01.01.2009

Die Zukunft des Internets liegt im Osten

Essay von Norman Lewis

Wenn westliche Bürger ihre Vorurteile gegen raubkopierende Asiaten ablegen würden, sähen sie vielleicht die Wunder der asiatischen Internet-Innovation.

Haben Sie jemals von QQ gehört? Von Tudou oder Mixi? Oder von CyWorld? Nein? Aber ich wette, Sie kennen MySpace, Facebook und Youtube. Das ist nicht überraschend. Die Ihnen nicht bekannten Namen, die ich zuerst genannt habe, sind in Asien sehr wohl bekannt: Diese Websites gehören genauso zu den gängigen Plattformen des Social Networking wie jene uns sattsam bekannten Web-2.0-Seiten aus dem Westen. Was Sie nicht wissen: QQ erfasst über 300 Millionen Benutzer-Accounts und ist damit das größte soziale Web-2.0.-Netzwerk der Welt – es hat mehr Benutzer als die USA Einwohner haben! Auch Toudou hat seinen Sitz in China. Es handelt sich dabei um eine Website zum Austausch von Videos; sie hat im letzten Jahr über 15 Milliarden Minuten an Aufzeichnungen ausgestrahlt – fast fünf Mal so viel wie YouTube, Mixi und CyWorld, Websites aus Japan und Südkorea mit jeweils 14 bzw. 20 Millionen Benutzern, befanden sich an vorderster Front in der Entwicklung des Phänomens sozialer Internet-Netzwerke. In der Tat: CyWorld war die erste Social-Networking-Site – sie wurde 1999 eingerichtet.

Tatsächlich wurden jene sozialen Internet-Plattformen, von denen wir im Westen viel Aufhebens machen, in Asien erfunden. Das klingt in unseren Ohren nicht sehr vertraut – eben kontraintuitiv. Den Begriff „Innovation“ halten wir für ein Alleinstellungsmerkmal des Westens, schon gar nicht sind wir bereit, ihn den Asiaten zuzuschreiben. Seit dem Zweiten Weltkrieg charakterisieren wir Asien mittels westlicher Stereotypen. Die Japaner etwa mutierten in unseren Augen zu eifrigen Kopierern; nie sah man in ihnen geistreiche Erfinder. Und als sich solche Vorurteile als falsch erwiesen – man nehme etwa den weltweiten Erfolg von Sony oder die phänomenale Entwicklung der japanischen Automobilindustrie –, tat man dies mit genauso arroganten Erklärungsversuchen ab: In diesen lag die Liebe der Japaner zum Auto samt ihrer handwerklichen Fertigkeiten in der Tatsache begründet, dass sie kleine Finger haben.

Etwas verpasst

Es ist bemerkenswert, wie wenig man aus den westlichen Medien über das Phänomen sozialer Netzwerke aus Asien erfährt. Südkorea und Japan sind mit China und Japan die fortschrittlichsten Internetmärkte der Welt. Das Verhalten der dortigen Internetnutzer bildet das größte Testfeld in der Geschichte: Die westliche Ignoranz gegenüber Asien zeigt, wie hermetisch sich die westliche Vorstellungskraft mittlerweile gegenüber innovativen Entwicklungen abgeriegelt hat. Die Antipathie gegenüber Asien spiegelt eine verstörende Neigung zur Selbstgefälligkeit und Kurzsichtigkeit im Westen wider. Ein Beispiel illustriert diesen Missstand besonders deutlich: Anfang 2008 publizierte der Economist einen Artikel über soziale Netzwerke im Internet. Darin wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass sich diese Websites zwar zu einem allgegenwärtigen Bestandteil des Online-Lebens der Bürger entwickelten, sie aber keinen Raum für gewinnträchtige Transaktionen der Geschäftswelt eröffnen könnten. Dieses Resümee entsprang jedoch der ausschließlichen Untersuchung der westlichen Websites Facebook, MySpace und Bebo, deren Geschäftsmodelle sich hauptsächlich um Werbung drehen. Keiner Erwähnung wert wurde auch nur eines der führenden sozialen Netzwerke aus Asien befunden, obwohl schon ein beiläufiger Blick auf CyWorld oder QQ das glatte Gegenteil ergeben hätte: dass diese überaus profitabel wirtschaften und sich nur ein geringer Anteil ihrer Gewinne dem Werbegeschäft verdankt.

Im Jahr 2007 vermeldete etwa QQ jährliche Einnahmen von rund 625 Millionen Euro – das Vierfache der Einnahmen von Facebook. Als operativen Gewinn verbuchte QQ 287 Millionen Euro, während Facebook im gleichen Jahr einen Verlust von knapp 60 Millionen Euro erlitt. Die Ergebnisse von Facebook rechtfertigten also den Pessimismus des Economist – jene von QQ aber sicher nicht. QQ hat über 300 Millionen aktive Benutzer-Accounts, generiert aber nur 13 Prozent der Einnahmen durch Werbung. Die Nutzer dieser Internetplattform tauschen und verkaufen marktwerte digitale Güter – das ist es, was den Großteil des Geldzuflusses von QQ ausmacht. In ähnlicher Weise macht auch auch CyWorld durch den Verkauf digitaler Güter auf seiner Site einen Tagesgewinn von fast 360.000 Euro.

Die Bedeutung des Kaufens und Austauschens digitaler Güter kann anhand kultureller Erklärungsmuster interpretiert werden. Geschenke sind, genauso wie auch der Tausch von Sachen, typisch für Asien, während die Online-Werbung sehr unterentwickelt bleibt. Doch wer dieses Online-Verhalten allein mit diesen Begriffen erklären möchte, macht sich die Sache zu einfach. Schließlich beschränkt sich der Tausch und Kauf von Geschenken nicht auf Asiaten – es gibt auch eine ganze Industrie für Grußkarten und Geschenke im Westen. Dieses Phänomen bedürfte einer eingehenden Analyse, denn es beleuchtet vor allem die Gemeinsamkeiten von Verhaltensmustern sowohl von Asiaten als auch von Bürgern der westlichen Hemisphäre – und nicht die beschworenen „Unterschiede“. Und es hält wichtige Einsichten bereit in die mögliche Evolution jener Dienstleistungen, die uns im Westen bevorstehen könnten.

Das Bedürfnis, sich selbst auszudrücken

In Asien ist das Internet eine überwiegend von jungen Menschen genutzte Sphäre. Der Zugang in diese Welt, ganz gleich ob über PCs oder Laptops, zu Hause oder im Internetcafé, wird vor allem durch das Verlangen junger Menschen nach Kommunikation und Unterhaltung geprägt. In China sind 51 Prozent der Internetnutzer jünger als 25 und 80 Prozent jünger als 35 Jahre. Soziale Netzwerkseiten wie CyWorld oder Mixi in Japan werden ganz überwiegend von jungen Menschen bevölkert. Interessant ist, wie dramatisch die Nutzung neuester Kommunikationsmethoden sich in Asien ausbreitet. Noch wichtiger aber: Im Westen ist die Situation ähnlich. Wie ihre Altersgenossen im Westen übernehmen die jungen Menschen Asiens diese Kommunikationstechnologien als einen wesentlichen Bestandteil ihrer alltäglichen Lebensführung. Während kulturelle Unterschiede in gewisser Hinsicht ein unterschiedliches Nutzerverhalten prägen (Mixi in Japan ist ein soziales Netzwerk, in dem sich nur Leute begegnen, die auch im wirklichen Leben Freunde sind), so stechen doch eher die gemeinsamen Antriebskräfte für die Nutzung der sozialen Netzwerke hervor. In beiden Teilen der Welt wird das Leben der Kinder zunehmend unter die eindringliche Beobachtung der Erwachsenen gestellt. Während das Risikobewusstsein im Westen sich in einer, wie einige es nennen, Schlafzimmerkultur niederschlägt und mit einem Abnehmen der Straßenkultur einhergeht, so wird das Leben junger Menschen in Asien in einer ähnlichen Weise strukturiert und kontrolliert. Die Anziehungskraft der digitalen Medien in beiden Erdteilen ergibt sich aus dem Verlangen der Kinder und Jugendlichen, sich eigene Räume zu schaffen.

Was Jugendliche in Asien und im Westen gemeinsam haben, ist ihr Verlangen nach einer Minimierung ihrer Isolation – und danach, sich Ventile ihres Selbstausdrucks zu verschaffen, die frei sind von der Überwachung der Erwachsenen. Kommunikationstechnologien wie etwa das Handy oder das Versenden interaktiver Nachrichten sind attraktiv, gerade weil sie diesem Ziel dienen. Daraus resultiert eine abgegrenzte Gemeinschaftskultur unter jungen Menschen, die durch die neuen Technologien ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von der Überwachung durch die Erwachsenen zu gewinnen trachten. Dieser Wunsch ist der eigentliche Treiber des digitalen sozialen Netzwerkens auf der ganzen Welt. Diese Technologien (das Internet, die Mobiltelefone und die Videospiele) ermöglichen es den Usern, Räume für sich selbst zu entwickeln; sie entziehen sich der Aufsicht durch die Erwachsenen und befinden sich dennoch innerhalb der häuslichen Sphäre.

In China lässt sich das phänomenale Wachstum von QQ teilweise mit der Ein-Kind-Politik der chinesischen Regierung erklären: Diese treibt die chinesischen Kids zur Nutzung der sozialen Netzwerke, in denen sie sich mit Gleichgesinnten zusammentun können. Hier tauschen sie ihre Erfahrungen aus und überwinden ihre Isolation. Auch das plötzlich auftretende Blogging junger Menschen bezeugt die Existenz eines ausgeprägten Verlangens nach Möglichkeiten, sich selbst auszudrücken. Laut dem China Internet Network Information Center (CNNIC) gibt es in der Volksrepublik 73 Millionen Blogs und 47 Millionen Verfasser von Blogs. Einrichtungen, die den Selbstausdruck ermöglichen und Kommunikation befördern, treffen die Bedürfnisse der Jugendkultur überall auf der Welt – ganz gleich, ob in Asien oder im Westen. Diese Einsicht kann nicht genug betont werden. Das Motiv des Selbstausdrucks lässt sich vom Verlangen nach Kommunikation nicht trennen. Selbstausdruck ist zu einer der Haupttriebkräfte für das Hantieren junger Menschen mit digitaler Technologie avanciert. Das Bedürfnis nach Bestätigung mag genauso wie jenes nach Anerkennung und Akzeptanz eine Rolle spielen – doch junge Menschen schätzen den Selbstausdruck als einen entscheidenden Wert an sich ein. Auf einzelne Personen zugeschnittene Anwendungsmöglichkeiten des Internets sind auf der ganzen Welt gefragt, denn sie sind unerlässlich für die Konstruktion individueller Geschichten. Hier geht es um eine Generation, die den Selbstausdruck an sich als eine Form der Kommunikation ansieht.

In Ländern wie China, Korea und Japan nimmt dies die Form sozialer Netzwerke und des Kaufens und Verkaufens digitaler Waren an. Das einzig „Asiatische“ ist, dass die Dienstleister in Asien Geschäftsmodelle und Technologien entwickelt haben, die aus diesen Impulsen sofort Kapital schlagen können und daher nicht auf die indirekte Geldquelle der Werbung zurückgreifen müssen. CyWorld und QQ haben in Technologien investiert, die Mikro-Transaktionen ermöglichen: Diese erleichtern es den jungen Leuten, solche digitale Güter zu bezahlen und auszutauschen, die ihrem Bedürfnis nach Selbstausdruck nachkommen oder um unter ihren Gesinnungs- und Altersgenossen an Status zu gewinnen. In dem Maße, wie die Grenzen zwischen den Lebenserfahrungen im Internet mit jenen in der „wirklichen Welt“ immer weiter verschwimmen, wird der Markt für virtuelle Güter voraussichtlich explodieren. Weit entfernt von der Annahme, dass junge Menschen „nichts auf dem Online-Weg zahlen werden“, wie uns von den Marketingabteilungen jedes Telekommunikationsunternehmens weisgemacht wird, entwickeln junge Asiaten neue Geschäftsmodelle, die auch einmal im Westen ihre Anwendung finden könnten.

Problemlösungen und Neuerungen

Der Antrieb asiatischer Unternehmer, diese neuen Möglichkeiten zu nutzen, lag dabei in schierer Notwendigkeit und nicht in bewusster Planung. Asiatische Geschäftsleute haben mit solchen aus dem Westen viel gemeinsam. Unternehmern im Westen wäre beispielsweise niemals in den Sinn gekommen, dass sich die Textverarbeitung zu einer gewinnträchtigen Industrie entwickeln könnte; und doch fanden sie schließlich Wege zur Vermarktung dieses Geschäftsfeldes. Genauso verhält es sich auch bei asiatischen Unternehmern, die sich gezwungen sahen, mit einer innovativen Lösung ihr Fortkommen zu sichern. Der Schlüssel für das eigene Überleben lag in der Entwicklung von Plattformen für Mikro-Bezahlungen. Not macht eben erfinderisch. Die tief in die Verhaltensmuster junger asiatischer Menschen eingebetteten Impulse hinter dem Agieren mit digitalen Medien wurden erkannt und auf eine Art verwertet, von der sich nur wenige zuvor vorstellen konnten, dass sie funktionieren können. Die Tatsache, dass ein chinesisches Unternehmen für Instant Messaging operative Profite von 293 Millionen Euro im Jahr aufweisen kann, in einem Land, in dem 75 Prozent aller Internetnutzer weniger als 360 Euro im Monat verdienen, zeigt deutlich, wie mächtig das Verlangen nach Selbstausdruck, Anerkennung, Status und Kommunikation in Asien wirklich ist. Wenn es hier eine Lektion zu lernen gibt, dann die, dass immer dann, wenn die Bedürfnisse der Internetnutzer in den Mittelpunkt der Dienstleistungen rücken und zum Fokus für die Innovationen werden, sich lebensfähige und bestandskräftige Unternehmen aufbauen lassen.

Den asiatischen Dienstleistungsunternehmen blieb gar nicht anderes übrig, als die Erfahrungen ihrer Internetnutzer an die vorderste Front ihres Denkens und ihrer Geschäftsmodelle zu rücken. Im Westen war das anders. Die dominanten Geschäftsmodelle drehten sich hier um die Werbung. An sich ist daran nichts falsch. Das Problem liegt nur darin, dass sich die Werbeeinnahmen auf eine möglichst hohe Besucherzahl auf den Webpages stützen – also darauf, dass möglichst viele Nutzer die Website mit der Werbeanzeige anklicken. Nicht der eigentliche Nutzen des Endkunden oder seine Erfahrungen bestimmen, wie die Seite arbeitet. Stattdessen rückt der Werbende in den Mittelpunkt – er ist der eigentliche Kunde. Weit davon entfernt, innovative Wege zu finden, um mit den Nutzern der sozialen Netzwerke in ein lebendigeres Verhältnis zu treten, werden die Internetdienstleistungen im Westen von den kurzsichtigen Belangen der Konzerne angetrieben – und von einer Kultur der Risikovermeidung. Die opportunistische Nützlichkeit der Werbung hat im Westen die Innovation sozialer Netzwerke eher verhindert. Das ist eine der einprägsamsten Lehren, die es aus den asiatischen Erfahrungen zu ziehen gilt. Das ist auch der Grund, warum der Economist insoweit recht hat, wenn er meint, dass MySpace, Facebook und Bebo in der Form, wie sie gegenwärtig organisiert sind, keine Zukunft als gewinnträchtige Geschäftsfelder haben.

Doch obwohl asiatische Service-Provider über ihre innovativen Geschäftsmodelle aus Zufall stolperten, erweisen sich ihre Erfahrungen doch als wichtig für die zukünftige Evolution derartiger Dienstleistungen auf der ganzen Welt. Die gescheiterten Versuche, CyWorld nach Europa zu expandieren, zeigen nur, wie sehr unsere Dienstleistungsindustrien unter ihrer Kurzsichtigkeit leiden. CyWorld wurde beispielsweise in Europa zwar vom Telekommunikationsunternehmen SK Telecom betrieben – doch bloß als eine blasse Imitation jener ursprünglichen Dienstleistungen. Wichtiger noch: Jene nötigen Investitionen in Plattformen blieben aus, die den Kauf und den Austausch digitaler Güter erst ermöglichen. SK Telecom führte nicht die asiatischen Innovationen ins westliche Wirtschaftsleben ein, sondern es passte sich den lokalen Vorurteilen an und scheiterte. Daraus können wir lernen, dass kein Erdteil die Innovationen des Internets für sich allein gepachtet hat. Westliche Vorurteile gegenüber Asien wirken vielmehr als bedeutsame Barrieren bei der Globalisierung von Innovationen. Das ist umso besorgniserregender, als sich Asien mit seiner fortschrittlichen Internetinfrastruktur zum Trendsetter des zukünftigen Benutzerverhaltens im Internet entwickelt. William Gibson, der „schwarze Prophet“ des Cyberpunk-Subgenres in der Science-Fiction, liegt richtig mit seiner Aussage, die „Zukunft“ sei schon „da“, nur nicht gleichmäßig über den Erdball verteilt. Was er – zusammen mit seinen westlichen Gesinnungsgenossen – aber nicht vorhersehen konnte: Die ungleiche Verteilung fällt zugunsten Asiens aus – und nicht des Westens. Kids, schaut nach Osten!

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