01.05.2008
Privatheit in Zeiten des Voyeurismus
Rezension von Michael Bross
Michael Bross rezensiert neue Bücher von Peter Schaar und Wolfgang Sofsky.
Terror entfaltet seine Kraft erst durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird. Die Gewalttäter und ihre Hintermänner planen ihre Gräuel im Verborgenen, nutzen aber die propagandistischen Möglichkeiten der medialen Plattformen des Informationszeitalters. Gesellschaft und Staat reagieren, indem sie auch noch die letzten Winkel der Lebenswelt der Bürger ausleuchten und überwachen. Damit demontiert die Abwehr des Terrors einen der zentralen Werte der freiheitlichen Gesellschaft: die Privatheit.
Der Niedergang der Privatsphäre speist sich aber nicht allein aus den vermeintlichen Notwendigkeiten der Terrorabwehr. Der Bürger schätzt die neuen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters mit seinen Chancen für Selbstdarstellung und virtuelle Interaktion. „Big Brother“, so Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, „sind wir alle ..., und wir beobachten uns selbst und finden dies auch noch interessant“. Freiwillig opfern Zeitgenossen einen Teil ihrer Privatsphäre, geben z.B. im Internet „ohne jeden Zwang ihre Persönlichkeitsprofile einer weltweiten Öffentlichkeit“ preis. Die Datenspuren, die jeder Nutzer dabei hinterlässt, sind prinzipiell endlos rekonstruierbar. Es gibt „im Netz kein Recht auf Vergessen-Werden“, mahnt Peter Schaar.
Ihre Ursache findet diese Unbekümmertheit beim Umgang mit privaten Informationen in einem Zeitgeist, der „Bekanntheit höher schätzt als Privatheit“, so der Soziologieprofessor Wolfgang Sofsky. Damit spielten die Bürger dem Staat in die Hände, denn jeder Machtapparat wolle „die Menschen in freundliche Nachbarn und fügsame Untertanen“ verwandeln. „Niemals hat sich der Staat mit der Sicherung der Freiheit begnügt. Stets war er auf die Ausdehnung seiner Herrschaft aus, und sei es unter dem Vorwand, die Gesellschaft sittlich verbessern zu wollen“, meint Sofsky.
Wir schaffen die Privatsphäre ab, um die Freiheit zu erhalten
Erst die technischen Möglichkeiten der modernen Datensammlung und Überwachung freilich verhelfen diesem staatlichen Machtanspruch über die Bürger zum Durchbruch. Die Informationsgesellschaft bedroht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil die Bürger wegen der ständigen „Erhebung, Speicherung, Übermittlung und Auswertung persönlicher Daten“ die Verfügungsmacht über die von ihnen preisgegebenen Informationen verlieren, urteilt Schaar. Die persönliche Informationspolitik jedes Menschen, der über sich natürlich nur Vorteilhaftes in Umlauf sehen will, wird dabei nachhaltig unterlaufen. In einem Wohlfahrtsstaat, in dem ein Großteil der Menschen zudem von den Institutionen der Bürokratie abhängig ist, wird in der Tat alles Private politisch. Das Wissen der Sozialbürokratie über die Lebensumstände ihrer „Staatskunden“ sei umfassender als das von Polizei oder Geheimdiensten, erinnert Schaar.
Zudem bemängelt er die geradezu naive Gedankenlosigkeit der Gesellschaft, die persönliche Daten massenhaft speichern lässt und aus der Hand gibt, ohne absehen zu können, welche Rückschlüsse über Individuen daraus bei künftigem wissenschaftlichem Fortschritt noch extrahiert werden. Beispielsweise werden im elektronischen Reisepass der EU die Fotografien in einem Datenformat gespeichert, das für die Identifikation des Passinhabers gar nicht benötigt wird. Der Pass offenbart zusätzliche Informationen über Personen und gestattet vermutlich auch Rückschlüsse auf deren Gesundheitszustand. Und der „genetische Fingerabdruck“ erlaube sogar Aussagen über Verwandte, so Schaar.
Da die Informationstechnologien nicht aufgehalten werden können, der Weg in den Überwachungsstaat aber vermieden werden muss, sind laut Schaar zwei Lernaufgaben zu bewältigen: Erstens müssen die Menschen wissen, was mit ihren Daten geschieht. Zweitens muss der Schutz gegen Registrierung, Verfälschung und Manipulation privater Daten gewährleistet werden, eine Aufgabe, für die sich alle Bürger einsetzen müssten, denn, so Schaar: „Der Schutz der Privatsphäre ist viel zu wichtig, um ihn den ‚Fachleuten‘ ... zu überlassen.“
Voyeure mit Dienstausweis schleifen die Zitadelle der Privatheit
Für Wolfgang Sofsky dagegen geht die „Verteidigung des Privaten“ weit über den Datenschutz hinaus und sei eine „Aufgabe jeder Zivilisation“. Mit Blick auf die Diskussionen über Online-Überwachung, die Erweiterung polizeilicher Befugnisse oder neue Vollmachten der Ermittlungsbehörden greife jeder Protest zu kurz. Sich auf Diskussionen über gesetzliche Beschränkungen der Privatsphäre überhaupt einzulassen, akzeptiere bereits den „Niedergang des Privaten“. Dagegen gelte es, Privatheit als die grundsätzliche Freiheit „des Glaubens und der Gedanken ... vor unerbetener Berührung und Belästigung, vor den Zwängen der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Staates“ umfassend und mit allen Kräften zu verteidigen. Folgerichtig greift Wolfgang Sofsky in seiner Streitschrift auch weit über den Datenschutz hinaus: In seinem radikal-liberalen Rundumschlag geißelt er jede staatliche Regulierung der Gesellschaft, die Eigentumskritik als Instrument der Gleichmacherei und die Besteuerung von Arbeitseinkommen als verdeckte Zwangsarbeit.
Peter Schaar fordert – hier weniger grundsätzlich – die Entwicklung einer „globalen Ethik des Informationszeitalters“ zum Schutz der individuellen Selbstbestimmung. Die Grundfrage sei dabei, wie „unsere Gesellschaft mit den Techniken und den dabei entstehenden persönlichen Datenspuren umgehen“ wolle. Außerdem müsse eine globale Informationsethik auch das Ausmaß der Kooperation von Unternehmen mit politischen Regimes regeln, die nicht westlichen Menschenrechtsstandards genügen.
Wie wichtig die Auseinandersetzung eines jeden mit dem Thema der informationellen Selbstbestimmung ist, wird dem Leser klar, der sich durch Peter Schaars detaillierte Gruselliste der Überwachung hindurchgelesen hat: Internet- und Telefonüberwachung, Funkchips und intelligentes Haus, Videokameras auf Bahnhöfen, öffentlichen Plätzen und Autobahnen, die schöne neue Welt von Genetik und Biometrie, e-Government; in der Privatwirtschaft ergänzt durch Marketingdaten und Schufa-Auskünfte. „Noch besteht die Chance“, macht uns der oberste deutsche Datenschützer Hoffnung, „dass unsere Gesellschaft diesem digitalen ‚Frankenstein-Erlebnis‘ einen Riegel vorschiebt. Es ist höchste Zeit, dass wir aufwachen.“
Es gibt auch Lichtblicke: Ende Februar und Anfang März 2008 urteilte das Bundesverfassungsgericht in zwei Fällen zugunsten der Privatsphäre. Das flächendeckende, anlasslose Scanning von Kfz-Kennzeichen in Hessen und Schleswig-Holstein wurde für nichtig erklärt und das Gesetz zur Online-Durchsuchung in Nordrhein-Westfalen für verfassungswidrig befunden. Damit dürfte der Zaun um die private Datensphäre für staatliche Voyeure wenigstens wieder etwas dichter geworden sein.