01.11.2008

Alles bloße Gier?

Analyse von Alexander Horn

Über die naiven Versuche der Politik, sich einen Reim auf die Finanzkrise zu machen.

Egal wie sich die gegenwärtige Kernschmelze des Weltfinanzsystems weiterentwickelt, zumindest für die führenden deutschen Politiker ist eines klar: Gier, Renditegeilheit, unverantwortlich hohe Risiken und angloamerikanischer Turbokapitalismus haben die Welt an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) signalisierte bereits im April, dass die Welt (vor allem in Deutschland) im Grunde ganz in Ordnung sei, hätten nicht Geldprofis Milliardenbeträge in amerikanische Immobilienfonds investiert und so die Finanzkrise „verbockt“. „Da hatte die Gier das Hirn ausgeschaltet“, fasste er zusammen. In seiner Regierungserklärung Ende September forderte er ein Ende der „Gier“, denn sie sei mit der „Kurzatmigkeit“ und dem „wahnsinnigen Streben nach immer höherer Rendite“ die wesentliche Ursache der Krise. Wenige Tage zuvor machte bereits Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) „Gier und Maßlosigkeit“ von Spekulanten für die Turbulenzen im Finanzsystem verantwortlich.

Mit diesen wohlfeilen Schuldzuweisungen an die Adresse der „Geldprofis“ offenbart die Bundesregierung eine unglaubliche Orientierungslosigkeit. Diese zeigt sich sowohl in der vollkommen falschen Einschätzung der Ursachen der Krise als auch im Hinblick auf die „politische Vermarktung“ des Problems. Seit Jahren ist es ungeheuer beliebt, die Führungseliten der Wirtschaft und deren „Günstlinge“ als moralische Versager bloßzustellen. Mit einer Kampagne, die von allen politischen Lagern getragen wurde, ist es unter Mobilisierung der Medien und einer breiten Öffentlichkeit gelungen, börsennotierte Unternehmen zu zwingen, die Gehälter ihrer Topmanager offenzulegen. Dieselbe primär auf öffentliche Zustimmung schielende Platte wird nun angesichts der Finanzkrise erneut aufgelegt. Die „Stimmung im Volk“ – das wissen die Parteiführungen aufgrund der sehr genauen Beobachtung von Meinungsumfragen – kocht, da nun die Kosten der Krise sozialisiert werden (durch staatliche Milliarden zur Sanierung einstürzender Kreditinstitute und zur Verhinderung möglicher Massenentlassungen), während die durchaus erklecklichen Profite und Bonuszahlungen reines Privatvergnügen bleiben. Was liegt da näher, als den Volkszorn auf billige Weise zu bedienen, indem man „Gier“ und, wie Steinbrück sagt, „vor allem ein amerikanisches Problem“ geradezu vermarktet, anstatt das zu tun, was einer politischen Führung eines Landes in einer solch prekären Lage tatsächlich zukommen sollte: mit vernünftiger Aufklärung und Argumenten politisch zu führen! Die Orientierungslosigkeit der Politik wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die pauschale Verteufelung von Topmanagern und Bankern einem politischen Selbstmord gleichkommt. Denn wie will die Bundesregierung politisch in der Öffentlichkeit überzeugen und glaubwürdig bleiben, wenn Sie den zuvor pauschal als unmoralisch verteufelten Zockern diesseits, aber vor allem jenseits des Atlantiks am Ende doch das Fell rettet? Da wird es der eigenen Glaubwürdigkeit vermutlich wenig helfen, wenn man einige Vorstände und Aufsichtsräte über die Klinge springen lässt.

Die sehr kurz greifende Einschätzung der wesentlichen Ursachen der Finanzkrise hat bereits jetzt zu einem Konsens darüber geführt, dass zukünftige Finanzkrisen nur durch eine stärkere Regulierung der Banken und der Finanzmärkte vermieden werden können. Diese Forderungen sind nicht ganz neu, denn in Politik und Wirtschaft ist das Vertrauen in den liberalen Markt in den letzten Jahren ohnehin nachhaltig gesunken. Nun hat die Finanzkrise dem Glauben in die Selbstheilungskräfte des Marktes einen weiteren schweren Schlag versetzt. Eine Regulierung der Finanzmärkte aber wird – egal wie durchgreifend sie sein wird – das vermeintliche Problem nicht lösen können. Angesichts der Auffassung, dass unmoralisches Verhalten die Finanzmärkte gebeutelt habe, erscheint eine Regulierung der Finanzmärkte keine wirklich erfolgversprechende Strategie. Oder verspricht man sich eine nachhaltige Wirkung davon, einem Süchtigen den Drogenkonsum zu verbieten?

Die aktuelle Finanzmarktkrise hat ihre Wurzeln weder in schlechten menschlichen Eigenschaften noch in einem Marktverhalten, das von hoher Risikobereitschaft geprägt ist, noch in einer besonderen wirtschaftlichen Dynamik (Turbokapitalismus). Das Gegenteil ist der Fall. Spätestens seit den 80er-Jahren und dem endgültigen Ende der wirtschaftlichen Expansion in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Wirtschaft der westlichen Industriestaaten nicht mehr besonders dynamisch gewachsen. Daran konnte auch die Reagan-Thatcher-Ära des Marktliberalismus nichts Grundlegendes ändern. Die Investitionen in der westlichen Wirtschaft sind seit den 70er-Jahren deutlich zurückgegangen, das Wirtschaftswachstum hat sich seitdem auf das Niveau von schlappen ein bis zwei Prozent eingependelt. Erst in den 90er-Jahren entwickelten sich im sich wirtschaftlich öffnenden China, in Osteuropa und in Indien neue Märkte und Investitionsmöglichkeiten, sodass sich die Wertschöpfung stärker in diese Regionen verlagerte. Obwohl diese Entwicklung auf die Weltwirtschaft belebend wirkt, sind in der westlichen Welt viele Maßnahmen in die Wege geleitet worden, um zumindest das geringe Wachstum der letzten Jahrzehnte zu ermöglichen. Die Ära Greenspan hat seit 1987 einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Weltwirtschaft mit billigem Geld zu versorgen, und sie hat zuletzt nicht nur auf dem amerikanischen Häusermarkt eine kreditfinanzierte Finanzblase und wirtschaftliches Wachstum erzeugt.

Die wirtschaftliche Stagnation der westlichen Industriestaaten geht einher mit geringen Industrieinvestitionen. Seit den 80er-Jahren hat sich in den Unternehmen ein deutlicher Wandel vollzogen: Anstatt einen Großteil der Gewinne zu investieren und damit langfristig das Wachstum zu sichern, haben insbesondere die großen Konzerne riesige Summen an liquiden Mitteln angehäuft, schütten diese verstärkt an die Eigentümer aus oder kaufen ihre eigenen Aktien zurück, da sie für die erwirtschafteten Gewinne keine profitableren Einsatzmöglichkeit sehen. Überspitzt formuliert haben sich die großen Konzerne inzwischen zu Banken entwickelt, die auch über Fertigungsstätten verfügen. Die Folge dieser fehlenden Investitionsbereitschaft der Unternehmen und die Kreditfinanzierung der staatlichen und privaten Ausgaben legten letztlich die Basis für die jetzt so aufgeblähte Finanzwirtschaft und die folgenschweren Instabilitäten.

Das Investitionsverhalten der Unternehmen wird inzwischen – entsprechend der allgemein risikofeindlichen Haltung der Gesellschaft – auch durch die Kultur der Angst und der Vermeidung unvorhersehbarer Konsequenzen und Risiken negativ beeinflusst. Das Risiko-Controlling, das – abgesehen von den Banken – erst in den letzten Jahren wohl in den meisten größeren Unternehmen eingeführt wurde, führt in diesem gesellschaftlichen Umfeld nicht wirklich zu einem neutralen Abwägen von Chancen und Risiken, denn die Gefahren werden so potenziell übergewichtet. So kämpft beispielsweise die Pharmabranche derzeit mit dem Problem, dass in den nächsten Jahren viele Medikamente, die derzeit als Blockbuster Milliardenumsätze generieren, ihren Patentschutz verlieren und Generikahersteller als Konkurrenten auftreten. Weltweit sind offenbar zu wenig erfolgversprechende Medikamente in der Entwicklungspipeline. Derzeit gelingt es den Unternehmen nicht, ihr ureigenstes Geschäftsmodell, nämlich die Entwicklung und Einführung neuer Medikamente, das hohen Kapitaleinsatz und hohe Risikobereitschaft verlangt, erfolgreich zu bewältigen. Pfizer etwa kündigte kürzlich sogar an, die Forschung herunterschrauben zu wollen. Andere Unternehmen versuchen, mit den Generikaherstellern zu konkurrieren oder kaufen diese auf, um auf diese Weise fortzubestehen.

Die aktuelle Finanzkrise ist ein praktischer Beleg für die Risikovermeidungsstrategie der Unternehmen. Im Grunde wollte keines der großen Finanzhäuser das Risiko für die eigenen Geschäftsentscheidungen tragen. Daher leitete jeder die verbrieften Kredite, verkleidet als hochkomplexe Finanzinstrumente, weiter und versuchte dabei, sich möglichst vollständig des Kreditausfallrisikos zu entledigen. Im Ergebnis jedoch wurde diese Strategie zum Problem, als es in einem Bereich des US-Häusermarktes zu Schwierigkeiten kam. Plötzlich war der gesamte Markt von dem Problem betroffen.

Der ängstliche Umgang mit Risiken befördert ein Unternehmensverhalten, das sich auf die Wirtschaft insgesamt negativ auswirkt. Es ist allerdings auch so, dass die Unternehmen, um wirtschaftlich bestehen zu können, im Markt mit Wettbewerbern konkurrieren müssen. Es bleibt ihnen unter Androhung des eigenen Untergangs gar nichts anderes übrig, als immer wieder (möglichst überschaubare, kurzfristige) Risiken einzugehen, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Heute ist es offenbar aber so, dass dies kaum ein Unternehmen freiwillig und auf seine eigene Stärke vertrauend zu tun scheint. Ganz im Gegenteil: Die Unternehmen sehen es offenbar – entgegen der von den führenden Politikern vertretenen Auffassung – zunehmend als ein notwendiges Übel.

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