01.09.2008

Antiamerikanismus und die Suche nach dem Sinn

Kommentar von Julian Namé

Amerikakritische Sentiments sind in Europa weit verbreitet; sie prägen auch die Wahrnehmung des US-Wahlkampfs. Während Barack Obama vielen Europäern als Hoffnungsträger gilt, steht der Republikaner John McCain für das „alte“ Amerika. Julian Namé fragt nach Inhalt und Ursprung des europäischen Antiamerikanismus und stellt fest, dass es eher um das Selbstverständnis des alten Kontinents als um eine fundierte Kritik an der Neuen Welt geht.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1776 provozierten die USA starke antiamerikanische Gefühle im alten Europa. Während die junge Republik den einen Inspiration und Hoffnung war, erfüllte sie andere mit Horror. Hier war eine Gesellschaft entstanden, die sowohl die Monarchie als Institution abgeschafft als auch eine strenge Trennung zwischen Kirche und Staat etabliert hatte. Eine solche Gesellschaft, das stand fest, musste verurteilt und verdammt werden. Doch ganz im Gegensatz zu den im damaligen Europa geltenden Vorstellungen versank die amerikanische Gesellschaft nicht in einer Orgie brutalen Durcheinanders, sondern wuchs und wuchs und wuchs. Wie war dies zu erklären? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage heizte schon früh Verschwörungstheorien und die für die damalige Zeit typischen antiamerikanischen Reaktionen an. Natürlich hat sich seither einiges verändert. Eine Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass der Antiamerikanismus – ein Begriff, an dem wir mangels besserer Begrifflichkeiten festhalten – heute viele verschiedene Formen annimmt. Die amerikakritischen Gefühle, die man häufig in Lateinamerika antrifft – einer Region, die des Öfteren Opfer amerikanischer Kanonenbootdiplomatie, aggressiver Außenpolitik und von Geheimdienstaktionen wurde –, stellen etwas ganz anderes dar als der gelegentliche Antiamerikanismus der aufsteigenden, selbstbewussten chinesischen Elite. Es ist offensichtlich, dass es vollkommen fehl am Platze wäre, diese beiden Formen über einen Kamm zu scheren. Obwohl sie sich beide gegen die USA richten, haben sie doch gänzlich unterschiedliche Bedeutungen.

Anders als in der Vergangenheit wird im heutigen Europa oft ein Amerikabild verbreitet, das durch Angst, Panik und die Beschwörung drohender Gefahren gekennzeichnet ist. Es sind Meinungen wie die, dass führende US-Firmen hinterlistig die Nutzung von Genfood ausweiten und somit die Sicherheit unserer Nahrungsmittel gefährden oder dass sich amerikanische Pharmakonzerne schadenfroh eine Vogelgrippenpandemie herbeisehnten, um ihre Impfstoffe verkaufen zu können, die heute Ausdruck antiamerkanischer Sentiments sind. BSE, so ein weiteres Beispiel, sei das unumgängliche Resultat inhumaner Technologien, wie sie für den amerikanischen Agrarmarkt typisch seien. Hierzu gehört natürlich auch die weit verbreitete Meinung, dass der Hurrikan „Katrina“ der Supermacht im Jahr 2005 auf demütigende Weise deutlich gemacht habe, dass sie den Klimawandel nicht einfach ignorieren könne. Die Liste solcher Beispiele ist schier endlos. Es scheint fast so, als wäre die heutige Amerikakritik zu einer Metapher geworden, mit der ein vages Gefühl der Verwirrung und Unsicherheit über die Welt ausgedrückt wird. Die häufigen Anspielungen auf das Unbekannte, Unsichere und Unvorhersehbare suggerieren, dass uns ein stabiles Wertesystem fehlt, das uns helfen könnte, die Welt zu verstehen. Genau diese Suche nach dem Sinn verleiht dem heutigen Antiamerikanismus seinen scheinbar losgelösten und unvorhersehbaren Charakter.

Anders als heute wurde der Antiamerikanismus des Kalten Krieges entweder formell oder informell durch ein bereits bestehendes Normensystem, durch Institutionen und Führungen gerechtfertigt. Eingebunden in einer Reihe von Gesetzen, Prinzipien und gängigen Annahmen waren solche Haltungen immer Teil eines kohärenten Wertesystems, das zum Großteil von der Gesellschaft mitgetragen wurde. Ein gutes Beispiel hierfür bietet das Werk von Jean-Jacques Servan-Schreiber aus dem Jahr 1967 mit dem Titel: Le Défi Américain. In dem zu Hochzeiten des Kalten Krieges geschriebenen und viel gelesenen Werk drückt der Autor seine Sorge vor der wachsenden Zahl multinationaler und amerikanischer Firmen aus, die sich damals in Westeuropa ansiedelten. Er sprach von der Gefahr, dass Europa die Kontrolle über seine Politik, Wirtschaft und Identität verlöre. Es gelang ihm, seine Sorgen als sehr bedeutend darzustellen, weil er seinen Gegner – Amerika – genau benennen konnte und die ohnehin von allen vermuteten unterschwelligen Ziele des Landes – die Verbreitung des amerikanischen Liberalismus – „aufdeckte“. Stellung gegen den Einfluss amerikanischer Multis zu beziehen, bedeutete auf der politischen Ebene, sich der Einschränkung nationaler Souveränität entgegenzustellen. Auf der ideologischen Ebene war es gleichbedeutend mit einem Standpunkt gegen den amerikanischen Liberalismus, und auf der kulturellen Ebene verlieht man damit dem Ziel, die Amerikanisierung Westeuropas abmildern zu wollen, Ausdruck. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass Servan-Schreiber seinen antiamerikanischen Gefühlen einen tieferen Sinn dadurch verleihen konnte, dass er an unterschiedliche, allgemein akzeptierte Vorstellungen appellierte, die sowohl die Politik als auch die Rolle des Marktes und Fragen des schlechten Geschmacks betrafen. Genau diese Fähigkeit, an gängige Meinungen anzuknüpfen, fehlt heute.

Die Unfähigkeit, den antiamerikanischen Reaktionen in Europa einen Sinn zu verleihen, der sich nicht nur durch die Sprache der Angst, Panik und Risikoscheu auszeichnet, ist augenscheinlich. Dennoch verbirgt sich hinter vielen der in Europa geäußerten Gefühle gegenüber Amerika eine gemeinsame Linie: Sie alle drücken ein unterschwelliges Gefühl der Verletzlichkeit aus. Es scheint sogar, als wäre genau dieser Appell an die Verletzlichkeit der Grund, weshalb die antiamerikanischen Gefühle heute so sehr zur gängigen Meinung gehören. Dies ist ziemlich erstaunlich, bedenkt man, dass es selbst zu den Hochzeiten des Kalten Krieges in den 50er- und 60er-Jahren sehr ungewöhnlich war, die Verletzlichkeit ganzer Gruppen von Menschen zu beschreiben und so zu tun, als lebten sie in einer permanenten Krise. Die heutige Amerikafeindlichkeit reflektiert eine in dieser Form nie da gewesene Sensibilität für die Verletzlichkeit von Menschen. Während die Darstellung der Verletzlichkeit als intrinsischer Teil unseres Lebens in den 70er-Jahren aufkam, wurde sie vor allem von Autoren propagiert, die das öffentliche Bewusstsein für Umweltfragen schärfen wollten. Doch wie Frank Furedi in seinem Buch Invitation to Terror: The Expanding Empire of the Unknown schreibt, hatte sich seither das Konzept der Verletzlichkeit ausgeweitet – von der Ökologie hin zu den Sozialwissenschaften und vor allem zur Psychologie. Das Konzept der „Verletzlichkeit“, das der psychologischen Analyse einzelner Charaktereigenschaften diente, wurde schnell auf ganze Gruppen übertragen. Der Rhetorik der Verletzlichkeit kommt in der psychologischen Sprache, die in unserer heutigen Kultur eine so große Rolle spielt, eine zentrale Funktion zu. Die Projektion eines Szenarios, in dem Individuen und ihre Gemeinschaften in einem permanenten Zustand der Verletzlichkeit gegenüber der Natur leben, ist in einer therapeutischen Sprache neu erfunden worden.

Diese Sprache, die Verletzlichkeit und emotionale Schäden als einen Dauerzustand darstellen, ist eine moderne Entwicklung. Es ist wichtig festzustellen, dass selbst Mitte der 80er-Jahre der Begriff „Verletzlichkeit“ nur selektiv benutzt wurde und sich auf Episoden in unserem Leben bezog und nicht auf etwas, das uns für den Rest des Lebens kennzeichnen würde. In den 90er-Jahren wurden Menschen, von denen man annahm, dass sie wirtschaftliche, soziale oder moralische Unterstützung benötigten, in zunehmendem Maße als „verletzlich“, „die Verletzlichen“ oder als „die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft“ beschrieben. Antiamerikanische Gefühle scheinen vor diesem Hintergrund des Appells an die Verletzlichkeit eine neue Bedeutung zu erlangen. Der moderne Antiamerikanismus bringt zum Ausdruck, dass wir alle verletzlich sind. Es ist traurig und paradox zugleich, dass sich hinter dieser tiefen Ablehnung Amerikas auch ein gewisser Selbsthass und die Ablehnung unserer eigenen Gesellschaft verbergen. Mit echter Kritik hat die Anbiederung an derlei Gefühle jedenfalls nichts zu tun.

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