16.10.2011

„Krise“ als Modewort

Analyse von Frank Furedi

Der EU fällt es schwer, ein positives Projekt zu definieren – weil ihr die Legitimation der Bürger abhanden gekommen ist.

Während ich kürzlich Brüssel besuchte, war ich erstaunt, wie hemmungslos Insider dort das Wort „Krise“ gebrauchten. Krisengerede ist in Brüssel zwar nichts Neues. Doch heute lassen sich Versagensängste und Verwirrung mit Händen greifen. Selbst die energischsten Befürworter der EU sind davon betroffen. Es ist einfach, dies als Symptom der bitteren Konflikte abzutun, die durch die Krise der Eurozone ausgelöst wurden. Dass man Griechenland, Irland und Portugal mittlerweile mit riesigen Geldmengen beistehen muss, um ihre Pleite abzuwenden, erklärt aber nicht alles. Denn die gegenwärtigen Probleme beschränken sich nicht bloß auf die ökonomische Sphäre; die EU ist auch durch eine politische und kulturelle Krise bedroht.

Griechenlands Wirtschaft befindet sich in einem Zerfallsstadium, und alle wissen, dass man um eine Restrukturierung der griechischen Schulden nicht umhinkommt. Man mag dies mit euphemistischen Bezeichnungen bemänteln, um das Ausmaß des Problems zu ignorieren; doch das Phänomen insolventer Staaten sucht Europa nun heim. Nur wenige Wochen, nachdem man Milliardensummen zur Rettung Portugals in die Hand genommen hat, wird klar, dass die Medizin nicht wirkt und dass die Eurozone in großen Schwierigkeiten ist.

Deshalb redet man nun mehr und mehr über eine Reorganisation von Europas monetärer Union, während gleichzeitig immer mehr Leute das Vertrauen in die gegenwärtigen Rettungsaktionen verlieren. Das führt zu einem wachsenden Euroskeptizismus innerhalb der wohlhabenderen Regionen Europas. In Deutschland zeigte kürzlich eine Umfrage, dass 30 Prozent der Befragten ein „unabhängiges Deutschland“ befürworten und die Rückkehr der D-Mark verlangen. Deshalb gibt sich auch Kanzlerin Merkel dem Gerede hin, die Griechen sollten weniger Urlaub machen. Ein portugiesischer Journalist beschreibt diesen Vorgang als das Füttern des populistischen Monsters, das in der Eurozone wächst. Doch dieses Monster verschwindet einfach nicht. Beispielsweise haben wir es nun mit Finnland zu tun, wo die „Wahren Finnen“, eine nationalistische Partei, die gegen die Rettungspakete ist, aus dem Stand fast 20 Prozent der Wählerstimmen gewann und so die drittstärkste Partei wurde. Der Erfolg der „Wahren Finnen“ deutet darauf hin, dass ökonomischen Verwerfungen mittlerweile zu einer politischen Krise ausarten. Die europhile politische Klasse steht wie ein begossener Pudel da und ist mit einer Reihe von euroskeptischen und populistischen Bewegungen konfrontiert.

Es könnte aber auch sein, dass die gegenwärtige Flüchtlingskrise sogar eine noch größere Bedrohung der europäischen Einheit darstellt. Der „arabische Frühling“ war eigentlich nicht notwendig darauf angelegt, sich zu einem politischen Alptraum für die EU zu entwickeln. Am Anfang feierten die europäischen Führer die Revolten, und man dachte, nun könne Brüssel seine diplomatische Softpower ausspielen. Schade nur, dass die EU mit einer ungewöhnlich ungeeigneten Repräsentantin, Baroness Ashton, gesegnet ist. Seit ihrer Ernennung vor über anderthalb Jahren ist die ehemalige Labour-Politikerin beißender Kritik ausgesetzt. Ihre Unfähigkeit, eine Strategie für den Umgang mit den Konsequenzen der „Arabellion“ zu entwickeln, ist eine diplomatische Farce. Tragischerweise resultiert aus diesem amateurhaften Experiment eine Flüchtlingskrise, die an die Fundamente der EU rührt.

Weil Zehntausende von afrikanischen und libyschen Flüchtlingen an den Ufern Südeuropas ankommen, wächst sich die Frage, wer denn die Verantwortung für ihr Wohlergehen übernehme, zu einem grundlegenden Streit über die Bedeutung der nationalen Souveränität aus. Im Gefolge des von Italiens Premierminister Silvio Berlusconi so genannten „menschlichen Tsunamis“ verlangte seine Regierung zusammen mit den Führungen anderer Staaten, dass der grenzfreie Verkehr des Schengensystems aufgehoben werde. Dieses Verlangen bedeutet einen schweren Rückschlag für das Selbstbild der Europäischen Union, in der die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit innerhalb der ganzen Union ein Symbol für das Projekt darstellt. Eine gefährlichere Herausforderung für das Selbstverständnis der EU kommt aber aus einer unerwarteten Ecke: Der kleine Staat Dänemark führt ohne Absprache mit anderen Ländern permanente Grenzkontrollen ein.

Von all den Bedrohungen, mit denen die EU konfrontiert ist, ist die dänische Herausforderung der Schengen-Vereinbarung möglicherweise die schädlichste. Wie vorherzusehen, reagierte der Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, mit einer scharfen Warnung vor solch gefährlichen „unilateralen Schritten“ der Dänen. Was Barroso und seine Kollegen nicht zu Unrecht befürchten, ist der Umstand, dass, wenn schon ein so kleines Land sich selbstbewusst genug fühlt, Schengen zu trotzen, andere Länder sich ebenfalls dazu ermächtigt fühlen könnten, ihre nationalen Interessen robuster zu verfolgen. Denn es ist wichtig zu erkennen, dass Vorbehalte gegenüber offenen Grenzen in ganz Westeuropa ein Thema sind. Ob falsch oder richtig: Die Idee, dass offene Grenzen Kriminalität, Drogeneinfuhr und Menschenhandel genauso verursachen wie Arbeitslosigkeit und kulturelle Konflikte, stößt heute auf breite Resonanz. Das ist schade, denn unter solchen Umständen erscheint die europäische Idee verantwortlich für die vielen Unsicherheiten, mit denen wir heute konfrontiert sind.

Die Antwort Brüssels scheint darin zu bestehen, immer mehr Geldsummen in PR-Aktionen zu stecken. Mehrstellige Millionensummen investiert die Europäische Kommission in ihre zahlreichen Propagandakreuzzüge. Zum Beispiel will sie damit europäische Politik „erklären“, um sich „besser mit den Bürgern zu verbinden“. Das Ziel dieser Maßnahmen soll darin bestehen, „das Bewusstsein der Existenz der Union zu erhöhen, ihre Legitimität zu verstärken, ihr Image aufzupolieren und ihre Rolle zu beleuchten“. Es ist verständlich, dass die EU die Dienste hunderter Spindoktoren benötigt, um den Bürgern ihre Legitimität „bewusster“ zu machen. Doch was diese Divisionen des EU-Apparates wirklich zeigen, ist seine sehr geringe Legitimität in den Augen der Öffentlichkeit.

In der Vergangenheit befürchtete man, dass deutsch-französische Rivalitäten die europäische Einheit untergraben könnten. Deshalb wies man immer wieder gerne auf die Bedrohung durch Amerika oder den Ostblock hin. Paradoxerweise erwies sich Europa als sehr effektiv in der Handhabung der historischen Konflikte, die in der Vergangenheit etliche Turbulenzen verursacht haben. Sogar die Herausforderung der deutschen Wiedervereinigung und der Aufnahme Osteuropas in die EU konnte reibungslos bewältigt werden.

Einer der Gründe, weshalb dies alles so problemlos verlief, liegt darin, dass man nicht auf die Legitimität der öffentlichen Meinung angewiesen war. Der eigentliche Charakterzug der Politik Europas besteht darin, dass sie ihre Entscheidungsprozesse bewusst von der Öffentlichkeit abkapselt. Vom Standpunkt der politischen Eliten Europas liegt einer der Vorzüge der EUInstitutionen in der Isolierung der Entscheidungsträger von den Formen öffentlichen Drucks und der Rechenschaftspflicht, denen Politiker normalerweise in den nationalen Parlamenten ausgesetzt sind. Deshalb ist die EU auch fähig, politische Entscheidungen zu treffen, die unter offeneren, nationalen und parlamentarischen Gegebenheiten umstritten wären und sich schwerer rechtfertigen ließen. Politiker können sich immer wieder hinter den unsichtbaren Entscheidungsprozessen verstecken.

Es ist natürlich bequem, die Entscheidungsfindung von der Öffentlichkeit zu isolieren. Doch gleichzeitig verringert sich die Fähigkeit der europäischen Politiker, ihre Wählerschaft zu inspirieren. Die EU ist deshalb von PR-Maßnahmen abhängig, um ihr Legitimationsdefizit abzumildern. Doch Loyalität und Begeisterung lassen sich kaum durch eine Armee von Spindoktoren hervorrufen.

In früheren Etappen vermochte es die EU, hinter verschlossenen Türen einen reibungslosen Ablauf ungestörter Verhandlungen in Gang zu halten. Doch heute lassen sich Entscheidungen, die das Leben hunderter Millionen von EU-Bürgern beeinflussen, eben nicht mehr vom Ärger in der Öffentlichkeit fernhalten. Dass die Dänen heute den EU-Verträgen trotzen, zeigt, dass zumindest eine Regierung eines erkannt hat: Es ist keine einfache Option mehr, sich hinter undurchschaubaren Entscheidungsprozessen zu verstecken.

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