28.09.2012

Bitte weniger Transparenz!

Kommentar von Frank Furedi

Durch den Aufstieg der Piraten rücken Forderungen nach vollständiger Öffnung bislang vertraulicher Machtgefilde auf die Tagesordnung – zum Schaden der Demokratie

Wann immer ein Politiker um eine Antwort verlegen ist, flüchtet er in die Forderung nach „mehr Transparenz“. So verspricht die australische Premierministerin Julia Gillard einschneidende Reformen im Namen von „Transparenz, Qualität und Wahlfreiheit“. Der frühere australische Premierminister Kevin Rudd meint, „Transparenz und Wettbewerbsneutralität“ seien seine vorrangigsten Ziele. In Deutschland treibt aktuell die junge Piratenpartei mit ihren Forderungen nach einem transparenten Staat 1 die politische Konkurrenz vor sich her. Inzwischen konstatiert auch US-Präsident Barack Obama, dass „Transparenz“ den Bürgern „Informationen darüber verschafft, wie die Regierung arbeitet“. „Transparenz“ hat sich zu einem politischen Selbstläufer entwickelt.

Diese Form der „Transparenz“ hat aber nichts mit demokratischer Rechenschaftspflicht zu tun. Vielmehr wird hier die Vertraulichkeit bei der Erörterung politischer Ideen ausgehöhlt – und die unbefangene Entwicklung politischer Konzepte kurzgeschlossen. In einer demokratischen Gesellschaft sollten öffentliche Autoritäten für ihre Handlungen und Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden – nicht aber für die Art und Weise, wie sie zu ihren Schlüssen kommen.

Heute können Autoritätspersonen wegen eines vertraulichen Gedankenaustausches „überführt“ werden. So war es, als beispielsweise „enthüllt“ wurde, dass das Büro von Michael Gove, Staatssekretär im britischen Bildungsministerium, über weite Strecken mittels privatem E-Mail-Austausch kommunizierte. Diese Praxis ist heute üblich, denn man möchte vertrauliche Diskussionen von den Wirkungen der so genannten Informationsfreiheits-Gesetze fernhalten.

Fast jeder behauptet, er sei begeistert von diesen Gesetzen. In Wirklichkeit versucht man aber natürlich, diese Transparenzregeln zu umgehen. Der frühere britische Premierminister Tony Blair schrieb in seinen Memoiren sogar, dass er die Regeln zur Informationsfreiheit als einen der größten Fehler seiner politischen Laufbahn ansieht. Sie seien „sehr gefährlich“ – jetzt sei es nämlich sehr schwierig für eine Regierung, wichtige Themen unbehelligt zu diskutieren. Sein Verhalten bei der Einführung der Transparenzregeln bezeichnet er im Rückblick als „naiv“ und „verantwortungslos“.

Warum nun sieht Blair, der diese Regeln eingeführt hat, sie heute so negativ? Aus den gleichen Gründen, aus denen sich jeder führende Politiker heute genötigt sieht, seine Loyalität zum Ritual der Transparenz zu beteuern. Wenn das öffentliche Leben von einem Klima des Verdachts durchsetzt ist, verspricht die Verankerung der Transparenz, wenig der Phantasie zu überlassen.

Die Verfechter totaler Offenheit behaupten, dass Transparenz die Bürger stärke. Denn nun könne man die Regierung wegen ihrer Taten besser zur Rechenschaft ziehen. Ein Regime der vollständigen Enthüllung sei die Voraussetzung dafür, dass wieder neues Vertrauen entstehen könne. Doch die Erfahrung lehrt uns, dass „Transparenz“ zu einem heuchlerischen Ritual verkommen ist. Die Pflicht zur Offenlegung interner Kommunikationsprozesse verursacht bloß immer neue Täuschungsmanöver – und die wiederum heizen Verwirrung und Mutmaßungen immer weiter an.

Ein Bekannter von mir, der einer großen Organisation im öffentlichen Sektor vorsteht, sagt, er stecke die Eckpunkte bevorstehender Sitzungen in schriftlicher Form genau ab und achte sorgfältig darauf, dass keine Bemerkung aufgenommen werde, die man „falsch“ interpretieren könnte. Er versteht, dass wirklich jede unbedachte Bemerkung aus dem Zusammenhang gerissen und als Ausfluss böser Absichten missverstanden werden kann. Eine unausgegorene Idee erscheint, wenn man nicht aufpasst, als scheinbarer Beweis einer „versteckten Agenda“, sobald sie in der Öffentlichkeit zirkuliert.

Man muss heute ständig auf der Hut sein. Viele Leute vermeiden es inzwischen im Schriftverkehr, ihre ehrliche Meinung kundzutun, weil sie rechtliche Konsequenzen fürchten. Man zieht z.B. Euphemismen heran, um zum Ausdruck zu bringen, dass jemand nicht der Schlaueste sei. Briefe können heute, wie auch Sitzungsprotokolle, aufgrund der Informationsfreiheitsgesetze publik gemacht werden. Folglich geht man dazu über, telefonisch zu erkunden, was denn das Gegenüber „wirklich“ meine.

Das Ethos der Transparenz befördert ein Klima organisierter Verschlossenheit und Willfährigkeit gegenüber Redeverboten – und vermindert so das Potenzial für die offene Klärung von Problemen. Man geht keine Risiken ein und enthüllt keineswegs seine Bedenken, wenn man es potenziell vor der ganzen Öffentlichkeit tut. Unter solchen Umständen gibt man auch ungern zu, selbst Fehler begangen zu haben. So entsteht unter der Hand ein Regime der Vermeidung von Verantwortung. Es wird immer schwieriger, eigene Ideen spontan zum Besten zu geben und unkonventionelle Ansichten zu äußern, wenn man stets bedenken muss, dass sie später von Kritikern in der Öffentlichkeit aufgespießt werden können.

Der Transparenzkult führt dazu, dass sich Misstrauen in der Organisation ausbreitet, in der man arbeitet. Heute verwechselt man allzu gerne das Erfordernis der demokratischen Rechenschaftspflicht in Hinblick auf Entscheidungen mit Transparenzanforderungen an inner-institutionelles Handeln. Das ist symptomatisch für eine voyeuristische Politikkultur, die aus „undichten“ Stellen träufelnde Klatschgeschichten gebiert. Eine Demokratie sollte besser das Recht auf privaten Austausch aufrecht erhalten. Nicht alles, was öffentliche Figuren tun, sollte auch an die Öffentlichkeit dringen.

Im Jahre 1946 erinnerte uns George Orwell daran, dass in seiner Zeit die „politische Sprache […] weitgehend der Verteidigung des nicht mehr zu Verteidigenden“ diente. Er hatte wahrscheinlich Worte wie „Transparenz“ im Sinn, als er sagte, dass „Gedanken die Sprache korrumpieren“ können, aber umgekehrt auch die Sprache die Gedanken. Wenn also heute Politiker auf Transparenz bestehen, obwohl sie eigentlich deren Gefahren erahnen, so ist die Korruption der Gedankenwelt kein geringeres Problem als zu Orwells Zeiten.

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