27.09.2012
Werdet mündig!
Essay von Johannes Richardt
Die Mündigkeit hat es heute schwer. Dem Einzelnen wird nichts zugetraut und Freiheiten werden eingeschränkt. Zeit für eine neue Aufklärung
Der von der Politik in Sonntagsreden gerne beschworene „mündige Bürger“ hat in Zeiten der Eurodauerkrise einen schweren Stand. Gerade jetzt offenbart sich besonders drastisch, wie wenig unser politisches Führungspersonal noch in seine eigene Urteils- und Handlungskraft vertraut und wie sehr es sich gleichzeitig scheut Verantwortung zu übernehmen. Dabei zeigt die Politikerkaste eine zunehmend offener zu Tage tretende Geringschätzung gegenüber ihrem Souverän: dem Volk – das sich ja gerade aus der Gesamtheit aller mündigen Bürger zusammensetzt, wie jeder weiß, der im Politikunterricht seiner Jugendtage auch nur ein bisschen aufgepasst hat.
Nicht nur, dass sich die gewählten Volksvertreter mittels vertragsrechtlicher Zwangskorsette selbst immer mehr ihrer eigenen Entscheidungsbefugnisse entledigen, um das bisschen Gestaltungsmacht, das dann noch übrigbleibt, gleich an undurchsichtige Superbürokratien à la ESM wegzudelegieren. Auch geht das Ganze weitestgehend abgekapselt von den Gesellschaften vonstatten. Unseren Repräsentanten in den Parlamenten dürfen höchstens noch den bereits von EU-Bürokraten, Bankern und Regierungschefs vorgegebenen Weg abnicken. Auch die demokratische Öffentlichkeit wird nicht ernst genommen. Die Anstrengungen der Akteure, ihre Politik allgemeinverständlich zu erklären und zur Debatte zu stellen, halten sich, freundlich formuliert, ziemlich in Grenzen.
Die Politik traut sich selbst und sie traut vor allem auch den Bürgern nichts mehr zu. Das ist alles nicht neu. Aber jetzt, in Anbetracht der sich abzeichnenden Herausforderungen durch die Krise, wo eigentlich solche Dinge wie Improvisationsvermögen, Urteilskraft, Führungsstärke, Gestaltungswille und offener Ideenaustausch so dringend erforderlich wären – also alles Tugenden von „mündigen Bürgern“ –, steht dieser verzagte Politikmodus vor seinem Offenbarungseid. Tatsächlich fördern unsere orientierungslosen Polit-Eliten einen umfassenden Trend hin zu immer mehr gesellschaftlicher Unmündigkeit. Sie höhlen nicht nur bei sich selbst das Fundament für autonomes Handeln mehr und mehr aus, sie tun es zunehmend auch bei den Bürgern. Überall in der Gesellschaft stehen heute für gelebte Demokratie unerlässlichen Freiräume zur Disposition. Anlass genug also zu fragen, was uns der Begriff Mündigkeit heute eigentlich noch bedeutet.
Begriffsdefinition
Zumindest etymologisch gesehen hat Mündigkeit nichts mit der etwa für unsere Sprachfähigkeit ziemlich bedeutsamen Körperhöhle im unteren Gesichtsbereich, dem Mund, zu tun – auch wenn es mit Sicherheit von Vorteil ist, nicht auf selbigen gefallen zu sein, wenn man versucht, diesen abstrakten Begriff durch sein alltägliches Handeln mit Sinn zu füllen. Der Begriff leitet sich vom althochdeutschen „Munt“ ab, was so viel bedeutet wie „Schirm, Schutz oder Gewalt“ [1] und ein zentraler Begriff im Personenrecht des Mittelalters war.
„Munt“ umschreibt die hervorgehobene Stellung des mit Besitz ausgestatteten germanischen Hausherrn („Muntherr“, heute: Vormund) gegenüber Frauen, Kindern und Gesinde („Muntlings“, heute: Mündel). In diesem Abhängigkeitsverhältnis bedeutet „Munt“ Herrschaft und Fürsorge nach innen, Haftung und Schutz nach außen. Die Söhne des Muntherrn wurden erst bei Gründung eines eigenen Hausstandes, später, im Hochmittelalter, dann ganz allgemein mit Erreichen des 21. Geburtstages selbstmündig. Dieser Begriff wurde irgendwann zu mündig verkürzt. Mündigkeit bedeutete somit im mittelalterlichen Verständnis nicht anderes, als dass der erwachsene Sohn eines Hausherrn selbständig Geschäfte abschließen durfte.
Bis heute ist dieser Aspekt der Geschäftsfähigkeit ebenso wie der der Volljährigkeit, aber auch der der Deliktfähigkeit (Strafmündigkeit) und alles was damit zusammenfällt, wichtig für unser Verständnis und spielt in der hiesigen Rechtsordnung eine zentrale Rolle. Dazu kommt in den modernen Demokratien noch der volle Erwerb der Bürgerrechte – vor allem das aktive und, etwas eingeschränkt, auch das passive Wahlrecht. Grundsätzlich kann man sagen, obwohl die Grenzen da teilweise fließend sind, dass sich die magische Altersgrenze der so verstandenen Mündigkeit in den letzten Jahrzehnten etwas nach unten verschoben hat: von den sehr lange üblichen 21 auf heute 18 Jahre. [2] Und erfreulicherweise profitieren von diesem Status nicht mehr nur die gut betuchten Söhne von Landbesitzern, sondern jeder Staatsbürger unabhängig von Herkunft oder Geschlecht, wenn auch historisch betrachtet erst seit relativ kurzer Zeit.
Mündigkeit nach Kant
Vor allem dank des Aufklärers Immanuel Kant verbinden wir noch eine weitergehende Bedeutungsebene mit dem Begriff der Mündigkeit. Von ihm stammt die wohl bekannteste Definition im deutschsprachigen Raum und jeder philosophisch halbwegs gebildete Zeitgenosse kann den nächsten Satz vertrauensvoll überlesen und die folgenden Wörter gerne mit geschlossenen Augen aus dem eigenen Gedächtnis heraus zitieren: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.“ [3] Kant definiert hier Mündigkeit durch ihren Gegensatz, die Unmündigkeit. Im Umkehrschluss geht es ihm also um die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln selbstbestimmt und frei von äußerer Einflussnahme gestalten zu können. Er schreibt in seinem wegweisenden Essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? natürlich noch einige kluge Sätze mehr zum Thema; leider aber auch ein paar heute eher autoritätshörig erscheinende Apologien auf seinen preußischen Feudalherrn, Friedrich II., und dessen nicht sehr aufklärerisches, dafür aber umso militaristischeres Staatswesen („…räsoniert, soviel ihr wollt; nur gehorcht!“) [4] – aber das ist ein anderes Thema.
Kants Verdienst besteht ganz klar darin, dass er Mündigkeit als einen aktiven Prozess selbstdenkender und moralisch autonomer Subjekte versteht. Für ihn ist Unmündigkeit durch das Individuum „selbstverschuldet“ – sei es nun durch dessen „Faulheit“, mangelnde „Entschließung“ oder durch fehlenden „Mut“. [5] Auf einem mühsamen Weg, nicht ohne Rückschläge – nebenbei: das gerade bedeutet Aufklärung für Kant! –, muss der Mensch sich immer wieder aufs Neue aus seiner Unmündigkeit befreien. Diese Vorstellung geht über das Verständnis einer ab einem bestimmten Alter zufallenden Geschäftsfähigkeit oder dem ebenfalls verliehenen Bürgerstatus weit hinaus, eben weil es die Verantwortung des Einzelnen betont, sein Potential dafür auch zu nutzen. Der mündige Mensch macht sich selbst, indem er seinen Verstand so benutzt, wie er es für richtig erachtet, und dementsprechend handelt. Gleichzeitig respektiert er dieses Potential zur autonomen Selbstbestimmung in jedem seiner Mitmenschen.
Gesellschaftliches Mündigkeitstraining
Solch ein positives Verständnis von dem, was uns als Menschen im Kern ausmacht, kann aber letztlich nur in einer Gesellschaft zur Entfaltung kommen, in der der Staat und seine Repräsentanten den Bürgern und, mindestens genauso wichtig, sich die Leute gegenseitig erst einmal zutrauen, diesen Weg zur Mündigkeit auch eigenverantwortlich beschreiten zu können, und die zudem hinlänglich tolerant und freizügig gegenüber den daraus erwachsenden Konsequenzen ist.
Klar ist, dass Menschen, die eigenständig Entscheidungen treffen, auch Fehler begehen oder zu Schlüssen kommen können, die für andere völlig abwegig, absurd, verwerflich oder schlimmeres sind. Gerade deshalb muss die Gesellschaft dem Einzelnen ausreichend Freiraum lassen, aus seinem eigenen Ermessen heraus zu handeln. Wie sonst, wenn nicht durch die alltäglich Praxis, kann Mündigkeit erprobt und eingeübt werden? Nur aus diesem „Training“, das de facto nichts anderes als gelebte Freiheit ist, kann die notwendige Souveränität erwachsen, die grundlegend dafür ist, die Herausforderungen des privaten und des öffentlichen Lebens den eigenen Vorstellungen entsprechend meistern zu können.
Tatsächlich erleben wir aber seit geraumer Zeit, dass genau die für das Erlernen von Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft so entscheidenden Freiräume mehr und mehr schwinden. Hierbei geht es vordergründig noch nicht einmal um die großen Fragen nach der Souveränität oder der Legitimität demokratischer Verfahren, die durch die Eurokrise akut geworden sind. Es geht darum, wie wir den unmittelbar erlebbaren Alltag des zwischenmenschlichen Miteinanders in unserem Gemeinwesen organisieren wollen – es geht also vor allem um die kleinen Freiheiten, ohne die aber auch die Großen ihre Bedeutung verlieren.
Oberflächlich betrachtet scheint durch die zunehmende Erosion tradierter Normen und Moralvorstellungen in der pluralistischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts für den Einzelnen erst einmal mehr möglich zu sein als je zuvor. Große gesellschaftliche Kontroversen über öffentlichen Anstand und Moral, wie sie etwa zu Beginn der 1990er Jahre noch durch eine einfache Plakatkampagne der Kleiderfirma Benetton ausgelöst werden konnten, gibt es heute nicht mehr. Damals brachten u.a. die Fotos eines sterbenden Aidskranken oder selig miteinander knutschender Priester und Nonnen vor allem Konservative und Katholiken auf die Palme. So etwas schockt heute, gerade einmal 20 Jahre später, kaum noch jemanden. Die Tugendwächter von damals sind die Freaks von heute. Und was damals als kontrovers, randständig und extrem galt, ist heute endgültig im Mainstream angekommen. Statt sich öffentlich über das Richtig und Falsch des Zusammenlebens zu zoffen, gehen sich die Gesellschaftsmitglieder heute lieber mit einem leider oft mit Toleranz verwechseltem indifferenten, bloß nicht urteilen wollenden Achselzucken des „Ist mir doch egal“ einfach aus dem Weg.
Paradoxerweise breitet sich in diesem Klima bei manchen Themen eine alles andere als tolerante Kultur des „Das darfst Du nicht!“ aus. Dieser Trend wird langsam so erstickend, dass sich sogar die sonst in Sachen Freiheit doch eher betuliche Zeit berufen fühlte, Alarm zu schlagen. Mitte des Jahres forderte sie „Schluss mit der Tugendrepublik Deutschland“ [6] und prangerte auf ihrer Titelseite die zunehmende Verbotskultur im Land an – von völlig zweckfreien Rauchverboten auf den Oberdecks von bayerischen Ausflugsdampfern bis zu unsinnigen Diskussionen über eine Helmpflicht bei Fahrradfahrern. Schon seit vielen Jahren gibt es den Trend hin zu einer immer engmaschigeren Regulierung vormals als privat erachteter Verhaltensweisen, insbesondere wenn es um Konsum- und Ernährungsgewohnheiten oder Erziehungsfragen geht. Dadurch beginnen die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft mehr und mehr zu verschwimmen. Selbst da, wo die Bürger doch eigentlich am ehesten selbst ihre Angelegenheiten durch informelle Übereinkünfte regeln und sich dadurch gleichzeitig in ihrer eigenen Freiheitsbefähigung schulen sollten, in der Sphäre des alltäglichen Miteinanders, halten heute zunehmend Gesetze und Verhaltenskodizes Einzug, die genau beschreiben, was im Umgang untereinander erlaubt ist und was nicht. Dahinter steht der schleichende Siegeszug eines Menschenbildes, das mit der Idee, dass Menschen für sich selbst entscheiden können und sollten und selbst am besten wissen, was richtig und was falsch für sie ist, reichlich wenig anzufangen weiß.
Bubble Tea, „mündige Verbraucher“ und das reduzierte Subjekt
In der heutigen Gesellschaft wird der Status des erwachsenen Subjekts vor allem durch seine Verletzlichkeit und Ohnmacht definiert. Anstatt den Einzelnen als handelndes Wesen zu begreifen, das emotional und mental robust genug ist, mit den Herausforderungen des modernen Lebens klar zu kommen, wird aktuell ein Bild vom Menschen kultiviert, das diesen als ausgesprochen fragil, leicht traumatisierbar und negativen gesellschaftlichen Kräften weitestgehend schutzlos ausgeliefert betrachtet.
Die Ausbreitung einer auf psychologischen Prämissen aufbauenden Kultur der Emotionalität und des Ich-Kults, die mit dem Siegeszug der Psychotherapie und Psychoanalyse in der westlichen Welt in den 60er Jahren einsetzte und bis heute anhält, spielt dabei sicherlich eine wichtige Rolle. Das vor allem auf seiner Fähigkeit zu Abstraktion und begrifflichem Denken basierende aufklärerische Verständnis vom Menschen als vernunftbegabtem Gestalter seiner Geschichte wurde durch das prekäre Selbstbild eines potentiellen „Opfer-Ichs“ zurückgedrängt, das ständig das Risiko der Kränkung oder Traumatisierung fürchten muss. Statt des gesellschaftlichen Lebens rücken innere Befindlichkeiten ins Zentrum der Selbstwahrnehmung. Die Wirkmächtigkeit dieser Vorstellungswelt erkennt man u.a. auch daran, wie selbstverständlich wir in unserer Alltagssprache heute psychologische Begriffe wie „Depression“, „Burn-Out“, „Trauma“ oder auch das besonders wichtige „Selbstwertgefühl“ benutzen. Durch eine permanenten Flut an Weltuntergangsszenarien, Risikohinweisen und Gesundheitswarnungen aller Art, sei es nun durch Politik, Medien, Populärkultur oder verschiedenste NGOs, entsteht zudem eine Kultur, in der selbst allerbanalste Alltäglichkeiten, wie Fleisch essen [7] oder Limo trinken [8], plötzlich zu hoch riskanten Veranstaltungen zu werden drohen, die man, wenn überhaupt, dann bitte nur unter sachkundiger Beratung eines Experten durchführen sollte. Das Spektrum der Dinge, die das Individuum verletzen oder schädigen können, wird also nicht nur im Bereich des Seelischen zunehmend größer. Auch die körperliche Gesundheit steht schon lange unter extremem Risikovorbehalt. Und natürlich finden sich in solch gefährlichen Zeiten auch immer Leute, die Sicherheit versprechen. Der Aufstieg der Politik des Verbraucherschutzes ist exemplarisch hierfür. Er ist vor allem vor dieser gesellschaftlichen Angstkulisse zu verstehen. Hier richtet sich Politik nicht mehr an Bürger mit Interessen, Überzeugungen etc., sondern an den „mündigen Verbraucher“. „Mündig“ ist hier allerdings seiner aufklärerischen Bedeutung mehr oder weniger komplett entkernt und dient nur noch als Wortfassade für eine ziemlich dreiste Neudefinition des Begriffs in sein glattes Gegenteil. Der Bürger als Verbraucher wird eher als reichlich beschränkter, schwächlicher und unselbstständiger Angsthase wahrgenommen, der ohne staatliche Leitung und Schutz im Leben nicht klar kommt und deshalb an die Hand genommen werden muss – mit Kant gesprochen: er ist selbstverschuldet unmündig; und wird es in den Augen vieler Verbraucherschützer auch immer bleiben.
So gesehen ist es dann wohl auch nicht weiter verwunderlich, dass eine im Bundestag vertretene Partei – in diesem Fall Bündnis90/Die Grünen, was aber ohnehin zunehmend egal wird –, Mitte Juli dieses Jahres allen Ernstes und wohl nur halb dem Sommerloch geschuldet, eine vierseitige kleine Anfrage mit mehreren Dutzend Fragen an die Bundesregierung [9] richten kann, wie diese denn zu den vielfältigen Gesundheits- und Umweltrisiken steht, die mit dem Konsum von „Bubble-Tea“ einhergehen. Für alle Nichteingeweihten: Bei Bubble-Tea handelt es sich nicht etwa um das Codewort für ein hochgeheimes neues Bankenrettungspaket, sondern um ein vor allem bei Teenies schwer angesagtes und ziemlich kalorienreiches milchshakeartiges Getränk auf Teebasis. Das besondere dabei sind kleine mit Flüssigkeit gefüllte Kügelchen, die zur großen Freude der Konsumenten beim Zerbeißen zerplatzen.[10] Das klingt nicht nur ziemlich harmlos, es ist es auch.
Trotzdem ist solch ängstlicher Aktionismus, der sich etwa auch in Debatten über Lebensmittelampeln, Buttonlösungen in Onlineshops oder bildlichen Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln zeigt, typisch für den heutigen Politikmodus. Dabei wäre gegen rationale Risikoabwägungen ja noch nicht mal etwas einzuwenden. Das Problem besteht aber darin, dass unerhebliche Gefahren aufgebauscht werden, weil man letztlich Menschen einfach nicht zutraut, dass selbst banalste Alltäglichkeiten – schlürf ich jetzt einen Bubble-Tea oder nicht? – dem eigenen Urteil überlassen werden können. Wenn die politische Klasse, übrigens fast im Konsens und zudem im großen Einklang mit weiten Teilen der Medien und der sogenannten Zivilgesellschaft, meint, die Bürger selbst bei solchen Fragen noch an die Hand nehmen zu müssen, kommt es einem doch gleich auch viel schlüssiger vor, dass es bisher noch keinen wirklich ernstzunehmenden Versuch unserer Regierung gegeben hat, z.B. ihre Eurorettungspolitik allgemeinverständlich zu erklären und für gesellschaftliche Mehrheiten zu werben, oder?
Dämonische Werbung und falsches Bewusstsein
Die heutige Erziehung zur Unmündigkeit hat viele Gesichter. So können es Intellektuelle, Politiker und Aktivisten aus dem eher linken Spektrum einfach nicht lassen, der Gesellschaft immer wieder aufs Neue auf die Nase zu binden, dass wir sowieso alle nur wie Marionetten entweder von „den Medien“, „den großen Konzerne“ oder, aktuell gerade besonders schwer in Mode, von „den Finanzmärkten“ gesteuert werden. Und als ob das nicht genug wäre: Den entfesselten Kräften „der Globalisierung“ stehen wir sowieso machtlos gegenüber! Freiheit, Mündigkeit und das ganze Gedöns sind in einer solchen Gemengelage nicht mehr als blanke Ideologie, um die Herrschaft der Märkte über den Menschen zu rechtfertigen, heißt es dann gerne. Wer aber darauf besteht, trotzdem einen freien Willen zu haben und mündig zu sein, wird bestenfalls vielleicht noch als naiver Spinner belächelt oder gleich noch als schlimmer „Neoliberaler“ abgekanzelt.[11]
Dabei kommt den Massenmedien als Propagandisten dieser Verschwörung eine besondere Rolle zu. Ständig manipulieren sie die schutzlos ausgelieferten Individuen mit ihren subtilen Botschaften, vernebeln so nicht nur den Blick der Massen auf die eigentlichen Verhältnisse, sondern regen sie zu immer mehr zerstörerischem Konsum nutzloser Dinge an. Vor allem wenn man sich die Debatte um Werbeverbote- und -einschränkungen anschaut, stößt man auf dieses Denken.
Hier wird eine verzerrte Karikatur der Öffentlichkeit gezeichnet, die beispielhaft ist für die gesellschaftliche Geringschätzung, mit der man heute vom Verbraucherschutz bis zur Europapolitik Konzepten, wie Autonomie und Freiheit, gegenüber steht und die so dabei hilft, noch mehr Freiräume für gesellschaftliches Mündigkeitstraining einzuschränken. Normale Menschen erscheinen hier ein bisschen wie die bekannte Zeichentrickfigur Homer Simpson; also leichtgläubig, manipulierbar und ziemlich unreif. In der intellektualisierten Form dieses reichlich versnobten Vorurteils spricht man dann gerne vom „falschen Bewusstsein“ der Leute, für das sie zwar selbstredend nichts können, was sie aber leider auch, ganz ähnlich wie der in die Jahre gekommene Michail Gorbatschow sein Muttermal auf der Stirn, so einfach nicht mehr loswerden können.
Deutlich wird das etwa im Zusammenhang mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag. Hier soll sogar eine eigens dafür geschaffene Behörde, manche sprechen von einer „Zensurbehörde“, entscheiden, inwieweit Sportwettenwerbung etwa für TV oder Internet den Menschen überhaupt zugemutet werden kann.[12] Dabei vergessen die Befürworter wohlmeinender Zensur nicht nur, dass gerade das stetige und überall zu hörende Herumreiten auf der angeblichen Hilflosigkeit und Schwäche des Individuums tatsächlich einen viel entmutigenderen Effekt auf die Leute haben kann, ihren eigenen Weg zur Mündigkeit zu beschreiten, als es etwa ein Werbespot, der behauptet, dass Pferdewetten sexy machen, jemals haben könnte. Auch muss hier eine Frage erlaubt sein: Wenn man Erwachsene schon vor den bösen Einflüsterungen kommerzieller Werbung schützen muss, wieso tut man das dann eigentlich nicht auch, wenn bestimmte Einzelpersonen oder Organisationen den Leuten ihre gefährlichen Ideen andrehen wollen? Ist das so abwegig? Im August dieses Jahres ist genau das der zugegebenermaßen reichlich durchgeknallten Sekte der UFO-Gläubigen Raelianer in der Schweiz passiert. Die Behörden untersagten ihnen, mit Plakaten im öffentlichen Raum für ihre obskure Sache zu werben, weil sie u.a. das in der Schweiz und wahrscheinlich auch sonst überall verbotene Klonen von Menschen und die „Geniokratie“, bei der eine Weltregierung von Genies über den Rest der Menschheit herrschen soll, propagieren. Ein Gericht bestätigte das Verbot und verwies dabei in seiner Urteilsbegründung auch auf den Schutz der Gesundheit und Moral Dritter. Die Sekte zog daraufhin bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der mit knapper Stimmenmehrheit (9:8) ebenfalls gegen deren fundamentales Recht auf freie Meinungsäußerung votierte.[13] Höchstrichterlich werden hier also Menschen davor „geschützt“ sich ein einfaches Plakat anzuschauen.
Neue Mündigkeit
Die Bespiele sollen verdeutlichen, wie weit wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts von einer Gesellschaft entfernt sind, die die Mündigkeit des erwachsenen Individuums respektiert und auf dem Recht der Menschen basiert, im Einklang mit ihren Überzeugungen zu leben und zu handeln. Trotz aller nach wie vor vorhandenen und erfreulichen Freiheiten und demokratischen Errungenschaften leben wir in einem gesellschaftlichen Klima, das dem Einzelnen wenig zutraut. Ein Politikstil hat sich eingespielt, der individuelle Freiräume zunehmend regulatorisch zurückdrängt und limitiert.
Gerade heute, wo die Eurokrise und vor allem die Unfähigkeit der Politik, damit umzugehen, grundlegende Fragen für unser demokratisches Zusammenleben aufwerfen, offenbart sich die ganze Absurdität dieser kleinlichen Regulierungswut. In Anbetracht der Herausforderungen, vor denen wir stehen, sollten wir uns lieber fragen, wie wir das Potential, das in den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern steckt, aktivieren können, anstatt auch noch das letzte bisschen Restrisiko des Lebens absichern zu wollen und dadurch Freiräume für Kreativität und Eigenverantwortung immer weiter einzudämmen.
Wir sollten wieder damit anfangen, uns gegenseitig mehr zuzutrauen und vor allem auch von der Politik einfordern, bei den kleinen und großen Fragen des Gemeinwesens für voll genommen zu werden. Demokratie lebt vom offen ausgetragenen Gegensatz konfligierender Interessen, dem Zusammenprall verschiedener Meinungen und Überzeugungen und dem stetigen Widerstreit von Mehrheit und Minderheit. Hierfür brauchen wir erwachsene Menschen, die den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, öffentlich das Wort zu ergreifen und mutig zu handeln. Es geht um mehr Mündigkeit in unserer Gesellschaft. Die heutige Politik der Unmündigkeit untergräbt die Fundamente der Demokratie. Das Menschenbild der Aufklärung ist deshalb aktueller denn je.