01.03.2008

Die Diktatur der Experten

Analyse von Frank Furedi

Regierungen treten mehr und mehr Machtbefugnisse an internationale Institutionen und an Experten ab. Die Demokratie wird dadurch ausgehebelt und die Menschen werden zu Einfaltspinseln gemacht.

Das Wort „Globalisierung“, das in den 90er-Jahren zum angesagten Begriff geworden ist, ähnelt mehr und mehr einem Mantra, einem mystischen Begriff, der, je öfter man ihn wiederholt, desto weniger Sinn ergibt. Auf ihn lassen sich scheinbar alle Fragen und Probleme der Gegenwart zurückführen. Der dahinter stehende Grundgedanke ist, dass das Zeitalter der Nationalstaaten vorbei und staatliche Souveränität ein Ding der Vergangenheit ist. In den 90er-Jahren konzentrierten sich Theoretiker der Globalisierung vor allem auf wirtschaftliche Aspekte. Mächtige Kräfte innerhalb der Weltwirtschaft, so die Behauptung, hätten die Nationalstaaten überwältigt und gäben den Regierungen immer weniger Spielraum zu handeln. In den letzten Jahren richtete sich das Augenmerk verstärkt auf weltweite Bedrohungen wie Klimawandel, Umweltzerstörung, neue Seuchen und Terrorismus, die nur durch internationale Zusammenarbeit abgewehrt werden könnten. Der Staat in seiner überkommenen Form stehe diesen Gefahren ohnmächtig gegenüber, weshalb souveräne Eigenstaatlichkeit heute keine Rolle mehr spiele.

Lässt man die Diskussionen der letzten 20, 30 Jahre über staatliche Souveränität und Globalisierung Revue passieren, ist man erstaunt, wie rasch Regierungen und ihre Vertreter den Gedanken aufgegriffen haben, dass ihre Institutionen nur noch wenig taugen. Hat die Globalisierung den Nationalstaat tatsächlich irrelevant gemacht? Wir sollten uns an dieser Stelle darauf besinnen, dass die Kräfte des Weltmarkts seit Beginn des Kapitalismus Nationalstaaten vor große Probleme gestellt haben. Unvorhersehbare Auf- und Abschwünge haben häufig kleine und schwache Staaten an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Lange bevor der Begriff „Globalisierung“ erfunden wurde, hatten Denker und Autoren erkannt, dass die Weltwirtschaft dazu neigt, staatliche Politik zu unterminieren. Es ist wenig wahrscheinlich, dass der gegenwärtige Rückzug von Positionen staatlicher Souveränität und die Behauptung, die Tage der Nationalstaaten seien gezählt, die unmittelbare Folge einer quantitativen oder gar qualitativen Zunahme des Welthandels ist.

Im Unterschied zu den meisten Globalisierungstheoretikern ist für Zaki Laïdi, Verfasser von The Great Disruption, die Gegenwart nicht von der Ausweitung des Weltmarkts geprägt. Die Globalisierung, so Laïdi, sei nicht einfach eine Anzahl messbarer Prozesse, sondern eine „Wiedergabe der Welt“, die er als „imaginär“ beschreibt. Für ihn ist Globalisierung eine Art phänomenologisches Werkzeug, mit dem sich der Welt ein Sinn geben lässt. Anders gesagt: Globalisierung ist eine kulturelle Aussage über unsere Gegenwart. Sollte das zutreffen und sich die Globalisierung in der Tat vor allem unserer Vorstellungsgabe verdanken, muss man sich fragen, warum der Westen die Globalisierung so rasch zum Kernbestandteil seines politischen Denkens gemacht hat. Leider geht Laïdi gerade dieser Frage nicht nach.

Der Aufstieg der Globalisierungstheorien ist die Folge eines Vertrauensschwunds in die Tragfähigkeit und Legitimität des Staates. Öffentliche Einrichtungen und der Staat selbst erleben seit geraumer Zeit eine Krise ihrer Legitimität. Bereits in den 70er- und 80er-Jahren wurde deutlich, dass wesentliche Institutionen des Westens kriselten. Da die politischen Eliten selbst immer weniger Vertrauen in ihre eigene Autorität haben, versuchen sie, ihr Handeln anderweitig zu legitimieren – etwa über Wissenschaftler oder Experten, die vorgeblich unpolitische und rein sachliche Entscheidungen treffen. Immer häufiger beziehen gewählte Regierungen ihre Autorität aus internationalen Institutionen oder Verträgen. Besonders weit fortgeschritten ist dieses Outsourcing von Verantwortung in der Europäischen Union. Regierungen von EU-Staaten müssen für eine ganze Reihe von Regelungen und Gesetzen keine direkte Verantwortung mehr übernehmen. Regt sich Unmut, verweisen sie auf die überstaatliche, technokratische EU als Ursache des Übels. In früheren Zeiten hätten Regierungen nicht im Traum daran gedacht, freiwillig einen Teil ihrer Souveränität abzutreten. Heute sind sie geradezu versessen darauf, internationalen Vereinbarungen beizutreten und sich der Kontrolle nichtstaatlicher Körperschaften zu unterwerfen.

Laïdi erkennt diese Tendenzen, bewertet sie jedoch positiv. Dabei übersieht er: Autorität, die geteilt, zusammengelegt oder anderweitig abgewickelt wird, verliert an Bedeutung. Übersehen wird zudem, dass Regierungen, die einen Teil ihrer Macht, die sie durch demokratische Wahlen erlangt haben, abtreten, äußerst undemokratisch handeln und sich damit aus der Verantwortung stehlen. In den vergangenen Jahren haben sich Regierungen bei unpopulären Entscheidungen immer häufiger darauf zurückgezogen, dass ihnen durch internationale Verträge die Hände gebunden seien.

Kritiker wie auch Unterstützer der EU bemängeln häufig die Bürokratie und den Formalismus, mit dem ihre Institutionen arbeiten. Auch Laïdi räumt ein, dass es innerhalb der EU gewisse Demokratiedefizite gebe. Er sieht darin jedoch kein großes Problem, da andererseits durch solche Institutionen das „globale Verantwortungsbewusstsein“ wachse und die „globale Zivilgesellschaft“ an Bedeutung gewinne.

Das Hohelied der globalen Zivilgesellschaft wird heute gesungen, da die Öffentlichkeit nichts mehr gilt. Entsprechend werden neue Formen gesucht, Macht auszuüben, ohne sich dabei dem demokratischen Druck der Menge auszusetzen. Wenn Macht von der nationalen in die globale Arena verlagert wird, geht sie vom „demos“, dem Volk, auf die Experten über. Für Laïdi legitimieren sich die Akteure der internationalen Zivilgesellschaft – konkret: NGOs und internationale Körperschaften – durch ihre Sachkunde. Was er dabei übersieht: Wenn diejenigen, die es am besten wissen, die Regeln machen, dann erübrigt sich jede demokratische Wahl. Laïdi fällt dieser antidemokratische Zug der Expertokratie nicht auf. „Sachkunde ist die Waffe der Wissenden im Kampf gegen die Entscheidungsträger“, schreibt er. Spielt sich aber Politik ab als eine Auseinandersetzung zwischen Entscheidern und Experten, hat die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht mitzureden – allenfalls darf gemurrt oder abgenickt werden.

Der größte Vorzug von Laïdis The Great Disruption liegt darin, dass das Buch sehr genau aufzeigt, wie das Outsourcing von Macht an Fachleute und internationale Organisationen zu der Art von Politik führt, die wir heute erleben – eine Politik, die jedes Risiko meiden und alles regulieren will. Laïdi zufolge wenden sich die neuen, postnationalen Institutionen wie selbstverständlich der Umwelt als dem Thema des 21. Jahrhunderts zu. Für ihn gibt es drei Gründe, warum Umwelt in Europa das politische Thema Nummer eins ist. „Erstens handelt es sich dabei um einen Bereich, in dem man sehr gut neue Normen und Standards setzen kann.“ Zweitens kann man hier eine Politik betreiben, durch die „das politische Gebilde Europa an Legitimität gewinnt“. Und drittens „ist die Umwelt der Bereich, an dem es am allermeisten um geteilte Souveränität geht“. Daraus folgt: Eben hier, in der Umweltpolitik, ist die Auslagerung von Macht am vielversprechendsten.

Bedauerlicherweise werden Laïdis wertvolle Einsichten dadurch geschmälert, dass er sich von aufgeklärt handelnden Fachleuten allzu viel verspricht. Er ist damit eine Geisel der verbreiteten Ansicht, Fachleute seien die Lösung, Menschen das Problem. Von populistischen Positionen oder öffentlichen Auseinandersetzungen hält Laïdi wenig. Die Welt, in der wir leben, so Laïdi, sei so komplex, dass nur Fachleute und internationale Institutionen Lösungen finden könnten. Populismus ist für Laïdi, wie für viele andere Fachleute und Politiker, nichts als ein Schimpfwort. Populistische Bewegungen entstünden allein aus dem Verlangen, eine komplexe Welt auf simple Einzelfragen zu reduzieren. Und wem will man die Geschicke unserer komplexen Welt anvertrauen – den Fachleuten oder den Einfaltspinseln?

Man kann aus den Trends, die Laïdi analysiert, auch ganz andere Schlüsse ziehen. Die Eliten in Europa geben Teile ihrer Macht nicht etwa ab, weil sie besonders aufgeklärt, weise, selbstlos und zukunftsgewandt sind. Vielmehr handelt es sich um eine tief verunsicherte Oligarchie, der immer stärker bewusst wird, dass ihre Macht auf tönernen Füßen steht. Macht abzuwickeln bedeutet in solch einer Situation auch: Verantwortung abwälzen. Eben deshalb lassen sich die Regierenden auch viel lieber auf Konferenzen der globalen Zivilgesellschaft sehen, als sich mit der eigenen, allzu „populistischen“ Bevölkerung auseinanderzusetzen.

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