01.01.2009

Obama und der Niedergang der „schweigenden Mehrheit“

Analyse von Frank Furedi

Die Wahl Barack Obamas beendet ein wichtiges Kapitel der amerikanischen „Kulturkriege“.

Schon vor den Präsidentschaftswahlen in den USA stand außer Frage, dass die Fehler der Bush-Regierung deren Ergebnis maßgeblich beeinflussen würden. In der Tat fanden es sowohl McCain als auch Obama müßig, über die Amtsjahre des gegenwärtigen Präsidenten überhaupt zu diskutieren. In die Schlussphase des Wahlkampfs fiel dann auch noch der Kollaps der Finanzmärkte, sodass sich die Öffentlichkeit noch mehr von den Republikanern entfremdete. Unter diesen Umständen war es für sie nahezu unmöglich, diese Wahl zu gewinnen.

In der jüngeren Vergangenheit ging es den Herausforderern bei Wahlen häufig darum, so viele Stimmen hinzuzugewinnen, wie die Amtsinhaber tendenziell verlieren würden; Gewinne, die über das Maß einer solch vorhersehbaren Stimmenwanderung hinausgingen, wurden gar nicht erst angestrebt. Was an dieser Wahl jedoch auffällt, ist nicht nur die Tatsache, dass die Amtsinhaber klar verloren, sondern auch, dass Barack Obama den Wettbewerb um die Wählergunst aktiv für sich entscheiden konnte. Das Wahlergebnis ist nicht nur ein Vorbote für den Zerfall des Konzepts der „schweigenden Mehrheit“, das die Republikaner bis dato verfolgten, sondern es beendet damit auch ein wesentliches Kapitel der amerikanischen „Kulturkriege“. Der Begriff der „schweigenden Mehrheit“ war im Jahr 1969 vom damaligen US-Präsidenten Richard Nixon geprägt worden; er meinte alle Bürger des Landes, die amerikanische Institutionen achteten, sich nicht an Anti-Vietnam-Demonstrationen beteiligten und von der Gegenkultur der 60er-Jahre abgestoßen fühlten. Der Begriff trug klar populistische Züge. Er zielte besonders auf Menschen, denen die Verachtung der kulturellen Eliten entgegenschlug und deren Stimmungen, Empfindungen und Interessen von Hollywood und den Medien ignoriert wurden. Und er enthielt unausgesprochene Vermutungen über Art und Umfang der Ängste der weißen Mittelschicht, der weißen Bezieher niedriger Einkommen und weißer Vorstadtbewohner vor den Problemen, die mit Rassenfragen zusammenhingen. Daher signalisierte er ihnen die grundlegende Vorstellung, dass es in Ordnung sei, die Forderungen, die mit dem Anspruch der schwarzen Bevölkerung auf ein besseres Leben einhergingen, abzulehnen.

In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Strategie der Republikaner, die „schweigende Mehrheit“ zu pflegen und fortzuentwickeln, als bemerkenswert erfolgreich erwiesen. Ihre Fähigkeit, in den 80er-Jahren auch für Anhänger der Demokraten aus der Arbeiterschaft attraktiv zu sein, galt der Grand Old Party als ein Zeichen für die Wirksamkeit dieser Strategie. Gleichwohl gestaltete sie die Ansprache dieser „schweigenden Mehrheit“ grundsätzlich defensiv. Sie richtete sich vor allem an Menschen, die sich über den Einfluss von Veränderungen auf ihr Leben Sorgen machten, und stellte Veränderungen tendenziell als etwas Negatives dar. Aber gerade in einer Welt des anhaltend schnellen Wandels konnte ein solch dürftiger Ausblick auf die Zukunft nur wenig Orientierung und Führung bieten. Abseits der von der Strategie der Republikaner angesprochenen Zielgruppen zeigte sich, dass die Ansichten der „schweigenden Mehrheit“ für die politische Debatte nicht ausreichten und dieses Defizit von vielen, die nicht zu dieser Gruppe zählten, als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Auch die Tatsache, dass diese Ansichten notorisch unausgesprochen blieben, erlaubte es nicht, dass die „schweigende Mehrheit“ politischen, intellektuellen und damit letztendlich auch kulturellen Einfluss nehmen sowie eine gewisse innere Kohärenz zeigen konnte. Von außen wurde sie dennoch von Freund und Feind als ein stabiler Block mit festen Vorstellungen wahrgenommen – obwohl sie nicht die Kraft hatte, die amerikanische Gesellschaft spürbar zu beeinflussen. Tatsächlich wurde sie selbst nach und nach von den Ansichten und Einstellungen der kulturellen Elite, z.B. in Bildung, Medien und anderen Institutionen, immer stärker beeinflusst. Alles in allem musste mit dem Rückgang der Relevanz der „schweigenden Mehrheit“ für den öffentlichen Diskurs auch die Relevanz von deren Thema „Angst“ in Zusammenhang mit Fragen der Rassenzugehörigkeit zurückgehen.

Obamas Sieg bezeugt die stetig geringer werdende Bedeutung des Themas „Rassenzugehörigkeit“. Er hat zwar nicht die Mehrheit der weißen Wähler gewonnen, aber sein Stimmenanteil unter den Weißen ist genauso hoch wie der Stimmenanteil des jeweiligen weißen Kandidaten der Demokraten in den zurückliegenden drei Wahlen. Noch bedeutender aber erscheint die Tatsache, dass Obama bei Wählern, die der früheren „schweigenden Mehrheit“ zugerechnet wurden, ausgesprochen erfolgreich war. Zudem erhielt er erheblichen Rückhalt bei den weißen Wählern in traditionellen Arbeitergebieten und in vielen wichtigen weißen Vorstädten. Er gewann in Wahlbezirken wie Cambria County in West-Pennsylvania, in denen Wähler aus der weißen Arbeiterschaft dominieren, und sogar in Virginia, dem Heimatstaat der Konföderierten.

Die Politisierung kultureller Unterschiede, die der „schweigenden Mehrheit“ einen gewissen Sinn gab, ist den Begründern und Vertretern dieser „Bewegung“ buchstäblich um die Ohren geflogen. Während in der Vergangenheit Nixons Kritik an den liberalen Medien und den kulturellen Eliten erhebliche Unterstützung mobilisieren konnte, können die Republikaner aus solcher Kritik heute kein politisches Kapital mehr schlagen. In der Tat sind die liberalen kulturellen Eliten im zurückliegenden Jahrzehnt in die Offensive gegangen und haben sich genüsslich auf den Kulturkrieg eingelassen. So konnten sie die Regierung Bush und die Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin erfolgreich in Misskredit bringen – was auch nicht schwer fiel. Für viele Jahrzehnte hatte die Strategie der Kultivierung einer schweigsamen Wählerschaft den Republikanern die Mühe erspart, eine in sich geschlossene politische Identität zu entwickeln, die die Öffentlichkeit gefesselt hätte begeistern können. Als ein Ergebnis dieses Versäumnisses haben die Republikaner die jüngeren Generationen verloren. Ihre Unterstützung unter den Hispanics – der am schnellsten wachsenden Wählerschaft in den USA – ist zusammengebrochen. Darüber hinaus haben die Republikaner Wähler in den traditionell konservativen Staaten im Süden, im Mittleren Westen wie auch in den Rocky Mountains verloren.

Die einzige Gruppe, in der Obama nicht vorangekommen ist, sind die Senioren. Sie stellen eine Wählergruppe, die vor Veränderungen große Angst hat und am wenigsten geneigt scheint, sich von alten Werten zu distanzieren. Der Zerfall des Populismus der „schweigenden Mehrheit“ steht für eine positive Entwicklung. Diese könnte den öffentlichen Diskurs ermutigen, wieder einen offeneren und reflektierenderen Charakter anzunehmen.

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