01.07.2008
Geschichte ist natürlich alles
Essay von Bernd Herrmann
Über den Unterschied zwischen der Geschichte der Natur und Naturgeschichten.
Was ist natürlich, was künstlich? Im landläufigen Sprachgebrauch, gestützt auf alltägliche Erfahrung, scheint es nicht schwer, Natur und Zivilisation auseinanderzuhalten. Auf die meisten wirkt Mecklenburg mit seinen Seen, Reihern, Störchen natürlich, der Ballungsraum Berlin künstlich. Andererseits ist in Großstädten nicht selten die Artenvielfalt höher als auf dem platten Land. In Städten finden viele Tierarten Rückzugsräume, es ist wärmer, und es gibt durch Gärten, Parks und Abfall ein größeres Nahrungsangebot als, sagen wir, auf der Insel Hiddensee. Sobald man versucht, Zivilisation und Natur genauer zu definieren, stellt man fest: es ist gar nicht so einfach. Die Verwirrung ist nicht neu. Vor gut 100 Jahren schrieb der Worpsweder Maler Otto Modersohn, die Natur sei die Lehrerin des Künstlers. Und merkte an, dieser Gedanke sei ihm gekommen „auf der Brücke, die dort über den Kanal führt“. Wenn es grün aussieht, das Wasser schön plätschert, mag es geschehen, dass wir einen Kanal mit einer Brücke für die natürlichste Sache der Welt halten. Solche Verwechslungen sind häufig – heute, da uns viele Errungenschaften zur zweiten Natur geworden sind, mehr als früher. Dem einen ist sein Fahrrad Hightech-Apparat, dem anderen Drahtesel für Touren ins Grüne.
Man sollte sich nicht zu sehr auf den Augenschein verlassen. Um Perspektive zu gewinnen, hilft es, sich dem Thema historisch zu nähern. Sieht man, was zu unterschiedlichen Zeiten als Natur und was als Kunstprodukt galt und wie sich die Abgrenzungen im Laufe der Zeit verschoben haben, tut man sich leichter, Phänomene der Gegenwart einzuordnen. Auch wenn es sich mit ihnen wieder ganz anders verhält. Hilfestellung hierbei kann man von David Blackbourns Buch Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft erwarten. So allgemein, wie es der Titel vorgibt, ist Blackbourns Ansatz nicht. Warum der Verlag den Untertitel des englischen Originals Water, Landscape and the Making of Modern Germany um das entscheidende Wort „Wasser“ gekürzt hat, bleibt sein Geheimnis. Blackbourn schreibt nicht über Landschaft an sich, ihm geht es um die Regulierung von Flüssen, Eindeichungen, Talsperren und Kanäle.
Leider ist das Buch, es hat knapp 600 Seiten, schlecht bebildert. Will man begreifen, wie sich Landschaften verändert haben, sind Illustrationen und Landkarten hilfreich. Die Karten im Buch jedoch zeigen (mit einer Ausnahme) Allgemeinheiten wie die „Ostfriesische Halbinsel“ oder „Preußen im Zeitalter Friedrichs des Großen“. Damit ist wenig anzufangen. Noch etwas stört. Anmerkungen und Literaturlisten gehören in ein wissenschaftliches Werk. Muss dieser Apparat aber mit 160 Seiten fast ein Drittel des Buchs einnehmen? Die Verwunderung wächst, wenn man erfährt, dass Blackbourn allein aus der Zeit um 1900 200 Bücher, Aufsätze und Broschüren über Staudämme gelesen hat (S. 233). Gleichzeitig aber fehlen wichtige Figuren. Max Eyth, der erfolgreichste Techniker unter den Schriftstellern des 19. Jahrhunderts und noch weit ins folgende Jahrhundert hinein Bestsellerautor, wird nicht einmal erwähnt.
Blackbourns Buch hat, grob gesagt, einen hellen und einen dunklen Teil. „Wer den Boden verbessert, wüst liegendes Land urbar macht und Sümpfe austrocknet, der macht Eroberungen von der Natur“, so Friedrich der Große, unter dessen Herrschaft die Oder eingedeicht und Teile des Oderbruchs trockengelegt wurden. Bei diesen „Heldentaten“ (S. 48) des 18. und 19. Jahrhunderts überwiegt das Licht. Immer wieder wird treffend dargelegt, dass die Annahme, seinerzeit sei Natur zerstört worden, zweifelhaft ist, da Landschaften wie Oderbruch oder Rheintal zuvor schon stark von Menschen geprägt waren – von Fischern, Jägern, Goldwäschern und Kleinbauern. Umgekehrt zeigt Blackbourn, dass die neu geschaffenen Landschaften innerhalb kurzer Zeit meist nicht mehr als Kunstprodukte wahrgenommen wurden, sondern bald ihrerseits als Naturidyllen galten.
Zu Blackbourns positiver Bewertung dieser frühen Großprojekte trägt zweierlei bei: Zum einen überwiegen die Verbesserungen, die durch sie erzielt wurden, die Nachteile ungemein. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert war in vielen Feuchtgebieten Deutschlands die Malaria eine ständige Plage. Im 19. Jahrhundert wanderten allein vier Millionen Deutsche in die USA aus, um dem Elend zu entfliehen. Dass die neu erschlossenen Gebiete zum Wohlstand und einem menschenwürdigen Leben beitrugen, ist bestens belegt. Ein zweiter Faktor, und das macht für Blackbourn u.a. das „Heroische“ der frühen Projekte aus, ist, dass noch bis ins späte 19. Jahrhundert auf Baustellen aus Mangel an Maschinen von Hand gearbeitet wurde – umso erstaunlicher die Leistungen. Umso erstaunlicher aber auch, wie leicht sich heutige Autoren (Blackbourn ist hier nicht immer eine Ausnahme) über das Elend solcher Schufterei hinwegsetzen. Das Denkschema „Maschine schlecht, Handwerk gut“ ist vor allem bei Menschen zu finden, die dank unzähliger Apparate fast nie dazu gezwungen sind, selbst Hand anzulegen.
Blackbourn fehlt für seine Analyse der theoretische Rahmen. Zwar ist es, schon um das Material zu organisieren, hilfreich, einen Teilausschnitt wie den Wasserbau zu betrachten. Nur wie begründet sich diese Auswahl? Und warum die gewählte, chronologische Abfolge? Gelten Blackbourn die ersten Talsperren noch als Pioniertaten, wird in der Folge die Beurteilung merklich kühler. Woran liegt es, dass um das Jahr 1900 Kritiker von Talsperren kaum Erfolg hatten, während 80 Jahre später die Ökologiebewegung Großprojekte verhindern konnte? Die Frage ist interessant, Blackbourns Antwort leider nicht. Die frühere Kritik hält er für zu subjektiv, an Kriterien der Schönheit ausgerichtet. In neueren, ökologischen Argumenten hingegen sieht er eine eher objektive Position, die sich von der Erfahrung, in einer zerstörten Umwelt leben zu müssen, ebenso herleitet wie von der Einsicht in die „Grenzen des Wachstums“. Dass die Wahrnehmung einer Landschaft, eines Bauwerks als schön sehr subjektiv sein kann, ist klar. Was an der Zerstörung der Umwelt, die in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts wesentlich geringer war als um 1900, objektiv ist, bleibt offen – ebenso wie die Frage, warum die „Grenzen des Wachstums“ Naturgesetz sein sollen.
Auch die Abfolge, in der Blackbourn sein Material präsentiert, ist problematisch. Wenn Entwicklungen zeitlich aufeinander folgen, bedeutet das nicht, das Spätere sei zwangsläufig aus dem Früheren hervorgegangen. Eben das suggeriert aber Blackbourn, wenn er auf seine Beschreibung der, in seiner Sicht, zunehmend problematischen großtechnischen Projekte des frühen 20. Jahrhunderts die Menschenvernichtung der Nazis folgen lässt. Nicht dass es explizit behauptet würde, aber allzu selbstverständlich folgt das Buch dem Klischee, menschliche Überheblichkeit habe von der Aufklärung über den Machbarkeitswahn des 19. Jahrhunderts unweigerlich zur instrumentellen Vernunft, zu Nazi-Barbarei und Holocaust geführt. Die zweite Hälfte des Buchs ist unscharf. Ihr fehlt der Fokus auf konkrete Projekte, der den ersten Teil oft erhellend macht. Zwar wird mit den Plänen der Nazis für die Pripjetsümpfe begonnen. Danach zerfällt die Darstellung aber in Allgemeinplätze, oder sie verliert sich in Details wie der Frage, warum führende Nazis Slawen mit Indianern verglichen. Das ist zwar gewissermaßen auch interessant; zum Thema des Buchs trägt es jedoch nichts bei.
Die Zeit nach 1945 wird sehr belletristisch abgehandelt. An einer Reihe von Beispielen erzählt Blackbourn, wie in den frühen 70er-Jahren in Westdeutschland das Umweltbewusstsein zunahm. Warum das geschah, weiß er nicht – es scheint sich um ein Naturereignis gehandelt zu haben: „Es war etwa so, wie wenn Wasser plötzlich zu Dampf wird oder zu Eis gefriert, ein plötzlicher Umschlag, wie er gelegentlich auch in der menschlichen Welt vorkommt“ (S. 401). Über die 80er- und 90er-Jahre erfährt man: „Der Umweltaktivismus in der breiten Bevölkerung nahm selbst dann noch zu, als die Lage sich weithin besserte“ (S. 403). Vergeblich sucht man auch nur den Versuch einer Erklärung. Der Historiker hat hier, so scheint es, kapituliert vor den unbegreiflichen Kräften der menschlichen Natur.