01.01.2009

Wiederkehr als Farce?

Analyse von Boris Kotchoubey

Boris Kotchoubey über zweifelhafte Parallelen zwischen aktuellen und vergangenen Finanzkrisen.

Es gibt eine ganze Reihe autoimmuner Krankheiten, deren schlimmste wahrscheinlich der sogenannte Lupus erythematosus (auf Deutsch „rötlicher Wolf“) ist. Sie beginnen mit einem Infekt, etwa einem Bakterium oder Virus, das einige Körperzellen verändert. Darauf reagiert das Immunsystem aus immer noch unbekannten Gründen mit einer außerordentlichen Wut und fängt an, den eigenen Körper zu fressen. Beim Lupus erythematosus leiden vor allem die Nieren, sodass noch vor einigen Jahrzehnten jeder Patient innerhalb weniger Monate oder Jahre an Nierenversagen starb. Heute kann man diese und ähnliche Erkrankungen zwar behandeln, aber dazu braucht man sehr starke Medikamente mit heftigen Nebenwirkungen. Die Krankheit ist zwar nicht mehr tödlich, führt jedoch in den meisten Fällen zu bleibenden Schäden. Der Infekt, der äußerliche Agent, löst zwar die Kette der Ereignisse im Organismus aus, ist aber nicht die Ursache des tragischen Verlaufs. Es ist die „absurde“ Abwehrreaktion des Organismus, der, um den Erreger zu bekämpfen, das eigene Gewebe zerstört. Sie ahnen es schon: Genau das gleiche Schicksal könnte aktuell den Bemühungen der Regierungen zur Bekämpfung der internationalen Finanzmarktkrise drohen.

Heutzutage zieht nur der Faulste nicht den Vergleich zwischen der aktuellen Finanzkrise und der von 1929. Wie war eigentlich damals der „Krankheitsverlauf“, der schließlich zur größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts führte? Nach dem Börsenkrach am 29. Oktober 1929 erhöhte die US-Regierung unter Präsident Herbert Hoover drastisch die Einfuhrzölle, um den amerikanischen Markt vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen. Die anderen Industrienationen antworteten ihrerseits mit Zollerhöhungen, was zum Einbruch des US-Exports und schließlich zur „Entglobalisierung“ der Weltwirtschaft und deren Nationalisierung und Zerstückelung führte. Damit wurde die „Große Depression“ ausgelöst. In Deutschland, das zusätzlich unter den Folgen des verlorenen Ersten Weltkriegs litt, entwickelte sich ein extremes Staatsdefizit. Die Regierung reagierte mit einem harten Sparkurs, der die ohnehin rasant zunehmende Armut der Bevölkerung noch verschlimmerte. Es kam zur politischen Radikalisierung, deren Hauptprofiteur schließlich die Nationalsozialisten waren. Die Schuld an der wirtschaftlichen Malaise wies man damals den US-Banken, vor allem aber den Juden zu – mit Folgen, an die nicht eigens erinnert werden muss.

In Russland, damals Agrarland, begann die angehende Krise mit einer Rücknahme der Lieferungen von Getreide und Fleisch an die Städte. Die Bauern, zum großen Teil wohlhabend bis reich, hielten ihre Produkte in der Hoffnung auf Preissteigerungen zurück. Zum ersten Mal seit 1922 kam es zu Mangelerscheinungen in den Städten. Die Regierung antwortete mit der gewaltsamen Beschlagnahme der Agrarprodukte. Es kam zum offenen Konflikt zwischen den Bauern (die etwa 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten, aber keine politische Macht hatten) und dem Rest der Gesellschaft, dessen Folgen die Zwangskollektivierung, massive Hungersnot und die faktische Auslöschung der Bauernschaft waren. Die Mehrheit der Verhungerten waren Frauen und Kinder, während die Masse abgemagerter Männer für die rasche Industrialisierung der UdSSR herangezogen wurde.1 Die soziale Spannung entlud sich nach wenigen Jahren in der Katastrophe des „Großen Terrors“, in dem allein 1937 mindestens eine Million unschuldiger Menschen hingerichtet wurde.

Natürlich wäre es verfehlt, jede staatliche Reaktion auf wirtschaftliche Probleme abzulehnen. Manche können nützlich sein, wie etwa der „Neue Kurs“ von Präsident Roosevelt, der allerdings auch der Korrektur der politischen Fehler seiner Vorgänger Hoover und Coolidge diente. Es ist jedoch eine Mär, dass Roosevelts Politik die Depression überwunden habe. Seine Maßnahmen waren für die amerikanische Gesellschaft wichtig, doch die Wohlfahrtsinstitutionen, die er in den USA einführte, hatten in Europa schon längst vor der Krise existiert, aber der Depression nicht vorgebeugt. Auch heute sehen viele groß angelegte staatliche Interventionen als geeignete Antwort auf die Liquiditätskrise, den Einbruch der Aktienmärkte und den drohenden Konkurs großer Unternehmen. Vielleicht sind die Maßnahmen diesmal überlegter und beruhen auf sorgfältiger Analyse statt bloß billigem Populismus. Trotzdem kommen uns, wenn wir 80 Jahre zurückdenken, manche Tendenzen überraschend bekannt vor. Die Beschränkung der Gehälter für Direktoren wird fast als Heilmittel gepriesen, das alle wirtschaftlichen Probleme zu lösen verspricht, als habe nicht jede totalitäre Macht immer mit solchen Maßnahmen begonnen (die Wirtschaftspolitik Deutschlands und der UdSSR in den 30er-Jahren scheint auf einmal fast der Weisheit letzter Schluss zu sein). Es wird zwar vollkommen richtig argumentiert, dass die hohen Gehälter der Manager nicht zu höherer Verantwortung beitragen. Aber Gehaltsobergrenzen tragen zur Verantwortung ebenso wenig bei, denn die Verantwortung hat mit der Gehaltshöhe einfach nichts zu tun. Wenn in Russland die zur Eindämmung der Finanzkrise bereitgestellten Milliarden ausschließlich an die vier größten Monopole verteilt werden, an deren Spitze persönliche Freunde des Präsidenten und Ministerpräsidenten sitzen, können wir das mit einem Schulterzucken hinnehmen, denn von diesem noch unreifen Kapitalismus kann man so etwas erwarten. Doch wenn der Präsident eines der größten westlichen Staaten mit traditionsreicher Demokratie- und Wirtschaftsgeschichte behauptet, der Staat solle jetzt Eigentümer der Banken werden, da könnte man in der Landessprache sagen: Honi soit qui mal y pense.

Die gegenwärtige Finanzkrise lehre, so meinen viele, dass die Menschen in ihren Entscheidungen leider von Gier und Unvernunft getrieben werden und daher wie Schafe die Aufsicht weiser Hirten brauchen. Wer aber sind diese Hirten? Der Staat? Besteht er etwa nicht aus Menschen? Oder sind alle Beamten nietzscheanische Übermenschen und alle Politiker Super(wo)men aus amerikanischen Comics? Dabei lässt sich ein Paradox beobachten: Je weniger wir jedem einzelnen Vertreter der staatlichen Macht, von der Sachbearbeiterin bis zur Bundeskanzlerin, trauen, desto mehr glauben wir an und erhoffen wir uns vom Staat als solchem. Auf der Suche nach den Quellen dieser seltsamen Einstellung begegnet man dem britischen Philosophen Gilbert Ryle (1900–1976), dessen Einfluss auf unser Denken viel größer ist als sein persönlicher Ruhm. Er hat z.B. die viel verwendeten Konzepte „Kategorienfehler“ und „Know-how“ entwickelt. Ryle beschreibt den Besuch eines Novizen in einer Universitätsstadt (ich nehme z.B. mein Tübingen): Der Einheimische zeigt ihm das Rektorat, das Uni-Radio, die große Aula, die Bibliothek, das Theologicum, die vielen Kliniken und Institute. „Das ist alles sehr interessant“, sagt der Besucher schließlich, „aber wo ist eigentlich die berühmte Universität Tübingen?“

Ryle vergleicht das mit der Suche nach dem menschlichen Geist, der sich in zahlreichen Fähigkeiten ausdrückt – vom geschickten Handwerken bis zum logischen Denken, Kopfrechnen und kreativen Problemlösen – und seiner Meinung nach nichts anderes ist als die Gesamtheit dieser Fähigkeiten. Damit bekämpft der Philosoph „die traditionelle Lehre“, nach welcher es neben all diesen Fähigkeiten noch „den Geist“ als eine weitere, unabhängige Entität gebe, so wie der naive Besucher glaubt, neben allen universitären Einrichtungen solle es extra noch „die Universität“ geben.2 Auch für uns existiert scheinbar neben allen Politikern und Beamten, Behörden und Bundesagenturen, Ministerien und Polizeirevieren noch eine andere, von all diesem unabhängige Entität: der Staat selbst. Dieser wird als eine transzendente Realität angesehen, jenseits all seiner konkreten Verkörperungen: „Bei der Idee des Staates muss man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen [noch weniger besondere Staatsmänner und -frauen, B.K.], man muss vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten.“3 Das Schlüsselwort des großen deutschen Denkers ist gefallen, damit niemand wagt, diese Idee mir zuzuschreiben. Der Staat ist unser Gott. Um jedes Missverständnis auszuräumen, fügt Hegel an der gleichen Stelle noch hinzu: „Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist.“

Unsere Beziehung zum Staat ist eine religiöse, kultische Beziehung, und „Kult“, wie erst im 21.Jahrhundert bekannt wurde, kommt vom englischen „cool“. Es ist cool geworden, den Staat anzubeten und von ihm das zu erwarten, was die Gläubigen seit je von ihren Gottheiten erwarteten: Wunder. Man kann eine Idee besser erfassen, wenn man sich die entgegengesetzte vergegenwärtigt. Der Erzfeind unseres Staatsverständnisses ist die Theorie vom Sozialvertrag. Die heute halb vergessenen Männer des 17. und 18. Jahrhunderts behaupteten, die Menschen hätten von der Natur bzw. vom Schöpfer ihre unveräußerlichen Rechte, zu deren Schutz sie eine Vereinbarung schlössen und eine Regierung einsetzten.4 Auch in diesem Zusammenhang ist ein Ruf nach staatlicher Intervention möglich, aber das ist ein völlig anderer Ruf, denn er kommt aus dem Bewusstsein, dass der Staat nicht mehr machen kann als wir alle. Denn er ist wir alle. Im Unterschied zu Hegels Zeiten haben wir modernen Staatsgläubigen für unseren Gott einen zusätzlichen Existenzbeweis: Der Staat entstehe durch demokratische Prozeduren und habe deshalb eine höhere Legitimation als jede Wirtschaftsstruktur, deren Spitze niemals vom Volk gewählt wird. Dieses Argument klingt zwar auf den ersten Blick plausibel, beruht aber, wie von Hayek in seinem Bestseller Der Weg zur Knechtschaft zeigte, auf der Verwechslung der Begriffe Demokratie und Freiheit.5 Während die Freiheit der Bürger zu den höchsten Gütern moderner Gesellschaften gehört, hat die Demokratie als ein Konvolut von Prozeduren keinen Zweck an sich, sondern ist lediglich ein Mittel oder Mechanismus, um Freiheit zu bewahren und zu erweitern. Ohne die freiheitliche Grundlage haben demokratische Verfahren keinen Wert: Eine der demokratischsten Entscheidungen in der europäischen Geschichte war die Todesstrafe für Sokrates.

Der Staatskult basiert notwendigerweise auf einem Mythos, d.h. einer Erzählung, die allgemein verständlich ist und für alle komplizierten, verworrenen Zusammenhänge sofort eine einfache, klare und eindeutige Ursachenerklärung bietet.6 Die Bankenpleite ist für die Regierenden eine Goldgrube, weil sie in einem Zug das ultimative Ziel des mythischen Denkens erreichen lässt. All die begangenen Fehler werden vergessen und getilgt – das widersinnige Verhalten amerikanischer Banker erklärt alles. Wenn jetzt Deutschland in die Rezession fällt, dann natürlich nicht, weil die Regierungen seit Langem keine einzige echte wirtschaftliche Reform durchführen konnten (oder wollten); weil wirtschaftliche Stagnation seit Jahrzehnten von denselben Intellektuellen als Lebensideal gepredigt wurde, die jetzt den bösen Kapitalismus wegen dieser Stagnation beschimpfen; sondern weil die Manager von Lehmann Brothers (übrigens wieder deutsche Juden, so ein Pech – aber zum Glück schon seit 130 Jahren tot) aus Gier und Profitsucht schlechte Entscheidungen getroffen haben. Etwas Besseres als die amerikanische Bankenkrise kann man sich aus der Sicht der Staatspropaganda gar nicht vorstellen. Wenn der Bundesfinanzminister erklärt, die Krise sei hauptsächlich ein amerikanisches Problem, während die deutschen Banken mit einzelnen unbedeutenden Ausnahmen gesund seien, sich wenige Tage später aber erweist, dass zur Unterstützung dieses vollkommen gesunden Systems eine Garantie von 500 Milliarden Euro erforderlich ist (zum Vergleich: Das ist in etwa die Anzahl der Sekunden, die uns von den frühesten Anfängen der Steinzeit trennt; für so viele Kilometer braucht das Licht etwa 20 Tage); wenn wir erfahren, dass in Deutschland gerade die staatlichen und staatsnahen Banken von der Krise betroffen sind, während die privaten in recht robustem Zustand sind, und dass der Staat die Banken daher noch strenger kontrollieren und sich an ihnen noch stärker beteiligen soll, denn wo findet man einen besseren Gärtner als den Bock; wenn derselbe Finanzminister im gleichen Atemzug mit der Aussage, es handle sich lediglich um ein amerikanisches Problem, auch sagt, es sei nicht ausgeschlossen, dass das gesamte Weltwirtschaftssystem in Kürze zusammenbreche; wenn uns erklärt wird, dass die genannte astronomische Zahl lediglich die Aufgabe hat, das Vertrauen in die Banken und deren Führung zurückzugewinnen, aber gleichzeitig, dass diese Führung aus gierigen, asozialen Elementen besteht, die nicht mal mit einem anständigeren Tier als einer Heuschrecke vergleichbar seien – dann müssen wir hoffen, dass die Politik alles richtig macht. Nur kann sie ihre weisen Strategien dem Bürger nicht zusammenhängend erklären; dass die Rezession viel schlimmer wäre, wenn die Regierungen nicht so entschieden reagiert hätten; und dass die Menschen, die keine zwei Aussagen treffen, ohne dass die zweite der ersten widerspricht, genau die richtigen sind, um astronomische Stützungsfonds zu verwalten.

Dennoch glauben wir an den Fortschritt, d.h. daran, dass der berühmte Satz von Karl Marx über die Geschichte, die sich wiederholt, aber das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, möglichst wörtlich stimmt. Denn der einfachste und offensichtlichste Unterschied zwischen der gegenwärtigen Lage und der in den 30er-Jahren besteht darin, dass wir die Geschichte der damaligen Krise bereits kennen (sollten). Vielleicht werden diesmal dem Idol nur materielle Güter in Hekatomben gebracht, aber keine Menschenopfer mehr. Das könnten unsere reichen Gesellschaften wohl verkraften, da sie schließlich wohl auch die nicht weniger widersinnigen Kioto-Abgaben verkraften können. Die Hauptsache ist, auch wer an die These über die angeborene Dummheit und Lernunfähigkeit des Menschen glaubt, muss nicht unbedingt um jeden Preis alles Mögliche tun, um diese These zu bestätigen.

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