig zu gefährden. Dazu dient unter anderem die im Kontext der Finanzkrise arg unter Beschuss geratene Verbriefung von Krediten. Sie macht Risiken handelbar (d.h. gestattet, sie weiterzuverkaufen) und ist daher eher ein Beispiel für Risikoscheu als Risikofreude im Bankengeschäft. Durch die Bündelung verschiedener Kreditrisiken mit weltweiter Verkaufsoption wird das Kreditrisiko, das ursprünglich einige wenige Banken tragen (z.B. Banken, die am US-Hypothekenmarkt aktiv sind), global diversifiziert. Jeder Halter verbriefter Kredite trägt nur noch ein geringes Teilrisiko des gesamten Markts.

Diese gängige Praxis funktionierte aber nur, solange nicht ersichtlich war, dass die Bonität der Schuldner zumindest für einen inzwischen stagnierenden Immobilienmarkt völlig inkorrekt bewertet war. Deshalb entsprachen die verbrieften Zertifikate nicht mehr den zugrunde liegenden Werten. Der Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, meinte dazu, das entscheidende Problem bei verbrieften Produkten liege darin, dass „mit deren Bewertung selbst Fachleute überfordert sind. Fast nie können die Käufer die tatsächliche Rückzahlungswahrscheinlichkeit richtig einschätzen. Nur die Verkäufer, die die verbrieften Pakete zusammenstellen, wissen in etwa, was sie verkaufen.“7 Das Verlangen aller Markteilnehmer nach Risikostreuung und Diversifikation hat also offenbar seine Tücken. Insofern ist den Banken statt Gier und Risikofreude eher ein gutes Stück Ignoranz, Gutgläubigkeit und womöglich sogar naives Vertrauen gegenüber Rating-Agenturen und dem hauseigenen Risiko-Controlling vorzuwerfen. Offenbar dachte man, solange die Risiko-Abteilung, in deren IT-Systeme man Millionen investiert hatte, formal zu funktionieren schien, könne nichts schiefgehen. Schlimmstenfalls konnte man die Hände in Unschuld waschen und die Hausexperten wegen falscher Prognosen zur Rechenschaft ziehen. In diese Richtung zielt die Kritik von Hans-Werner Sinn, der meint, dass die „teuren Value-at-Risk-Modelle … genauso wenig taugen wie die Ratings der Agenturen“. Darüber hinaus wirft er den Banken zu Recht vor, eine Betrachtung der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge hätte schon früh gezeigt, „welcher Schrott hier verkauft wurde“.8

Die gängigen Erklärungsansätze für die Finanz- und Wirtschaftskrise sind ein Beleg für den eklatanten Mangel an intellektuell fundiertem sozial- und wirtschaftstheoretischem Sachverstand. Statt die Krise als gesellschaftlichen Prozess zu begreifen, personalisiert man ihn im Bild des „gierigen Bankers“. Damit untergräbt man auch das Vertrauen, das Blatt wieder zum Besseren wenden zu können. Die moderne Zivilisation beruht auf dem Antrieb der Individuen, ihre eigenen Lebensumstände und den Zustand des Gemeinwesens kontinuierlich zu verbessern. Diese positive Haltung wird durch die vorherrschende Kriseninterpretation, die generell ein negatives Bild menschlicher Motive und Fähigkeiten vermittelt, diskreditiert. Dabei hebt man nicht nur auf vermeintliche Exzesse bei den Bankern ab. Auch die „Gier“ der kleinen Leute, die im Zuge der Immobilienblase in den USA oder Großbritannien ihren Traum vom Eigenheim realisieren wollten und auf Wertsteigerungen am Markt spekulierten, wird verteufelt. Prägend für die derzeitige Krisendiskussion ist daher eine antihumanistische Grundstimmung. Kaum einer erwartet kluges oder verantwortungsvolles Handeln von Bankern und Bürgern. Und auf genau diese fatalistische Sicht der Menschen stützt sich die staatliche Regulierung. Sie zielt nicht etwa darauf ab, einen vernünftigen Ordnungsrahmen für wirtschaftliche Prozesse zu etablieren, sondern die Freiräume für das als toxisch desavouierte individuelle Handeln weiter einzuschränken.

Der technische Ablauf der Finanz- und Wirtschaftskrise ist relativ unumstritten. Die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank und die politisch geförderte Kreditausweitung durch die staatlichen Immobilienfinanzierer Freddie Mac und Fannie Mae haben nach einhelliger Meinung der Experten zum Entstehen der Immobilienblase geführt. Allerdings ist fraglich, ob eine Anhebung des Zinssatzes durch die US-Notenbank das gewünschte Ergebnis gebracht hätte, denn dank der reichlich verfügbaren Liquidität auf den internationalen Kapitalmärkten lagen die langfristigen Zinsen ohnehin stabil auf sehr niedrigem Niveau. Dessen ungeachtet führte die Ausweitung der Kreditvolumen auf in zunehmendem Maße auch weniger finanzkräftige Haushalte zu einem kontinuierlichen Anstieg der Immobilienpreise. Die Immobilienbesitzer wurden durch die steigenden Werte ihrer Immobilie „reicher“ und konnten dann aufgrund ihres gestiegenen Vermögens weitere Kredite aufnehmen und zusätzlichen Konsum finanzieren. Selbst Alan Greenspan, gefeierter „Maestro“ der Finanzmärkte, der die US-Notenbank über einen Zeitraum von 18 Jahren bis zum Januar 2006 führte, musste inzwischen zugeben, „einen Fehler“ gemacht zu haben, lehnte allerdings dennoch die Verantwortung für die Krise ab. In einer Anhörung des US-Kongresses ließ er durchblicken, sein Glaube an die Deregulierung der Finanzmärkte sei erschüttert, denn er habe den Märkten anscheinend zu viel zugetraut: „Diejenigen unter uns, die auf das Eigeninteresse der Kreditinstitute vertraut haben, das Vermögen ihrer Aktionäre zu schützen, befinden sich, wie auch ich, im Zustand ungläubiger Fassungslosigkeit.“9 Mit der Verbriefung der an amerikanische Konsumenten vergebenen Kredite wurde zweifelsohne eine gewaltige Spirale in Gang gesetzt. Deren Kern war die Unterbewertung der Risiken – wovor Greenspan erstmals 2005 ausdrücklich warnte – und deren weltweite Streuung.10 Das Geschäftsmodell war für alle Beteiligten solange profitabel, wie die Immobilienpreise weiter stiegen, die Zinsen niedrig blieben und an der Kreditwürdigkeit der auf immer wertvolleren Immobilien sitzenden amerikanischen Konsumenten keine Zweifel aufkamen. Als die ersten Kreditausfälle offenkundig wurden, setzte sich die Bewertungsspirale in umgekehrter Richtung mit den bekannten Konsequenzen fort.

Über die hier skizzierte technische Beschreibung des Krisenverlaufs kommen leider nur wenige Analysten hinaus. Dabei ist es essenziell, die Zusammenhänge zwischen der Finanz- und der nun massiv drohenden globalen Wirtschaftskrise zu beleuchten und herauszuarbeiten, wie sich die Real- und die Finanzwirtschaft in den letzten Jahren gegenseitig beeinflusst haben. Einen ersten wichtigen Hinweis liefert die Tatsache, dass die Kreditexpansion in den USA seit 2001 vor allem dazu diente, die Auswirkungen des Platzens der „New-Economy-Blase“ abzumildern und die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Der private Konsum, der in den USA mittlerweile etwa 70 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung nachfragt, wurde erfolgreich gestärkt und ein Abgleiten in die Rezession verhindert. Die eingeleiteten Maßnahmen hatten auch einen belebenden Effekt auf die gesamte Weltwirtschaft. Die Ausweitung von Krediten vornehmlich an Privathaushalte ist in den entwickelten Volkswirtschaften allerdings keineswegs nur eine Erscheinung der letzten Jahre. Bereits seit Mitte der 80er-Jahre ist die Sparquote der privaten Haushalte in den USA (das ist der Anteil der Ersparnisse am verfügbaren Haushaltseinkommen) von knapp zwölf Prozent auf inzwischen null gesunken. In Japan expandierte zeitgleich mit dem Rückgang der privaten Sparquote die Kreditaufnahme des Staates so stark, dass die Staatsverschuldung seit 1990 von 60 Prozent des BIP auf inzwischen 180 Prozent anstieg. Der gleiche Trend ist in den wichtigsten entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten, wobei nur Deutschland eine Ausnahme bildet (s. Abb.1). Die geringe Sparneigung der Amerikaner hat die private Nachfrage kontinuierlich belebt und ein vom starken Import getriebenes Leistungsbilanzdefizit angehäuft. Alleine die Kreditkartenschulden der Amerikaner belaufen sich derzeit auf rund 970 Mrd. US-Dollar. Sie machen inzwischen neun Prozent des Jahreseinkommens der amerikanischen Haushalte aus.11 Das Leistungsbilanzdefizit der USA lag bereits vor der Wirtschafts- und Finanzkrise mit jährlich knapp 800 Mrd. US-Dollar bei sechs Prozent des BIP.12 Schon diese Zahlen lassen vermuten, dass die Kreditausweitung die Weltkonjunktur maßgeblich gestützt hat. Diesen Mechanismus hat das Ende der US-Immobilienblase aus den Angeln gehoben, sodass die von den USA ausgehende Abwärtsspirale nun die gesamte Weltkonjunktur erfasst. Die Aufrechterhaltung des alten Systems oder gar eine weitere Kreditexpansion sind in der gegenwärtigen Situation undenkbar. Und es ist völlig unklar, wie die aktuellen Gegenmaßnahmen der Politik Abhilfe schaffen sollen.

Das Dilemma wird deutlich, wenn man die amerikanischen, britischen und spanischen Automobilmärkte betrachtet, von denen bereits 2007 negative Konjunktursignale ausgingen. Seit einigen Monaten greifen vor allem die USA und Großbritannien massiv in den Kreditmarkt ein, um das marode Kreditgeschäft und die Konsumentennachfrage in Schwung zu halten. Die Banken haben dabei zunehmende Abschreibungen zu verkraften und verschärfen zum eigenen Schutz die Kreditkonditionen. Die anvisierte Kreditausweitung wäre weniger problematisch, würde sie zur Steigerung der Wertschöpfung eingesetzt – also für die Investition in verbesserte Herstellungsverfahren und Produktionsanlagen. In den USA wie in allen entwickelten Volkswirtschaften ist jedoch zu beobachten, dass das Bruttoanlagevermögen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) kontinuierlich rückläufig ist (s. Abb.2). Im gleichen Zuge schrumpft ebenfalls der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP massiv (s. Abb.3). Dies verdeutlicht das grundlegende Problem, dem die westlichen Ökonomien gegenüberstehen: Trotz massiver Konjunkturstimuli, die sich aus der kreditgetriebenen Nachfrage und Steigerung der Papiervermögen ergaben, ist es weder den USA noch anderen entwickelten Volkswirtschaften gelungen, das seit Anfang der 70er-Jahre permanent sinkende Wirtschaftswachstum wieder in Schwung zu bringen. Im Gegenteil: Die Wachstumsraten des BIP sind kontinuierlich rückläufig (s. Abb.4 und 5). In den USA ist das jährliche Wirtschaftswachstum von 4,69 Prozent in den 40er-Jahren kontinuierlich auf 2,84 Prozent in den 90er-Jahren zurückgegangen.

Die gängige Vorstellung, wonach die gegenwärtige Krise eine mehr oder weniger direkte Folge der Immobilien- und Kreditblase ist, kommt daher einer Verwechselung von Ursache und Wirkung gleich. Erst im Zuge des nachlassenden Wirtschaftwachstums seit den 70er-Jahren hat sich die heute so enorme Bedeutung der Finanzmärkte herausgebildet. Die Finanzwirtschaft macht deshalb heute einen wesentlich höheren Anteil an der Wertschöpfung aus und ist international viel enger verflochten als früher. Die Unternehmen haben zu dieser Entwicklung selbst entscheidend beigetragen, da sie immer weniger in die Ausweitung und Verbesserung ihrer Produktion investierten – weil ihnen das nicht profitabel genug oder zu riskant erschien. Dieser Trend hat sich inzwischen deutlich verstärkt. Unternehmen schwimmen in liquiden Mitteln, schütten Rekorddividenden an die Anteilseigner aus und pumpen ihre Gewinne in Aktienrückkaufprogramme, statt den Unternehmenswert durch selbst generiertes Wachstum zu vergrößern. Dadurch wird das Finanzsystem immer weiter aufgeblasen. Die Folge ist ein inzwischen als „blutarm“ bezeichneter Kapitalismus. Er zeichnet sich durch immer weniger ausgeprägte Konjunkturzyklen und in diesem Sinne größere Stabilität aus. Doch eben deshalb fehlt weitgehend die krisenhafte Bereinigung des Kapitalstocks. Dies geht eindeutig zulasten des langfristigen Wirtschaftswachstums und damit zulasten des gesellschaftlichen Reichtums.

Rückblickend kann man festhalten, dass das kreditgetriebene Wachstum der letzten Jahrzehnte eine mittelfristig durchaus erfolgreiche Krisenbewältigungsstrategie der Marktwirtschaft war. Schließlich ist es gelungen, die realwirtschaftliche Schwäche vieler entwickelter Volkswirtschaften zu kompensieren. Überaus deutlich zeigt sich dies an Großbritannien, das seine Produktionsbasen seit Anfang der 80er-Jahre massiv abbaute und nur dank der Finanzgeschäfte Londons einigermaßen florierte. Dieses System ist nun an die Wand gefahren. Es wäre jedoch zu kurzsichtig, die Ursache für die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise im vorläufigen Zusammenbruch der kreditgetriebenen Wirtschaftspolitik zu sehen. Das wesentlich tiefer liegende Problem (und das unterscheidet viele westliche Volkswirtschaften von den neuen Aufsteigerstaaten in Asien, Osteuropa und Südamerika) ist das stark gedrosselte Wachstum der Realwirtschaft, die sich nur dank des „Dopings“ mittels massiver Kreditexpansion einigermaßen behaupten konnte. Zumindest in den angelsächsischen Ländern konnte damit über viele Jahre die Illusion einer prosperierenden Wirtschaft genährt werden.

Die Unterschätzung der Schwäche der Realwirtschaft und das damit einhergehende Unvermögen, grundlegende volkswirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, führt im Zuge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise unweigerlich zu immer neuen Fehlgriffen im Krisenmanagement. Anfangs hieß es, es handele sich um eine überschaubare Krise des Finanzsystems. Durch eine schnelle Stabilisierung der Banken und der Kreditvergabe sollte das Übergreifen der Finanzkrise auf die „Realwirtschaft“ vermieden werden. Das konnte nicht funktionieren, weil das Verständnis dafür fehlte, welche enorme volkswirtschaftliche Bedeutung das Finanzsystem in den letzten Jahrzehnten erlangt hat. Es ist sehr eng mit der Realwirtschaft verwoben, oder anders formuliert: Die „blutarme Realwirtschaft“ ist stark abhängig von einem prosperierenden Finanzsystem. Nachdem die ersten Milliarden wirkungslos verpufft waren, wurde die Forderung nach Konjunkturprogrammen laut. Doch diese wurden auf internationaler Ebene nicht richtig koordiniert und überall mit „heißer Nadel“ gestrickt, um das Schlimmste zu verhindern und gegenüber dem verunsicherten Bürger symbolisch Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. In den USA schickt man sich an, die längst kriselnde Autoindustrie weiter zu stabilisieren, hierzulande werden marode Turnhallen saniert und fragwürdige Energiesparmaßnahmen finanziert. All das ändert nicht das Geringste an den strukturellen Schwächen dieser oder jener Volkswirtschaften oder ihren Wirtschaftsräumen. Selbst die Politik scheint das, wenn auch unscharf, zu erkennen. Jedenfalls weiß längst keiner mehr, was nun hauptsächlich stabilisiert werden soll. Sind es die Banken, die Automobilwirtschaft, die Kunden von Airbus, Privatunternehmer, die sich übernommen haben, oder Konsumenten, die den Konsum verweigern? Es ist höchste Zeit, über die Realwirtschaft genauer nachzudenken – und zwar mit ökonomisch fundierten Begriffen. Nötig wäre statt kontraproduktiver Flickschusterei zunächst eine gründliche Diskussion über die realen Wirtschaftsstrukturen in einzelnen Ländern und in Regionen wie dem EU-Raum. Dann könnte es vielleicht auch gelingen, die Weichen neu zu stellen und zwar zukunftsweisend auf weiteres Wachstum.

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