27.09.2012
Politische Nahrung
Von Thilo Spahl
Was steckt hinter dem Aufstieg des Vegetarismus zum allgemeinen Stilvorbild? Die Ursachen liegen in einer wachsende Entpolitisierung und Moralisierung gesellschaftlicher Debatten
Ich gehöre zur großen Mehrheit der Supermarktkäufer, die Fleisch in kleinen, fertig verpackten Einheiten erwerben, welche einen nicht dazu auffordern, an die lebendige Quelle der Nahrung zu denken. Sogar ein komplettes Tier, ein kleiner Hahn, hat in seiner Plastikbox, die umgehend in den Kühlschrank wandert, etwas Abstraktes, und lässt einen unberührt. Vor Weihnachten gibt es jedoch, selbst in den Discountern, Teile von Tieren, die etwas Vornehmes haben und uns als besonderer Genuss für die Feiertage angeboten werden. So kam es, dass ich in den Besitz eines Serrano-Schinkens gelangte, also eines Beins vom Schwein samt Huf, das ich umgehend mit Hilfe des mitgelieferten Gestells in der Küche installierte.
Nach Entfernen der Plastikfolien wickelte ich wieder die dekorative rot-grün-gelbe Kordel um den Huf, schnitt den Schinken an, kostete und war zufrieden. In den nächsten Tagen konnte ich an mir ein Gefühl beobachten. Es kam auf, wenn ich das Bein betrachtete. Es war kein Gefühl des Ekels, kein Schuldgefühl, sondern etwas Positives. Ich vermute, dass ich es als Derivat eines Instinktes einzustufen habe, der den Prozess der Zivilisation überstanden hatte. Ich erfreute mich am erlegten Bein, das ich in Wirklichkeit nur gekauft hatte. Auch meine Kinder, neun und elf Jahre alt, schnitten sich mit Vergnügen und erkennbar ohne Schuldbewusstsein schöne Schinkenscheiben ab. Die Beobachtung führt zur Frage: Ist Familie Spahl moralisch noch auf der Höhe der Zeit?
Tierische Verwirrung
Die Frage der richtigen Ernährung und dabei auch der moralische Stellenwert des Vegetarismus hat in den vergangenen Jahren wachsenden Raum in öffentlichen Debatten beansprucht. Das in den 1970er Jahren entwickelte Konzept von Tierrechten scheint endlich in Küchen, Kantinen und Feuilletons angekommen zu sein. Dabei ist der Verzicht auf Fleisch, wenn er mehr sein will als eine individuelle Geschmacksfrage oder vermeintliche Darmkrebsprävention, eine durchaus komplizierte Angelegenheit. Der Tübinger Neuropsychologe Boris Kotchoubey fasst kurz die Verwirrung zusammen, die entsteht, wenn man versucht, die Tierrechtsdebatte in politischen Kategorien zu fassen. Er schreibt: „Einerseits steht rechts die konservative Kirche, allen voran die verhassten Evangelikalen, die jegliche Ähnlichkeit des Menschen als Abbild Gottes mit niederen Geschöpfen leugnen, denen gegenüber auf der guten, linken Seite die Naturwissenschaft als die Kraft des Fortschrittes steht, die uns schwarz auf weiß beweist, dass jeder von uns nichts anderes ist als ein haarloser Schimpanse. Andererseits steht genau umgekehrt rechts die ‚Biologisierung’, die den Menschen von seinem Erbgut determiniert sieht, deren Position direkt an Rassismus grenzt und Assoziationen mit der Praxis des Nationalsozialismus weckt, während links die postmoderne Auffassung vom Menschen als sozialhistorischem und daher sich immer in Veränderung befindendem Wesen steht (Sartre: ‚Der Mensch hat keine Natur.’).“ [1] Dass die politische Verortung nicht recht glücken will, hat einen einfachen Grund. Der Aufstieg des „Vegetarismus zum allgemeinen Stilvorbild“ [2] ist erst durch eine wachsende Entpolitisierung und Moralisierung gesellschaftlicher Debatten möglich geworden.
Mit Tieren hatte Politik bis vor Kurzem nichts zu tun. Als 1975 Peter Singer sein Buch „Animal Liberation“ veröffentlichte, lockte die Idee der Befreiung der Tiere keine Katze hinter dem Ofen hervor. „Amerika hatte gerade den schwarzen Bürgern das Wahlrecht zugestanden, nationale Befreiungskämpfe entbrannten überall auf der Welt, und Frauen verbrannten ihre BHs. Die Gleichheit aller Menschen hatte Vorrang. Niemandem lag etwas daran, die Lebensbedingungen der Gorillas im westafrikanischen Dschungel zu verbessern“, schreibt die britische Bürgerrechtlerin Josie Appleton. [3]
Warum ist das heute anders? Wie kommt es, dass sich heute Pfarrer, Popstars, Literaturkritiker, Feministen und Politiker aller Parteien fürs Tier engagieren? Zum einen liegt es sicher an der Schwäche der alten Argumente. In der Tat liefern weder Gott noch Natur eine Legitimierung menschlicher Superiorität. Der naturalistische Fehlschluss, wonach etwas deshalb gut sei, weil es natürlich ist, gilt auch für die Beziehung von Mensch und Tier. Ob der Mensch „von Natur aus“ Fleisch- oder Pflanzen- oder Allesfresser ist, ist wissenschaftlich zu beantworten, aber hier irrelevant. Ebenso irrelevant wie jede menschliche Interpretation eines „göttlichen“ Willens, der besagt, der Mensch solle sich die Natur untertan machen. Zum anderen haben wir es aber auch mit einer sehr bedenklichen Tendenz zu tun: der wachsenden Geringschätzung des Menschen und der Apotheose der Natur. Heute ist vielen die Natur als solche das Gute, der menschliche Eingriff in die Natur das Problematische. Vor dem Hintergrund dieser neuen Naturverehrung ist der gute alte Tierschutz politisiert worden. Es geht nicht mehr nur um das Wohl des Tieres, es geht nun auch darum, den Menschen in die Grenzen zu weisen. Daher der Angriff auf die Sonderstellung als „Krone der Schöpfung“.
Menschen sind auch Tiere. Sind sie auch nur Tiere?
Argumentative Schützenhilfe zum Sturz des Menschen lieferte vor allem die Genomforschung, die uns Anfang des Jahrtausends zeigte, dass wir auf der Ebene unseres Erbguts sehr weitgehend mit anderen Säugetieren übereinstimmen. „Was für ein Hochmut!“, ruft Die Zeit-Redakteurin Iris Radisch aus. „Ein paar minimale Unterschiede im genetischen Code sollen uns dazu berechtigen, unsere nahen Verwandten, die Kühe, Schweine, Pferde und Schafe, essen zu dürfen?“ [4]
Warum sollte die Erkenntnis enger biologischer Verwandtschaft davon abhalten? – so lautet die Gegenfrage. Der Philosoph Otfried Höffe beantwortet sie: „Daraus zu folgern, Menschen teilten mit Mäusen 95%, mit Schimpansen sogar 98% des geistigen Lebens, wäre (…) methodisch ein offensichtlicher Fehlschluss und widerspräche aller Erfahrung. Die auf den ersten Blick überraschend enge genetische Übereinstimmung ist kein Argument für eine auch nur annähernd enge kognitive Verwandtschaft.“ [5] Wenn die Literaturkritikerin Radisch dem entgegenhält, „abgesehen von den kognitiven Fähigkeiten“ seien „Tiere genauso Menschen wie Menschen umgekehrt Tiere sind“, so kann man das vielleicht am besten als trotzig bezeichnen. Und ergänzen: Abgesehen vom Inhalt sind Telefonbücher genauso Romane wie umgekehrt Romane Telefonbücher sind.
Warum ist das so? Warum sind wir und die Tiere so gleich und doch so anders? Weil Biologie eben nicht alles ist. Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er, im Zuge der Menschwerdung, aus der rein biologischen Evolution ausgeschert und ins Reich der Kultur eingetreten ist. Wir haben uns in Jahrtausenden vom Affen biologisch kaum, aber kulturell ganz gewaltig entfernt. Wie genau der Schritt ausgesehen hat, mit dem wir die biologische Laufbahn verlassen haben, ist letztlich nicht entscheidend. Viele Forscher sind heute mit dem Entwicklungspsychologen Michael Tomasello der Auffassung, dass es die aufmerksamkeitsheischende Geste als kommunikatives Grundwerkzeug echter Kooperation war, die es uns erlaubt hat, die biologische Schwerkraft zu überwinden und das Tierreich unter uns zu lassen. Entscheidend ist, dass wir, offensichtlich, über das tierische Dasein hinausgewachsen sind. Menschen sind in erster Linie Kulturwesen.
Fähigkeit zur Vermenschlichung
Neben der biologistischen Reduktion des Menschen auf seinen Säugetierkörper lebt die Debatte vor allem umgekehrt von der Vermenschlichung des Tieres, dem Anthropomorphismus, der auf der genuin menschlichen Fähigkeit beruht, sich das Tier als Mensch vorzustellen. Das ist im Kinderbuch ein schönes Stilmittel, welches erlaubt, Fragen des menschlichen (!) Zusammenlebens anhand der Abenteuer nichtmenschlicher Fabelwesen zu erörtern. Es wird aber dann zum Problem, wenn im wirklichen Leben das Tier zum Menschen (der etwas anderen Art) erklärt wird. Der nachgerade schrullige Anthropomorphismus, der uns erklärt, Tiere seien „nur anders schlau“ als wir, birgt gefährlichen Relativismus. Radisch versucht, uns davon zu überzeugen, dass es keine nennenswerten Unterschiede gibt, die Begabungen eben nur interindividuell ein wenig variieren: „Die Unterschiede, die zwischen uns und ihnen bestehen bleiben, sind nur gradueller, aber keineswegs prinzipieller Natur.“ [6] Mehr noch: In vielem seien die Tiere uns sogar weit überlegen: „Der Seh-, Hör- und Tastsinn ist bei den meisten Säugetieren höher entwickelt als bei uns. Vom genialen tierischen Navigationssystem, von den Feinheiten der Brutpflege, der beneidenswerten animalischen Work-Life-Balance, der Schönheit und Eleganz der Bewegung, dem bewundernswert genügsamen Lebensstil der Tiere gar nicht erst zu reden.“ [7]
Wer einmal ernsthaft (oder doch lieber spaßhaft) versucht, sich die „beneidenswerte Work-Life-Balance“ der glücklichen Kuh auf der Alm vorzustellen (Arbeit gleich Grasen und Leben gleich Wiederkäuen oder vielleicht umgekehrt?), dem dürften Zweifel kommen, ob hier noch alles mit rechten Dingen zugeht, oder die Zeit-Redakteurin uns vielleicht doch eine Satire unterzuschieben versucht. Man möchte fragen, wo der Unterschied zwischen dem genügsamen Lebensstil der Kuh und dem eines Audi A2 liegt. Man möchte fragen, welche Rechte wir aus den genialen Navigationsfähigkeiten unseres GPS-Systems für das kleine Gerät ableiten sollen. Man möchte sie auffordern, darüber zu spekulieren, welche Bedeutung für die Antilope die Eleganz ihrer Bewegung hat, ob sie hart daran gearbeitet hat, ob sie stolz darauf ist. Man möchte fragen, ob sie wirklich keine großen Unterschiede zwischen uns und unseren „nächsten Verwandten“, den Tieren, sieht. Man möchte fragen, wie sie die Distanz zu unseren zweitnächsten Verwandten, den Pflanzen, einschätzt – bekommt aber nur die Antwort, dass das „Seelenleben der Pflanzen“ zu den „Geheimnissen des Lebens“ gehöre, die „im Dunkeln“ blieben. Und was ist mit dem Stein, der uns an Härte, und dem Erdöl, das uns an Brennwert übertrifft?
Jeder kennt den Unterschied
Um die Gleichsetzung von Mensch und Tier zu begründen, nutzt die Tierrechtsphilosophie als alternatives Legitimationsinstrument neben dem DNA-Biologismus eine Spielart des Essentialismus, die besagt, solange man die Essenz des Menschlichen nicht zweifelsfrei bestimmen könne, gebe es keine Trennlinie zwischen Mensch und Tier, womit gleichsam die Unterschiede irrelevant seien. Damit gelangen wir dann zum Glaubensbekenntnis der Gründerin der Tierrechtsorganisation Peta, Ingrid Newkirk: „Eine Ratte ist ein Schwein ist ein Hund ist ein Junge. Sie sind alle Säugetiere.“ [8]
Letztlich ist bei aller Begeisterung für das Tier jedoch jedem, der sich damit beschäftigt, vollkommen klar, dass Mensch und Tier in unterschiedlichen Ligen spielen. Wenn Tierforscher „intelligentes“ Verhalten beschreiben, legen sie ganz selbstverständlich zwei verschiedene Maßstäbe an. Ein Beispiel: „Ein Affe spitzte einen Stock zu und stocherte dann damit in Baumhöhlen. Die ersten beiden Höhlen waren anscheinend leer, doch aus dem dritten zog er einen aufgespießten Galago, auch Buschbaby genannt, einen kleinen Halbaffen. Ähnlich raffiniertes Verhalten kannte man bis dahin nur beim Menschen.“ [9] Seien wir ehrlich. Würden wir einen Menschen als „raffiniert“ bezeichnen, weil er oder sie in Baumlöchern nach kleinen Äffchen stochert, um sie umzubringen?
Im wirklichen Leben käme niemand auf die Idee, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu ignorieren oder auch nur eine Sekunde zu vergessen. Selbst aktiven Tierrechtlern möchte ich nicht unterstellen, dass sie in der Praxis, wenn es darauf ankäme, die Gleichbehandlung von Mensch und Tier nicht aufgeben würden. Sie würden in einem brennenden Haus erst ein menschliches Kind und dann, wenn noch Zeit ist, einen Affen retten – von Ratten ganz zu schweigen. Kein Peta-Aktivist würde, selbst wenn er bei der Wortwahl seiner Kampagnen jegliches Gespür vermissen lässt, erst ein „Hühner-KZ“ befreien und dann ein wirkliches Konzentrationslager. Es gibt Kriminelle, die Anschläge auf Forscherinnen oder Forscher verüben. Doch solche Extremisten der Tat werden immer selten bleiben, auch wenn sie sich leider einer wachsenden Schar von Sympathisanten gewiss sein dürfen. Wir haben es nicht mit der Unfähigkeit zu tun, die fundamentalen Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu erkennen, sondern mit der Weigerung, diese zu akzeptieren. Dennoch stellt die Tierrechtsbewegung ein Problem dar: Die theoretische Leugnung des Unterschieds, der im wirklichen Leben unleugbar ist, führt dazu, dass die Würde des Menschen antastbar wird. Der moderne Tierfreund, der sein Haustier nicht nur krault, sondern ihm und dem Rest der Fauna zu ihrem Recht verhelfen will, ist ein Menschenfeind.
Einheit und Gleichheit
Tierrechtler sehen sich gerne in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung, des Antirassismus und Feminismus. Sie erkennen nicht, dass das große Verdienst dieser Bewegungen gerade darin besteht, dazu beigetragen zu haben, alle Menschen in die Gemeinschaft der Gleichen aufzunehmen und so die Menschheit zu einen. Wenn wir nun damit begännen, Nichtmenschen in diese Gemeinschaft aufzunehmen, würden wir das Konzept der Einheit und Gleichheit aufgeben. In der Praxis würde das heißen, dass wieder Unterschiede gemacht werden dürfen.
Da die meisten Rechte – etwa das Recht auf Meinungsfreiheit, auf Bildung, auf Arbeit oder das Wahlrecht – für Tiere (weil sie „anders schlau“ sind) keinen Sinn ergeben, haben Tierrechtler als konstitutives Kriterium der erweiterten Gemeinschaft die Leidensfähigkeit gewählt. Im Leiden, so die auch schon sehr gewagte These, sind wir alle gleich, und sollten mit Blick auf das Leiden alle gleich behandelt werden. Das hat der große Tierfreund und engagierte Pessimist Arthur Schopenhauer schon einmal differenzierter ausgedrückt, als er die Welt als „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“ charakterisierte, „welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen umso höheren, je intelligenter er ist (…)“. [10] Man beachte: Im Gegensatz zur heute verbreiteten Auffassung hatte bei Schopenhauer insbesondere der intelligente Mensch unter der Grausamkeit der Natur zu leiden, und nicht die Natur unter der Grausamkeit des intelligenten Menschen. Auch wies der Philosoph darauf hin, dass menschlicher Schmerz höher zu werten sei als tierischer.
Ich an deiner Stelle
Was ist eine Gemeinschaft wert, die auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer wie auch immer gearteten Leidensfähigkeit beruht? Wenn fast alle Rechte nur für einen Teil der Gemeinschaft gelten, werden sie plötzlich alle wieder verhandelbar. Was ist eine Moral wert, die in erster Linie auf die Vermeidung von Schmerz ausgerichtet ist? Wenn zudem für einen Teil der Gemeinschaft die Rechte grundsätzlich durch Dritte wahrgenommen werden, wird die Idee der Bevormundung aufgewertet. Ein vermeintliches Interesse eines Tieres kann nur durch einen Vormund vertreten werden. Das Huhn kann sich nicht dazu äußern, ob es die Käfighaltung oder die Bodenhaltung bevorzugt. Also entscheidet der Tierschützer für das Huhn. Hierfür versucht er, sich in die Lage des Huhns zu versetzen. Da er das nicht kann, muss er das Huhn vermenschlichen. Er versetzt sich also in die Lage eines Menschen, der in der Lage des Huhns ist. So wird das „Ich an deiner Stelle“ zum Maß der Dinge. Es kommt nicht darauf an, ob jemand seine „wahren“ Interessen kennt. Da dem Fleischesser, dem Raucher, dem Masochisten die Einsicht fehlt, nehmen andere seine Interessen wahr, die grundsätzlich darin zu bestehen haben, Schmerzen zu vermeiden. Kein Problem, machen wir ja bei Tieren auch so.
Mehr noch: Wenn wir ernsthaft damit beginnen würden, Rechte für Tiere wahrzunehmen, dann müssten wir das nicht nur gegenüber dem Menschen, sondern auch gegenüber anderen Tieren, nicht nur beim Nutztier, sondern auch beim Wildtier. Wenn ich Tieren Rechte einräume, dann muss ich sie auch vor ihresgleichen schützen! Die Mäuse vor den Katzen, die Würmer vor den Vögeln, die Hasen vor den Füchsen.
Wohin gerieten wir? In eine irreale Zukunft, in der Autoren wie Theodor Storm wegen der Gewalt verharmlosenden Schilderung grausamer Morde auf dem Index jugendgefährdender Schriften landen müssten. In der Novelle Bulemanns Haus richten Graps und Schnores ein veritables Massaker an: „Die großen Katzen kamen herabgesprungen, öffneten mit einem Schlage ihrer Tatze die Tür des Zimmers und begannen ihre Jagd. Da hatte alle Herrlichkeit ein Ende. Quieksend und pfeiffend rannten die fetten Mäuse umher und strebten ratlos an den Wänden hinauf. Es war vergebens; sie verstummten eine nach der andern zwischen den zermalmenden Zähnen der beiden Raubtiere.“ [11]
Subjekte der menschlichen Gesellschaft
Wenn die menschliche Moral eine Funktion hat, dann die, dass wir uns als Gleiche unter Gleichen begegnen und unser Zusammenleben auf der Höhe unserer geistigen Fähigkeiten und mit dem Respekt, den nur vernunftbegabte Wesen gegenseitig aufbringen können, gestalten. Für die Inklusion des Tieres in die Familie der Menschen würden wir einen hohen Preis bezahlen. „Die Versuche, Gleichheit zwischen Mensch und Tier herzustellen“, so Appleton, „gründen auf einem Verlust der moralischen Orientierung und einer heftigen Abneigung gegen den Menschen. Sie stehen im Widerspruch zu den historischen Versuchen, für die Gleichheit der Menschen zu kämpfen. Darüber hinaus ist es unser Gespür für die Menschheit als große Familie, das uns lehrt, denen, die Handlungsfreiheit und Rationalität nicht in vollem Maße besitzen – wie etwa Behinderte und Kinder –, mit Liebe und Respekt zu begegnen. Solche Menschen leben in einem Netzwerk von Beziehungen und erfahren Liebe und Wertschätzung von ihren Mitmenschen.“ [12]
Wir behandeln Menschen nicht wegen ihrer DNA anders als Tiere, sondern weil sie Teil der Familie sind, die wir beim Menschen, und nur beim Menschen, als Gesellschaft bezeichnen. Nur Menschen können am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Tiere können daher nur Objekt, nie Subjekt menschlicher Moral sein. Sie können geschützt werden, aber keine Rechte haben.
Unter Tieren bewegen sich nur die Haustiere und unter ihnen eigentlich nur der Hund in der menschlichen Gesellschaft. Deshalb haben wir zum Hund eine sehr viel engere Beziehung als zu einer Maus, einem Huhn oder einer Kuh. Und deshalb ergibt es auch Sinn, Haustiere besser zu behandeln als andere Tiere. Denn sie befinden sich in menschlicher Gesellschaft, daher ist der Umgang mit ihnen Teil des gesellschaftlichen Umgangs, und sie können, gewissermaßen als Gäste, von moralischen Regeln profitieren, die dazu dienen, den gesellschaftlichen Umgang in der Familie der Gleichen zu gestalten.
Tierschutz als Ausdruck der Menschlichkeit
Die Verteidigung der Sonderstellung des Menschen und des Rechts, Tiere zu nutzen, bedeutet keinesfalls, dass Tierquälerei nicht moralisch abzulehnen sei. Tiere sind nicht zum Tierschutz fähig, Menschen sind es. Unsere Menschlichkeit zeigt sich auch darin, dass wir Tiere bewusst behandeln. Sie aus niederen Beweggründen zu quälen, ist moralisch abzulehnen. Ein gewisses Maß an Schmerz in Kauf zu nehmen, wenn uns daraus ein Nutzen erwächst, ist dagegen legitim. Wir sollten uns nicht selbst erniedrigen, indem wir Tiere unnötig quälen. Wir sollten uns aber auch nicht dadurch erniedrigen, dass wir uns selbst zu Tieren erklären. Peta-Chefin Ingrid Newkirk schrieb in ihrem Testament, dass zu Kampagnenzwecken Teile ihrer Leiche gegrillt, ihre Haut zu Leder und ihre Füße zu Schirmständern verarbeitet werden sollen. [13] Tierquäler und Tierrechtler zeigen beide einen Hang zum Animalischen.