01.03.2009

Die Politik des Antizionismus

Essay von Brendan O’Neill

Die heute verbreiteten Verunglimpfungen des Zionismus als „expansionistisch und rassistisch“ entbehren jeglicher historischen Grundlage. Sie verkennen sowohl die historischen Umstände als auch den Charakter der aktuellen israelischen Politik. Über die Entstehungsgeschichte des Zionismus und warum es sich bei der scheinbaren Aggressivität Israels tatsächlich um reine Defensivität handelt.

Wenn Kritiker Israels sagen, man könne Antizionist sein, ohne Antisemit zu sein, dann stimmt das natürlich. Eine Ideologie zu kritisieren, ist etwas anderes, als eine bestimmte Gruppe von Menschen zu hassen. Daher ist die Neigung des proisraelischen Lagers, in der aktuellen Nahost-Diskussion jede Israelkritik als antisemitisch etikettieren zu wollen, unangebracht. So behauptet das US-Außenministerium, heute „ermuntert die unablässige Kritik an Israel … zum Antisemitismus“.1 Ganz offensichtlich sollen alle Kritiker der israelischen Politik von vorneherein als vorurteilsbeladen abgestempelt werden, um sich nicht mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Aber wir brauchen weiterhin eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen einer rationalen Kritik des Zionismus und dem Antisemitismus.

Die Kritik am „zionistischen Staat“ ist nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in Europa weit verbreitet. Und die Sprache, mit der Israel verunglimpft wird, wird täglich schriller und unsachlicher. So behauptet etwa der australische Journalist John Pilger, der Zionismus sei eine „expansionistische, gesetzlose und rassistische Ideologie“.2 Andere vergleichen ihn mit „rassistischen Ideologien wie dem Nationalsozialismus und der Apartheid“.3 Überall in Europa verlangen studentische Gruppierungen und linksradikale Organisationen, den „Zionisten keine Plattform“ zu geben – ihnen also Öffentlichkeit und Sendezeiten zu verweigern – mit dem Argument, sie seien „Rassisten“, „Kolonialisten“ oder gar „Faschisten“.4 Das ist eine offensichtliche Doppelmoral, denn es wird so getan, als sei die nationalistische Ideologie des Zionismus schlimmer als andere Formen nationalistischer Ideologie. Man hat sich so sehr darauf eingeschossen, im Zionismus die unsäglichste Ideologie der Welt zu sehen, dass die radikalen Antizionisten bereits von westlichen Regierungen verlangen – also von den Erfindern des modernen Kolonialismus und denjenigen, denen normalerweise nur Zynismus und Skepsis entgegengebracht wird –, den Israelis eine Lektion zu erteilen.

Die Tragödie des Zionismus

Die Behauptung, der Zionismus sei eine „rassistische Ideologie“, ist unhaltbar. Der Fehler liegt darin, dass nicht zwischen theoretischem und praktischem Zionismus unterschieden wird. Zweifellos hat er in der Praxis vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute zur Vertreibung von Millionen Menschen aus ihrer Heimat sowie zur Kolonialisierung Palästinas geführt; aber theoretisch handelt es sich beim Zionismus trotz einiger Besonderheiten lediglich um eine nationalistische Ideologie. Und wie andere nationalistische Ideologien auch, ist sie tendenziell separatistisch und reaktionär. Aber sie ist nicht rassistischer als andere moderne, auf die Schaffung einer nationalen Heimat gerichtete Bewegungen. In unangebrachter Vereinfachung betrachten verschiedene antiisraelische Aktivisten den Zionismus einfach als eine weitere Ideologie im Stil der Nazis. Demgegenüber präsentieren ihn die Unterstützer Israels als altehrwürdiges Motiv mit biblischem Ursprung: die rechtmäßige Erfüllung des 2000 Jahre alten Traums von einer jüdischen Heimat im historischen Palästina. Tatsächlich ist der Zionismus aber eine moderne Bewegung, die keineswegs durch biblische Träume motiviert ist, sondern durch das verzweifelte Bestreben, dem Antisemitismus einer dekadenten kapitalistischen Gesellschaft zu entkommen.

Theodor Herzl (1860–1904) gilt als der „Vater des modernen politischen Zionismus“.5 Im Jahr 1896 veröffentlichte der in Ungarn geborene jüdische Journalist sein Buch Der Judenstaat. Das leidenschaftliche politische Traktat reagierte auf den wachsenden Antisemitismus in Europa und legte den Juden, da ihre Assimilation nicht vollständig gelingen könne, nahe, zur Sicherung des eigenen Überlebens einen eigenen Staat zu gründen. Herzl und andere neue zionistische Denker – vor allem Moses Hess und Max Nordau – wurden Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu Führern der jungen zionistischen Bewegung und propagierten die Idee, die Juden von den Nichtjuden zu separieren. Nathan Weinstock schrieb in seinem 1979 erschienenen Buch Zionism: False Messiah, die Doktrin gehe von „der Inkompatibilität der Juden und der Nichtjuden“ aus und propagiere die „massive Emigration in ein weniger entwickeltes Land zur Gründung eines Judenstaates“. Weinstock zufolge bezog sich die neue Bewegung zwar auf die alten jüdischen Ideen einer „Rückkehr nach Zion“ beziehungsweise in das „Heilige Land“, doch sei der Zionismus tatsächlich eine höchst moderne Bewegung gewesen, die sich der Fratze des offenen Antisemitismus im Europa der Jahrhundertwende zu stellen hatte: „Der jüdische Nationalismus und [vor allem] seine zionistische Variante war eine völlig neue Konzeption, geboren aus dem sozio-politischen Kontext Osteuropas im 19. Jahrhundert“, so Weinstock.6

In dem 1942 verfassten und vier Jahre später posthum veröffentlichten Buch Judenfrage und Kapitalismus, dem vielleicht besten Text des 20. Jahrhunderts über die schwierige Lage der Juden, beschrieb Abraham Leon den politischen Zionismus als modernes Phänomen reaktiver Natur. Die Bewegung entstand „im Schein der Feuer der russischen Pogrome von 1882 und im Tumult der Dreyfus-Affäre“ (einem antisemitischen politischen Skandal im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts), so Leon, „zwei Ereignisse, die die zunehmende Verschärfung der problematischen Situation der Juden zum Ende des 19. Jahrhunderts“ zeigten.7 Sowohl in West- als auch in Osteuropa habe sich die unvorhersehbare und oft zerstörerische Natur der kapitalistischen Entwicklung besonders hart auf die jüdischen Gemeinschaften ausgewirkt. In Russland machte „die rapide kapitalistische Entwicklung nach der Reform von 1863 die Situation der jüdischen Massen in den Kleinstädten [die ihren Lebensunterhalt mit feudalistischen Mitteln bestritten] unhaltbar“. Und im Westen „begann sich die durch den geballten Kapitalismus erschütterte Mittelklasse gegen die Juden zu wenden, deren Wettbewerb ihre Situation verschlechterte“.8 Anschließende antisemitische Pogrome im Westen schufen Leon zufolge die Bedingungen für den Aufstieg des Zionismus – einer Bewegung, die „vorgibt, ihren Ursprung in einer über 2000 Jahre alten Vergangenheit zu haben“, die aber in Wirklichkeit „die Reaktion des Judaismus auf eine Situation ist, die sich aus der Verbindung des Untergangs des Feudalismus und des Verfalls des Kapitalismus ergibt“.9

Zionismus als Minderheitsglaube

Der politische Zionismus war im europäischen Judentum des beginnenden 20. Jahrhunderts zunächst nur von marginaler Bedeutung. Er musste mit zwei anderen Gruppierungen konkurrieren: den Assimilationisten der Mittelklasse, die nach wie vor einen Platz in der Mitte der kapitalistischen Gesellschaft finden zu können meinten, und – noch wichtiger – der wachsenden sozialistischen Bewegung in der Arbeiterklasse, einschließlich der ihr angehörenden Juden. Viele Sozialisten des frühen 20. Jahrhunderts – sowohl Nichtjuden als auch Juden – sprachen sich leidenschaftlich sowohl gegen den Antisemitismus als auch gegen den Zionismus aus. In ihren Augen war der Antisemitismus – mit den Worten des deutschen Sozialisten August Bebel gesprochen – „Sozialismus für Dummköpfe“, der die jüdischen Gemeinschaften zum Sündenbock für das Scheitern und die Krise des Kapitalismus machte.10 Ihnen galt der Zionismus als inakzeptable, denn auch er behandelte die Juden als besondere Rasse, die idealerweise von anderen Gesellschafen isoliert werden sollte.

Die Sozialisten erkannten den intrinsischen fatalistischen Zug des Zionismus, da er von der Unmöglichkeit einer grundsätzlichen Umwälzung der Gesellschaft ausgeht. Den jüdischen und nichtjüdischen Sozialisten zufolge verneinte er die Möglichkeit echter Veränderung, der Revolution, der künftigen Gleichheit und des gleichen Wohlstands für alle. Im revolutionären Russland nach 1917, wo einst der Zar den Antisemitismus zur Spaltung der Arbeiterklasse instrumentalisiert hatte, übernahmen Juden wie Leon Trotzki verantwortungsvolle und mächtige Positionen. Die revolutionäre Regierung schuf Religionsfreiheit für alle und beseitigte überkommene Beschränkungen der Rechte von Juden bezüglich Ausbildung und Wohnen. Übergriffe gegen Juden wurden schwer bestraft.11 Aber die Juden migrierten auch weiterhin in westliche Länder, weil sie glaubten, trotz des dortigen Antisemitismus ein besseres Leben haben zu können. Im Jahr 1927 emigrierten mindestens genauso viele Menschen aus Palästina – das Herzl und andere Zionisten zum Ort des Rückzugs der Juden von der Welt auserkoren hatten –, wie dorthin migrierten.12 Durch welche Veränderungen konnte der Zionismus zum erfolgreichsten der drei gedanklichen Motive des europäischen Judentums des 20. Jahrhunderts werden?

Zionismus und Weltkrieg

Die Vorstellung einer möglichen Assimilation der jüdischen Mittelklasse in der europäischen Gesellschaft wurde durch den in den 20er- und 30er-Jahren unaufhaltsam zunehmenden Antisemitismus zerstört. Im Gefolge der Russischen Revolution und des Trends zur wirtschaftlichen Rezession vertiefte sich die Krise der kapitalistischen Gesellschaft, was in West- und Osteuropa zu einer Gegenreaktion des rechten Lagers führte. Das Hauptziel dieser Gegenreaktion waren zwar die Organisationen der Arbeiterklasse, aber die Wut richtete sich auch auf die Juden als vermeintliche Träger einer „bolschewistischen Verschwörung“ sowie als vermeintliche Verursacher des wirtschaftlichen Niedergangs. Durch den Vormarsch des Nationalsozialismus in den 30er- und 40er-Jahren und die daraus folgende Vernichtung der Juden von Staats wegen hat das Assimilationsmotiv naheliegenderweise alle Plausibilität eingebüßt.

Auch das sozialistische Motiv, dessen jüdische Verfechter sich von der kapitalistischen Gesellschaft weder separieren noch sich ihr assimilieren, sondern die sie durch etwas anderes ersetzen wollten, erlitt in den 20er- und 30er-Jahren zahlreiche Rückschläge. Die Angriffe auf die Arbeiterklasse in Europa und die schleichende Degeneration Russlands unter Stalin waren für das Ideal des Internationalismus und der sozialistischen Solidarität schwere Schläge. Bis Ende der 20er-Jahre hatte die Solidarität der Arbeiterklasse mit den Juden nicht nur abgenommen, sondern war sogar in neue Formen des Antisemitismus umgeschlagen. In der stalinistischen Sowjetunion nahmen Vorurteile gegen die Juden zu. In Deutschland vermied die KPD ab 1930 sogar, ihre jüdischen Führer öffentlich sprechen zu lassen. Stattdessen delegierten die deutschen Kommunisten feigerweise „Nichtjuden“ für die öffentliche Diskussion.13 Unter diesen Bedingungen gewann der bis dahin marginal gebliebene Zionismus an Zulauf unter den europäischen Juden. Von den Regierungen zu Opfern gestempelt und desillusioniert vom Sozialismus, wandten sich viele Juden verständlicherweise der von den Zionisten angebotenen Sicherheit zu – der Separation. Das ist die Tragödie des Zionismus. Entstanden in Reaktion auf den europäischen Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts, wurde er durch den zunehmenden Antisemitismus und den Niedergang der Linken in den 20er- und 30er-Jahren popularisiert. Sein Erfolg bei den europäischen Juden ist Ausdruck der Degeneration der kapitalistischen Gesellschaft wie auch des Scheiterns der Linken.

Vor diesem Hintergrund passte sich das europäische Judentum dem Antisemitismus letztlich an, anstatt ihn zu bekämpfen. Der Zionismus basierte auf der Überzeugung, in der nichtjüdischen Gesellschaft hätten Juden keinen Platz, denn – mit den Worten des frühen zionistischen Denkers Leo Pinsker gesprochen – der Antisemitismus wurde als eine unüberwindliche „erbliche Krankheit“ angesehen, die „seit 2000 Jahren unheilbar“ sei.14 In diesem Sinne beförderte der Zionismus die Idee, der Antisemitismus könne nicht besiegt werden, und bestätigte letztlich die antisemitische Vorstellung, die Juden seien anders und unnormal. Das mögen gute Gründe sein, die gegen den Zionismus sprechen. Aber es ist wichtig zu erkennen, dass diese Ideologie das Produkt des Zusammenwirkens komplexer historischer Kräfte und der Erfahrung des Scheiterns ist.

Zionismus und Imperialismus

Die Behauptung unserer Tage, der Zionismus sei eine „expansionistische, gesetzlose und rassistische Ideologie“, ist eine Verzerrung der Tatsachen. Vor und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Zionisten bezüglich der Verwirklichung ihres Traums von einer jüdischen Heimat zwar tatsächlich auf die imperialistischen Mächte angewiesen. Der Grund dafür liegt aber in einer impliziten Verbindung des Aufstiegs des Zionismus mit der Ära des Imperialismus; und in der westlichen Welt – vor allem in Großbritannien und den USA – waren mächtige Kräfte nur zu gerne bereit, den Zionismus für ihre eigenen politischen Zwecke auszubeuten. In ihrem kontroversen Text The Israel Lobby and US Foreign Policy vertreten die US-amerikanischen Autoren John Mearsheimer und Stephen Walt die heute zunehmend verbreitete Auffassung, die Außenpolitik Washingtons werde seit Jahrzehnten von Bedürfnissen und Wünschen Israels bestimmt; der zionistische Staat sei der Schwanz, der mit dem Hund wedelt.15 Diese Behauptung verkennt, dass der Zionismus in seiner Beziehung zum Imperialismus immer die untergeordnete Rolle spielte. Was wir hingegen heute beobachten können, ist ein eher „defensiver Zionismus“, der alles andere als Expansion, sondern vielmehr den Rückzug hinter Schutzwälle anstrebt und sich weniger durch zukunftsorientierte Träume vom Lande Zion als durch die jüdische Opferrolle legitimiert.

Krise und jüdischer Nationalismus

Abraham Leon hat – entgegen der Behauptung radikaler Kritiker des Zionismus16 – überzeugend dargelegt, dass sich dieser nicht durch Rassismus, Gesetzlosigkeit oder sonstige Perfidität von anderen bürgerlichen nationalistischen Ideologien unterscheidet, sondern vielmehr durch seine Entstehungsbedingungen. Während die meisten bürgerlich-nationalistischen Projekte in der Blütezeit des Kapitalismus entstanden und Ausdruck des Bestrebens der neuen kapitalistischen Elite zur Schaffung „nationaler Produktionsstandorte“ und zur „Abschaffung des Feudalismus“ waren, so entstand der Zionismus in einer Verfallsphase des Kapitalismus. Leon schrieb: „Der Zionismus ist alles andere als ein Produkt der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern er ist eine Folge des vollständigen Zum-erliegen-Kommens dieser Entwicklung, das Ergebnis der Versteinerung des Kapitalismus. War die nationalistische Bewegung Produkt des aufstrebenden Kapitalismus, so ist der Zionismus Produkt der imperialistischen Ära.“17 Wie Leon zeigte, hielten die Juden eine Assimilation so lange für möglich, wie die bürgerlich-nationalen Bewegungen sich entfalteten; zu Zeiten eines relativ stabilen Kapitalismus und eines infolgedessen tendenziell schwächeren Antisemitismus sahen sie ihren Platz eher innerhalb der bereits bestehenden Gesellschaften. Erst als der Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts in die Krise geriet und zunehmend Verfallserscheinungen zeigte, wandten sich die Juden ihrer eigenen nationalen Bewegung zu. Insofern hatte sie viel mit anderen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden, kleineren und eher rückwärtsgewandten nationalen Bewegungen gemein, etwa solchen, die im Zuge des Verfalls der österreichisch-ungarischen Monarchie entstanden.

Entsprechend wurde das zionistische Nationalprojekt nicht durch das Agieren der Juden zur Schaffung eines eigenen bürgerlichen Nationalstaats realisiert, sondern erst durch die Intervention und die Unterstützung der imperialistischen Mächte. Dennoch führten diese Bedingungen, wie Leon erkannte, zugleich aber auch dazu, dass der Zionismus kein erfolgreiches nationales Projekt werden konnte. „Der Verfall des Kapitalismus – die Grundlage für das Wachstum des Zionismus – verunmöglicht zugleich dessen Realisierung“, schrieb er Anfang der 40er-Jahre. „Das jüdische Bürgertum musste sich durch die Schaffung eines Nationalstaats der objektiven Rahmenbedingungen seiner Produktivkräfte versichern, und zwar in einer Periode, als die Bedingungen für eine solche Entwicklung schon längst verschwunden waren.“18 Bereits acht Jahre vor der Gründung Israels schrieb Leon: „Ein relativer Erfolg des Zionismus in Richtung der Schaffung einer jüdischen Mehrheit in Palästina und gar der Formierung eines ‚Judenstaates‘, also eines gänzlich durch den englischen oder amerikanischen Imperialismus dominierten Staates, ist natürlich nicht auszuschließen.“19

Externe Abhängigkeiten

Und so kam es dann auch. Mit Unterstützung Großbritanniens und der USA schufen die Zionisten Israel – ein „relativer Erfolg“. Von Anfang an aber mussten die Zionisten für ihr Projekt der „nationalen Befreiung“ bei externen Kräften um Unterstützung werben. So heißt es in einer Studie: „Von Anbeginn hing der Zionismus von der Unterstützung der Ziele der kolonialen Siedler durch die europäischen Mächte ab.“20 Die frühen Zionisten haben sich dem Wunsch der imperialistischen Mächte, ihren weltweiten Einfluss zu untermauern und auszubauen, ausdrücklich angedient. Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts versprach Herzl in verschiedenen Diskussionen mit der britischen Regierung, sein Judenstaat werde „Teil eines Bollwerks Europas gegen Asien werden, ein Außenposten der Zivilisation gegen die Barbarei“.21 Das kam insbesondere den Interessen Großbritanniens entgegen. Bereits während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ließ die britische Krone die jüdische Migration in das britische Territorium Palästina zu – Leon zufolge, um „die Juden als Gegengewicht gegen die arabische Bedrohung zu benutzen“.22 Im Jahr 1917 erkannte das British Empire in der Balfour Declaration erstmals das Ziel der Schaffung eines Judenstaates in Palästina an. Winston Churchill, damals Minister im Tory-Kabinett, sprach die Gründe Großbritanniens für sein Interesse am zionistischen Projekt offen aus: „[Ein] Judenstaat unter der Protektion der britischen Krone … ist in jeder Hinsicht vorteilhaft und wäre im grundlegendsten Interesse des British Empire.“23

Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust unterstützten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst Großbritannien und dann auch die USA die Schaffung eines Judenstaates in Palästina. Der Nahe Osten wurde zu einem zentralen Schauplatz des Kalten Krieges, wobei Israel gewissermaßen als Agent des Westens gegen den sowjetisch unterstützten arabischen Nationalismus fungierte. Die Realisierung des zionistischen Projekts unter den Vorzeichen des Kalten Krieges führte zur Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat und zur militärischen Besetzung eines in nationaler Hinsicht umstrittenen Territoriums. Die heute oft geäußerte Behauptung, die Zionisten hätten Amerika und andere westliche Nationen in der Hand – eine politische Karikatur stellt die israelischen Führer als Puppenspieler und den dummen und leichtgläubigen westlichen Imperialismus als dessen Marionette dar24 –, beruht somit auf einer vollständigen Verdrehung der Tatsachen.

Insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges sind die Westmächte wieder verstärkt dazu bereit, Israel zu schelten und es gar mit Sanktionen zu belegen. Die heutige Diskussion über den Zionismus ist von allem Wissen um seine historischen Ursprünge entleert. Stattdessen ist das „Z-Wort“ ein billiges und einfaches Label für „das Böse“ geworden. In einer Zeit, in der nationale Souveränität nicht mehr sakrosankt ist, in der die westlichen Mächte ihre Kräfte etwa in der Europäischen Union bündeln und verlangen, dass die Nationen der Welt sich der Prüfung durch die „internationale Gemeinschaft“ öffnen, und in der der Westen bei seinen militärischen Einsätzen seine Eigeninteressen verleugnet – weil man angeblich für die Verbesserung der humanitären Lage der Unterdrückten der Welt kämpft –, erscheint die israelische Machtpolitik zur Aufrechterhaltung seiner Staatsgrenzen als indiskutabel und veraltet. In der aktuellen Ära des Multikulturalismus, in der die westeuropäischen Regierungen Loblieder auf die Mischung kultureller Identitäten singen (während sie ihre eigenen Grenzen für die „falschen“ kulturellen Identitäten fest geschlossen halten), gilt der Wunsch der Zionisten nach Erhalt ihres Judenstaates als im Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet. Es ist überaus bedenklich, wenn britische Politiker, der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die Bundesregierung – allesamt Vertreter von Nationen mit schwarzen Kapiteln in ihrer Geschichte – den zionistischen Staat auffordern, von seiner vermeintlich „rassistischen und imperialistischen Ideologie“ Abstand zu nehmen.25 Gerade die europäischen Staaten, deren frühere Eliten den Juden kaum eine andere Wahl ließen, als sich dem Zionismus zuzuwenden, stellen Israel jetzt als das Böse hin – eine noch degeneriertere Politik ist kaum denkbar.

Konnte man den Zionismus schon früher nicht als „expansionistisch, gesetzlos und rassistisch“ bezeichnen, so ist das heute erst recht vollkommen unangebracht. Der gegenwärtige Zionismus ist defensiv, was sich in monumentalen, stacheldrahtbewährten Steinwänden manifestiert, mit denen sich Israel von der Außenwelt abschottet. Nicht nur für die Palästinenser, auch für die Israelis ist dies eine Tragödie. Für progressiv denkende Menschen war die „Judenfrage“ lange Zeit von zentraler Bedeutung, weil die Position der Juden in einer Gesellschaft viel über das Wesen dieser Gesellschaft verrät. Hatte die Französische Revolution dazu beigetragen, die Juden von früherer Diskriminierung zu befreien („der Triumphzug der napoleonischen Armeen war das Signal der jüdischen Emanzipation“, so Leon), so hat der Verfall des Kapitalismus die Juden verdammt und vernichtet. Und wenn der Aufstieg des Zionismus eine tragische, defätistische Anpassung an den Antisemitismus war, so bedeutet der heutige Aufstieg des Antizionismus die Abwälzung der Schuld des Westens auf Israel.

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