27.11.2011

Politische Partizipation zwischen Bürger-APO und Parteienegoismus

Analyse von Hartmut Schönherr

Ein Plädoyer für profilierte Vielfalt in der Parteienlandschaft und im Regierungsgeschäft.

Hinter einer Kulisse aus „Finanzkrise“, „Energiewende“ und Steuersenkungsversprechen rühren sich im politischen Deutschland aktuell intensive Debatten um Wahlrechtsänderungen, die begleitet werden von Vorschlägen zur Ergänzung des parlamentarischen Systems oder gar zur strukturellen Neuregelung der Regierungsbildung, etwa im Sinne des Schweizer Konkordanzmodells. Für ernsthafte Veränderungen scheint allerdings das Bundesverfassungsgericht zuständig zu sein, nicht die Politiker.

Gerichte und Bürger statt Parlament

Ein Urteil des Gerichtes vom 3. Juli 2008 mit einer Dreijahresfrist, die unlängst abgelaufen ist, verlangte eine Neuregelung des Wahlrechtes zu Bundestagswahlen im Bereich der Überhangmandate, um negatives Stimmgewicht zu beseitigen. Der Wählerwille sollte angemessener umgesetzt werden – gefordert vom höchsten deutschen Gericht, nicht vom Parlament, denn dort möchten die Mehrheitsparteien alles weitgehend beim Alten belassen. Die Bundesregierung hat die Frist verstreichen lassen, ohne einen ändernden Gesetzentwurf vorzulegen. Ginge es nach der SPD, würde der aktuell durch Überhangmandate von 598 auf 620 Sitze gedehnte Bundestag mit Ausgleichsmandaten weiter auf 666 Sitze aufgebläht werden. Bloß nicht an Besitzstände rühren, eher diese ausweiten, das ist die Devise.

Auch zur Rechtmäßigkeit der deutschen 5-Prozent-Hürde bei Europawahlen wird das Bundesverfassungsgericht derzeit bemüht. Die anderen europäischen Länder haben in ihrer Mehrzahl niedrigere Sperrklauseln oder gar keine. Doch die Angst vor politischer Zersplitterung scheint in Deutschland noch immer viele Politiker zu plagen – vor allem wenn eigene Pfründe bedroht sind, in diesem Falle acht Sitze im Europaparlament, die an kleinere Parteien abgegeben werden müssten. Und so sprach sich der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages für die Beibehaltung der 5-Prozent-Klausel aus, mit Ausnahme der Fraktion Die Linke.

Nicht nur von oben, vom Bundesverfassungsgericht, auch von der Bürgerbasis wird die politische Teilhabe in Deutschland als defizitär betrachtet. Am prägnantesten hat sich die Kritik in den Widerständen gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ artikuliert. Abhilfe wird von einer Stärkung der direkten Demokratie erwartet, um die es im Musterländle Baden-Württemberg besonders schlecht bestellt ist. In ihren letzten Tagen versprach die dafür mitverantwortliche schwarz-gelbe Regierung Mappus eilfertig substantielle Verbesserungen. Sicherlich mit guten Gründen. Ein „Mehr“ an direkter Demokratie ist durchaus im Sinne des bestehenden parlamentarischen Systems, das seine Legitimations- und Entscheidungsnöte mit Bürgerbeteiligungen externalisieren und damit zugleich Bürgerunmut auffangen könnte. Der Sozialwissenschaftler Mohssen Massarrat schlägt die Bildung einer dritten Kammer aus NGO-Vertretern neben Bundestag und Bundesrat vor, um engagiertes Bürgertum und parlamentarisch organisierte Politik enger zusammenzubringen. An den strukturellen Defiziten der institutionalisierten Politik würde sich damit jedoch nichts ändern.

Weimarer Verhältnisse

Eine wesentliche Ursache dieser Defizite ist die unzureichende Kontrolle des politischen Systems durch die Parteien selbst. Solange eine Parteienfinanzierung, die große Apparate fördert, eine 5-Prozent-Sperrklausel und ein Regierungssystem nach dem Muster „The winner takes all“ zur Selbstbedienung einladen und eine Vitalisierung des Parteienspektrums blockieren, wird sich daran auch wenig ändern. Das Grundgesetz selbst bietet durchaus Ansätze, weiter zu gehen als die beim Bundesverfassungsgericht anstehenden Anträge. Überhangmandate, die große Parteien fördern, sind unabhängig vom Entstehen eines „negativen Stimmengewichtes“ fragwürdig. Im vielzitierten Artikel 38 GG ist zu lesen, dass die Abgeordneten dem ganzen Volk verpflichtet sind. Von einer besonderen Bindung an ihren Wahlkreis qua Direktmandat ist keine Rede. Und die 5-Prozent-Hürde kollidiert grundsätzlich mit Artikel 20 zur Begründung der Staatsgewalt im Volk und den Prinzipien Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit für alle Parteien.

Zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes, die in Artikel 21 GG gefordert ist, taugt die aktuelle Parteienpolitik mit ihrer Tendenz zur Bildung zweier immer weniger unterscheidbarer Blöcke nur noch eingeschränkt. Das zeigt auch die nicht abebbende Klage über „Politikverdrossenheit“. Bei kritischer Sicht (die sich in Umfragen bestätigt) wird die aktuelle Regierungskoalition mit ihren 48,4 Prozent Wählerstimmen von gerade einmal 34 Prozent der Wahlberechtigten getragen! Dass den großen Volksparteien die Profile zugunsten des schieren Machterhalts verloren gehen, ist offenkundig. Dass ihnen die Wähler ebenso abhanden kommen, ist eine wenig überraschende Konsequenz.

Analog zur inhaltlich-politischen Gestaltungskraft der Großparteien hat sich die von Helmut Schelsky 1953 postulierte nivellierte deutsche Mittelstandsgesellschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten weitgehend aufgelöst. Wir erleben stattdessen die Reformulierung alter und die Bildung neuer Oberschichten, Mittelstandsverengung, Statusinkonsistenzen mit Schichtungen quer zu den tradierten Parteiprofilen und die breite Auffächerung von Lebensstilen. Die damit einhergehende gesellschaftliche Heterogenität verbirgt sich in den einzelnen Parteien als Flügel, die weniger auf eine produktive inhaltliche Profilierung als auf die Besetzung von Machtpositionen aus sind. Dies bedeutet einen klaren Verlust für die politische Kultur und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt.

Die zumal in Deutschland als Konsequenz von Parteienvielfalt befürchteten „Weimarer Verhältnisse“ im Sinne blockierender Machtspiele haben wir längst, zum einen innerhalb der Parteiapparate, zum anderen im Regierungsgeschäft. Inhaltliche Kompetenz tritt bei Postenbesetzungen immer weiter in den Hintergrund, Koalitionsverhandlungen werden zu Erpressungsveranstaltungen ohne effektiven politischen Gehalt, einen Zusammenhang zwischen Koalitionsvereinbarungen und Regierungshandlungen sucht man auf Bundesebene vergebens.

Krisenbeständigkeit durch Vielfalt


Ein hoch entwickeltes und stabiles Land wie Schweden leistet sich alleine acht im Reichstag vertretene Parteien (von denen aktuell vier an der Regierung beteiligt sind) und weitere sechs Parteien, die nur auf Gemeinde-, Provinz- oder Europaebene vertreten sind. Dadurch werden die Auffassungen erschüttert, nach denen ausgeprägte Mehrparteiensysteme zur Instabilität neigen, wie seit Gabriel Almonds Untersuchungen in den 60er Jahren mit notorischem Verweis auf Italien auch international immer wieder vorgetragen wird. Bestätigt wird stattdessen, was der Politologe Arend Lijphart schon 1977 den „Democratic Pessimists“ entgegengehalten hat, dass nämlich Konkordanzdemokratie mit einem breiten Parteienspektrum in heterogenen Gesellschaften sehr erfolgreich sein kann.

In den 60er und 70er Jahren florierte dank der Arbeiten Lijpharts die noch immer gebräuchliche Unterscheidung in Konsensdemokratien („Consociational Democracies“) – modellhaft bezogen auf die Schweiz – und Mehrheitsdemokratien – modellhaft bezogen auf Großbritannien. Häufig werden deckungsgleich auch die Charakterisierungen „Konkordanz“ versus „Konkurrenz“ verwendet. Angesichts der Erschöpfung der Konkurrenzsysteme im ritualisierten Spiel Regierung-Opposition bekommt das Konkordanzmodell, das eine breite Regierungs- und damit auch Verantwortungsbeteiligung der vom Wähler legitimierten und im Parlament vertretenen Gruppierungen vorsieht, aktuell neue Attraktivität, wenngleich nicht unbedingt in seiner Schweizer Variante, deren Konsensgebot in die Krise geraten ist.

„Konsens“ ist als politische Grundorientierung in Deutschland unabhängig von den Schweizer Erfahrungen in Verruf geraten, nicht zuletzt durch das Schwinden klarer Parteienprofile. Eine neue Streitkultur steht aktuell eher auf der Agenda politischer Weiterentwicklung. Wer sich jedoch bei Lijphart selbst kundig macht, der sieht, dass in seinem Konzept von „consociational“ mehr und strukturell anderes steckt, als in den Übersetzungen „konsensuell“ und „konkordierend“ transportiert wird. Lijphart ging aus von heterogenen, keineswegs durch schlichte Konsensgebote geprägten Gesellschaften. Ihm geht es um den proportionalen Anteil an der Macht, gemäß der Wählerentscheidung, was einen Wettbewerb und ein produktives Nebeneinander verschiedener politischer Grundorientierungen ermöglicht und den Rahmen schafft für die Realisierung unterschiedlicher Lebens- und Zukunftskonzepte.

Wenn Lijphart den Führungsstil im „consociational model“ als „coalescent“ beschreibt, ist damit die grundlegende Bereitschaft zur Kooperation als Voraussetzung für die Artikulation und Verhandlung unterschiedlicher Interessen gemeint, kein zwanghaftes Zusammenkleben, wie es zunehmend die Koalitionen in Konkurrenzsystemen auszeichnet. Entsprechend fordert Lijphart von Politikern in „plural societies“ ein „consociational engineering“, kein laues Kompromissebasteln um den Preis der eigenen politischen Identität. Vielfalt und Entwicklungsoffenheit gelten als Bedrohung der Regierungsfähigkeit, als sei diese nicht längst eher von Einfalt bedroht und ausgehöhlt. Paradoxerweise könnte gerade die Orientierung an einem Demokratiemodell, das – unter falschen Vorzeichen – mit der Kategorie „Konsens“ belegt ist, in modernen Industriegesellschaften wieder für echten Wettbewerb in der Politik sorgen.

Beschleunigter, zunehmend unvorhersehbarer gesellschaftlicher Wandel und der Wandel der Lebensbedingungen erfordern eine krisentolerante Politik, die sich grundlegende Entscheidungen nicht im Patt der Konkurrenz von Tsunamis diktieren lässt. Krisentolerant aber sind Systeme, die möglichst viele Mitspieler mit ihren Ideen und Bedürfnissen zu integrieren vermögen.

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