01.09.2008

Georgien: Die Wahrheit hinter den Schuldzuweisungen

Analyse von Brendan O’Neill

Schwarz-Weiß-Darstellungen des Konflikts in Südossetien verschleiern, wie sehr der westliche „Krieg gegen den Terror“ die Region destabilisiert hat.

Nach dem Ausbruch des Konflikts in Georgien und Südossetien im August meinten viele, hier verteidige sich eine kleine, demokratische Republik (Georgien) mutig gegen einen unberechenbaren und übermächtigen Nachbarn (Russland). Georgien, so die dominierende Lesart, habe also in Südossetien tapfer seine „westlichen Werte“ verteidigt, Russland dagegen durch Instrumentalisierung der separatistischen Bestrebungen der Südosseten einen wehrlosen Staat zerstört.1 Viele fordern nun, der Westen und insbesondere die USA sollten Georgien als Vertreter westlicher Freiheit und Zivilisation im Osten zu Hilfe eilen2 und die Russen bestrafen – u.a. durch den Rauswurf Moskaus aus der G8.3 In Deutschland prägt nun die Idee, Europa sei ohnmächtig gegenüber seinem „gefährlichen“ russischen Nachbarn, die publizistische und politische Aufarbeitung der Ereignisse in Georgien.4

Diese Darstellung ist in fast in jeder Hinsicht falsch. Georgien ist keine freiheitsliebende, demokratische Republik, sondern ein zunehmend autoritäres Regime, das kritische Medien verbietet und Oppositionsparteien kriminalisiert.5 Und Russland agiert nicht aus imperialer Machtgier, sondern mit der Rücksichtslosigkeit der Verzweiflung, denn es sieht seine Souveränität und seine staatliche Integrität durch ehemals sowjetische Republiken zunehmend gefährdet. Westliche Intervention ist aber vor allem nicht nur keine Lösung für Georgien, sondern hat die Krise überhaupt erst so eskalieren lassen: Das moralische und militärische Aufrüsten ehemaliger Sowjetrepubliken durch die USA hat die Instabilität in der gesamten Kaukasusregion, Zentralasien und den Randgebieten Russlands enorm intensiviert. Das Blutvergießen vom August, als georgische Streitkräfte das abtrünnige Gebiet Südossetien bombardierten und Russland daraufhin in Georgien einmarschierte, war die Folge der zunehmend wirren Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Kaum ein Kommentar aus Europa und den USA befasst sich ernsthaft mit den Folgen der Militarisierung ehemaliger Sowjetrepubliken durch die USA und ihrer Animierung zu antirussischem Posieren. Von der Ukraine bis Usbekistan und Georgien stützt Washington dubiose Regierungsparteien und Regimes, die sich gegenüber dem Kreml zunehmend provokant in Stellung bringen. Die Folge: zunehmend autoritäre Verhältnisse im Osten und wachsende Spannungen in der Weltpolitik.

Wie viele ehemalige Sowjetrepubliken ist auch Georgien ein Staat ohne wirkliche Staatsräson, ohne vereinte politische Elite und ohne Identität. Als einer der über Nacht aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion hervorgegangenen kaukasischen und zentralasiatischen Staaten ist Georgien fragil, instabil und umfasst verschiedene ethnische Gruppen – nicht nur in Südossetien (das sich mit Nordossetien vereinen möchte), sondern auch in Abchasien, der westlichen Region an der Schwarzmeerküste, die sich großenteils selbst regiert, seit sie die georgischen Streitkräfte im Krieg von 1992 und 1993 besiegte. In den vergangenen zehn Jahren hat die kopflose Politik der USA erheblich zur Verschlechterung der ohnehin schwierigen Lage der ehemals sowjetischen Republiken beigetragen. Amerika wollte aus ihnen Außenposten im Krieg gegen den Terror machen. Unter dem Vorwand, Georgien und die Welt im Allgemeinen gegen die Bedrohung durch Terroristen zu schützen, hat Washington mehr als 120 Millionen Euro in die georgischen Streitkräfte gepumpt und sie mit Huey-Hubschraubern, tonnenweise Waffen und anspruchsvollem Training versorgt. Nur wenige Wochen vor dem Blutbad im August wurde berichtet, dass 1200 US-Militärs und 800 georgische Soldaten in der Militärbasis Vaziani nahe der georgischen Hauptstadt Tiflis intensives gemeinsames Training absolviert hätten.6 Zudem will Washington neue Raketenabwehrsysteme in Tschechien, Polen, in der Ukraine und möglicherweise auch in Georgien installieren, um die westliche Welt vor Raketenangriffen aus Iran oder Nordkorea zu schützen; der Kreml betrachtet dieses Vorhaben als Bedrohung Russlands.7 Georgische Truppen wurden in die „Koalition der Willigen“ des Irakkrieges integriert, und die USA möchte Georgien nun durch Aufnahme in die Nato für seine Kooperation belohnen.
Was man als „emotionale Okkupation“ der ehemaligen Sowjetrepubliken bezeichnen könnte – das Zelebrieren dieser Staaten als Leuchtfeuer der Freiheit im Osten und als tapfere Kriegerstaaten im globalen Krieg gegen den Terror hat zwei Konsequenzen. Es hat isolierten, opportunistischen und in manchen Fällen auch illegitimen Herrschern in den ehemals sowjetischen Republiken freie Hand bei der Einschüchterung und Unterdrückung ihrer politischen Gegner gelassen. Vor allem in Georgien und Usbekistan betrachten zunehmend autoritäre Machthaber die Unterstützung durch die USA als Ermunterung, sich mit welchen Mitteln auch immer an der Macht zu halten. Der georgische Präsident Michail Sakaschwili bezeichnete die militärische Auseinandersetzung mit Russland im August als Verteidigung der „Freiheit der Welt“ und begründete schon ein Jahr zuvor die verschärfte Repression innenpolitischer Gegner mit der Behauptung, sie planten einen Coup und unterstützten damit den Terrorismus.8 In Usbekistan ließ Präsident Islam Karimov 2005 Dutzende Regimegegner unter dem Vorwand einsperren, sie seinen radikale Islamisten. Als einige rebellierten und in der ostusbekischen Stadt Andijan Gefangene befreiten und Regierungsgebäude besetzten, eröffnete das usbekische Militär, in seinem Selbstvertrauen gestärkt durch die moralische und militärische Unterstützung aus den USA, das Feuer. Die Terrorisierung ehemaliger Sowjetrepubliken verzerrt ihre interne Dynamik, indem sie ihren Führern ermöglicht, jede Opposition als Teil einer islamischen Verschwörung darzustellen, die mit ihren amerikanischen Waffen niederzuschlagen ist.

Zum anderen hat diese Politik der USA den gesamten Osten destabilisiert. Spannungen zwischen dem Kreml und den ehemaligen Sowjetrepubliken gab es seit dem Untergang der Sowjetunion, als viele ehemalige Sowjetrepubliken ihre nationale Identität und kulturelle Tradition wiederentdeckten, bis zum konfliktreichen Abtrennungsprozess der Jahre 1990 und 1991. Durch die Aufforderung aus Washington, sich dem Westen als Partner im Kampf gegen den Terror anzuschließen, wurden diese Spannungen in vieler Hinsicht verschärft und zementiert – und sind folglich heute global und weitaus bedrohlicher.9 Der Export des Antiterrorkrieges in den Osten hat dem instabilen Verhältnis zwischen den Republiken und dem Kreml eine hochpolitisierte Dimension hinzugefügt, die eine Tendenz zur Internationalisierung dieser regionalen Spannungen erzeugt. Westliche Unterstützung hat die georgische Regierung nicht nur ermuntert, hart mit inneren Gegnern umzugehen, sondern auch im Kräftemessen mit Russland in die Offensive zu gehen. Deshalb ergriff Sakaschwili in völliger Überschätzung der realen Möglichkeiten Georgiens das provokante und irrationale Mittel eines militärischen Feldzuges zur Rückeroberung Südossetiens. Es kann kaum überraschen, dass Russland die daraus entstandene Lage zur Demonstration seiner inzwischen empfindlich geschwächten Autorität genutzt hat. Russlands verheerende Angriffe auf georgischem Gebiet sollten nicht nur Georgien schwächen, sondern auch anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und Washington eine Lehre erteilen. Selbst mit mittelmäßigen Kenntnissen im Bereich der internationalen Beziehungen sollte man wissen, dass Washington sich sehr ähnlich verhalten würde, würde Russland Truppen nach Mexiko entsenden und den antiamerikanischen Empfindungen der Mexikaner schmeicheln.

Die Ereignisse in Georgien und Südossetien zeigen, wie orientierungslos die heutige westliche Weltpolitik ist. Ohne Verankerung in einer klaren Konzeption eigener Interessen und ohne eine durchdachte Realpolitik schaffen Washington und seine Verbündeten nicht nur Probleme und neue Feinde für Russland, sondern auch für sich selbst.

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