28.10.2015

Editorial

Von Novo-Redaktion

Deutschland im Herbst 2015: in atemberaubender Geschwindigkeit kippt die öffentliche Meinung in der Flüchtlingsdebatte von den Willkommensritualen des "Septembermärchens" zu einer apokalyptischen "Das Boot ist voll"-Rethorik. Dabei interessieren sich weder wohlmeinende Multi-Kulti-Romantiker noch rechte Panikmacher sonderlich für Fakten. Stimmungen und affektgetriebene Meinungsmache ersetzen zunehmend das durchdachte Argument. Gerade jetzt ist es wichtig, einen Schritt zurückzutreten, kritisch über die Fragen unserer Zeit zu reflektieren und vernünftige Standpunkte zu entwickeln. Die Lektüre der aktuellen Novo-Ausgabe soll dazu beitragen.

Was bedeutet heute politisches Handeln? Scheinbar sind mehr Menschen engagierter denn je. Als Angela Merkel die Einreise der in Ungarn feststeckenden Flüchtlinge genehmigte, gab sie das Credo aus: „Wir schaffen das.“ Und mit „wir“ sollte sich jeder gemeint fühlen. Unzählige Bürger halfen, Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln zu versorgen, Kleider zu spenden, viele gaben sogar eigenen Wohnraum her. Wo früher Politik war, ist heute das Ehrenamt. Was zuweilen als Wiedererwachen der Zivilgesellschaft gefeiert wird, hat eine problematische Seite: Die Politik fühlt sich für das eigene Geschäft nicht mehr zuständig. Verstanden sich Politiker früher als jene, die versprachen, die Zukunft zu ordnen, scheint die Politik heute ein unberechenbares Feld zu sein: Schuldenkrise, Syrienkrise, Flüchtlingskrise. Alles erscheint als ein Chaos, in dem man sich nur von Tag zu Tag verhalten kann – und der gewählte Politiker kaum mehr zum Erfolg beitragen kann als jeder Bürger. 

Die Folge ist eine Emotions- und Symbolpolitik. Der Einzelne ist dazu aufgefordert, sich entsprechend zu beteiligen, um große Probleme kleiner zu machen. Man arbeitet an seinem eigenen CO2-Fußabdruck, verzichtet auf das Auto, isst vegan – und versucht gegen Diskriminierung einzustehen, indem man freundlich zu seinem Nachbarn ist. Das politische Handeln ist heute ein großer Verhaltens- und Gestenkatalog, den das Individuum abzuarbeiten hat, um sich als „Teil der Lösung“ fühlen zu dürfen. Das führt nicht nur zur Ermüdung des Einzelnen, sondern auch dazu, dass die Politiker von sich selbst nichts Großes erwarten. Wo es Visionen und Strategien bräuchte, gibt es nur noch opportune warme Worte und Gesten zum vermeintlich richtigen Zeitpunkt. Die politische Welt indes scheint umso unbeherrschbarer. Novo glaubt, dass mehr möglich ist. Aber um Lösungen finden zu können, braucht es als Erstes einen klaren Blick auf die Dinge – um zu erkennen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und wie man die Welt wirklich ändern kann.

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