01.09.2008

Fortschrittspessimismus und Besitzstandswahrung

Analyse von Hartmut Schönherr

Über Refeudalisierung und die Große Koalition des Stillstands.

Wahrlich, wir leben in erstaunlichen Zeiten. Bertelsmann verlegt bereits in der sechsten Auflage ein Buch, das zur Revolution aufruft. Jean Zieglers Das Imperium der Schande erschien 2005 zunächst auf Französisch, dann auf Deutsch und Englisch. Der UN-Sonderberichterstatter (2000–2008) für das Recht auf Nahrung beginnt sein Buch mit dem Wort „Aufklärung“ als Fanal. Dann führt er aus, wie dieses Wort Fleisch geworden ist in der Französischen Revolution. Und dass wir uns heute in einer ähnlichen Situation befinden wie die Fortschrittsenthusiasten von 1789, umgeben von feudaler Bedrohung. Der neue Feudalismus heiße: Allmacht weniger globaler Konzerne. Ziegler zitiert den Revolutionär Gracchus Babeuf, der im damaligen Frankreich nur die Möglichkeit eines „totalen Umsturzes“ sah, um die Missstände zu ändern. Das Vorwort zum Imperium der Schande endet mit dem Bekenntnis: „Ich möchte dazu beitragen, das Bewusstsein für die Notwendigkeit dieses Umsturzes zu schärfen.“1

Wird die Französische Revolution widerrufen?

Im Kern von Zieglers Argumentation steht ein historisch frei schwebender, essenzialisierter Begriff von „Feudalismus“, der seit einigen Jahren vermehrt die Runde macht. Gemeint ist damit zum einen das Erstarken von demokratisch nicht legitimierten und kontrollierten Machtzentren, zum anderen eine neue soziale Polarisierung der Gesellschaft. Angefangen hat die Konjunktur des Konzepts mit der Auflösung der DDR. Da kam der alte Adel zunächst mit Ansprüchen auf die Rückgabe seiner Vermögen und dann mit Aufkäufen riesiger Wälder. Rasch machte die Rede von einer „Refeudalisierung“ des Ostens die Runde. Wo neue Feudalherren auftauchten, wurden die Bürgermeister gelegentlich zu Vögten und die „Normalbevölkerung“ zu Untertanen und Bediensteten, die „ihren“ ehemaligen Wald nicht mehr ohne Weiteres betreten konnten – um das Jagdwild oder den teilweise massiven Holzeinschlag nicht zu stören.

Diese „bodenständige“, realpolitisch motivierte Konjunktur des Begriffs verband sich rasch mit einer älteren, die vor allem in postmarxistischen Kreisen kursiert und den Kapitalismus als Fortsetzung des Feudalismus mit anderen Mitteln begreift. Sein Name ist Neofeudalismus oder, mit einer Prägung von Harald Wozniewski, „Meudalismus“ (abgeleitet von „moderner Feudalismus“). Vorbereitet hat diese Begriffsverwendung Karl Marx selbst, als er von einem „Feudalismus im weitesten Sinne“ sprach und damit jede Form existenzieller sozialer Ungleichheit meinte, „das geistige Tierreich, die Welt der geschiedenen Menschheit“.2

Riskanter leben in der Mittelschicht

Längst ist das Thema auch im bürgerlichen Lager angekommen. Eine vom sozialen Abstieg sich bedroht fühlende Mittelschicht hat schon 1986 bei Ulrich Beck die Theorie zur eigenen Befindlichkeit finden können. Ist doch seine Publikation Risikogesellschaft nicht nur, wie der Autor selbst betont, eine Auseinandersetzung mit der „modernen Religion des Fortschritts“, sondern auch eine elaborierte Klage darüber, dass der Bau des Eigenheims und der Kauf des Zweitwagens gewisse gesamtgesellschaftliche Konsequenzen hat, die sich mit Mülltrennung alleine nicht beseitigen lassen. Beck konstatiert eine „Inkompatibilität von Reichtums- und Risikoverteilung“ und meint damit, dass Risiken heute alle angehen, nicht mehr nur die Profiteure des riskanten Engagements. Als Beispiel zitiert er den Fallout von Tschernobyl. Dabei war es doch schon immer so, dass die Abwässer einer Industrieanlage alle Anrainer flussabwärts betrafen. Interessanter ist Becks Hinweis auf das Risiko, mit einer guten Schulausbildung einem Arbeitsmarkt gegenüberzustehen, der kein Problem damit hat, einen Akademiker Taxi fahren zu lassen oder approbierte Mediziner nach dem Prinzip des „Hire and Fire“ zu behandeln. Denn „Bildung“ war, zumal in Deutschland, eines der wirkkräftigsten Konzepte gegen den Feudalismus. Schlägt nun der feudale Zeitgeist zurück? Beck zufolge reagiert der Arbeitsmarkt auf ein zunehmendes Überangebot an Fachkräften in bestimmten Bereichen mit neuen ständischen Mechanismen zur Arbeitsplatzverteilung. So komme es zu einer „Refeudalisierung in der Verteilung von Chancen und Risiken am Arbeitsmarkt“.3

Der Begriff „Refeudalisierung“ bietet eine griffige Formulierung für das, was Jean Ziegler als den „organisierten Mangel“ im globalen Wirtschaftssystem ansieht. Dabei geht es Ziegler allerdings nicht vorrangig um die Sorgen des deutschen Mittelstandes, sondern um existenzbedrohende Armut außerhalb der mit Adipositas kämpfenden Regionen. Eine Armut, die aktuell, wie schon im Kontext der Französischen Revolution, vor allem Getreidespekulanten angelastet wird – nachzulesen etwa im Spiegel-Titel vom 9. Juni 2008 „Angriff auf den Wohlstand“, der unübersehbar wieder den Mittelstand mit ins Boot der Betroffenheit nimmt. War im Wirtschaftsleben der Nachkriegszeit Risiko primär eine dem freien Unternehmertum zugeordnete Kategorie, so tritt bei Beck und anderen das einzelne Individuum privatissimum in das Zentrum der Betrachtung – auch, wo ein Risiko global auftritt, wie im Extrembeispiel eines großen nuklearen oder biotechnologischen Unfalls.4 Dies impliziert, dass Refeudalisierung neue Risiken schaffe. Es gibt allerdings auch gute Argumente für die gegenteilige Auffassung, dass neue Risiken den Zug zur Refeudalisierung bedingen.

Fortschrittsskepsis und Risikovermeidung

Walter Eucken, einer der Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft, beschreibt in Grundsätze der Wirtschaftspolitik, wie in Zeiten unklarer wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen Firmen dazu neigen, sich zu großen Konglomeraten zusammenzuschließen. Er benennt damit einen Angelpunkt, an dem unternehmerische Risikobereitschaft angesichts zunehmender oder schwer kalkulierbarer Risiken in Risikovermeidung umschlägt. Nebenbei fühlt auch Eucken sich angesichts der Entwicklung des Staates im 20. Jahrhundert „an Schilderungen des mittelalterlichen Feudalsystems erinnert“. Und er meint damit z.B. die ständische Ausschaltung oder Verhinderung von Konkurrenz.5 Euckens ordoliberaler Kampfgefährte Alexander Rüstow vertrat in seiner Auseinandersetzung mit dem „Versagen des Wirtschaftsliberalismus“ im 19. und 20. Jahrhundert die Meinung, „dass das traditionelle unbeschränkte Erbrecht ein feudales Element war, das dem Kapitalismus seinen subfeudalplutokratischen Charakter gab“. Ein weiteres „feudaloides“ Element sieht Rüstow darin, dass der moderne Staat als Güterverteiler lehensähnliche Beziehungen schaffe. An die Adresse insbesondere der europäischen Staaten geht seine Mahnung, „dass der Staat, der damit anfängt, die Bestien der Gruppeninteressen zu füttern, damit endet, dass er von ihnen aufgefressen wird“.6

Die Kultursoziologie von Norbert Elias bietet eine Erklärung dafür an, was hinter diesen zerstreuten Einzelbeobachtungen zur Refeudalisierung stecken könnte. In der Einleitung zur Neuausgabe von Über den Prozess der Zivilisation aus dem Jahre 1968 führt Elias aus, wie die gleichzeitige Durchsetzung konkurrierender Gruppeninteressen im 20. Jahrhundert einher ging mit einer tiefen Fortschrittsskepsis. Er stellt fest, „im Gesamtchor der Zeit sind die Stimmen derer, die den Fortschritt als etwas Wertvolles bejahen, die in der Verbesserung der Lage der Menschen das Kernstück eines gesellschaftlichen Ideals sehen und die mit Zuversicht an die bessere Zukunft der Menschheit glauben, erheblich schwächer als in den vorgehenden Jahrhunderten geworden“.7 Elias diagnostiziert eine selbstgenügsame Balance von Industriebürgertum und Industriearbeiterschaft, die sich in feudaler Selbstherrlichkeit ihre jeweiligen Pfründe gesichert haben und bestenfalls wach werden, wenn sich Bedrohungen zeigen. Als Bindeglied beziehen sie sich dabei auf eine statische Idee der Nation, die den Internationalismus der Aufklärung, unter deren Zeichen die beiden Gruppen angetreten waren, verrät.

Koalitionen des Stillstands

Diese Analyse schrieb Elias zu Zeiten der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger. Zwischenzeitlich schien sie überholt. Und nun taugt sie unversehens wieder, um bestimmte Züge im Erstarrungsschauspiel der aktuellen Großen Koalition zu verstehen. Wer, so Elias, von der Zukunft nichts erwartet, für den bedeutet die Kategorie Fortschritt nur dann noch etwas, wenn sie zur Besitzstandswahrung dient. In diesem Zusammenhang gewinnt das wiedererwachte Interesse an Grund und Boden besondere Bedeutung. Nicht nur bei neuen Freiberuflern und alten Bauern, sondern auch bei Investoren grassiert das Verlangen nach Werten, die nicht beim nächsten Platzen einer Spekulationsblase dahinschwinden. Thomas Hoof, Begründer von „Manufactum“, dem Versandhandel für „die guten Dinge“, hat seinen Laden im Herbst 2007 verkauft. Er möchte sich nun in der Wald- und Landwirtschaft engagieren, „den eigentlichen Zukunftsbranchen“. Das klingt nach schönstem Biedermeier – aber hat die erste Industrialisierung in Deutschland nicht auch mit einem Biedermeier begonnen? Und begleitet wurde sie von einer Zeitschrift mit dem Titel Die Gartenlaube, die sich durchaus fortschrittlichen Ideen verschrieben hatte. Nehmen wir Thomas Hoofs Zukunftsvision also besser auch nicht zu wörtlich.

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