16.10.2011

Eurokrise: Fatalismus, griechisches Drama und Elitendämmerung

Von Phil Mullan

Die Euro-Krise ist vor allem eine politische Krise. Den europäischen Eliten fehlt es an Mut, Bodenhaftung und einer klaren Wachstumsstrategie.

Die Krise in der Eurozone bewegt sich seit über einem Jahr von einem Land zu nächsten. Nach ersten Rettungsaktionen für Griechenland, Irland und Portugal im letzten Jahr und einem zweiten Rettungspaket für Griechenland im Juli haben sich die Finanzmärkte anschließend auf Italien und Spanien fokussiert. Mit Nummer drei und vier der Eurozone sind damit bereits wesentlich größere Volkswirtschaften betroffen als zuvor. Spanien ist inzwischen von politischem Durcheinander, Neuwahlen und Notstandsmaßnahmen gelähmt. Selbst Frankreich und Deutschland sind aufgrund der gesamtschuldnerischen Verpflichtung gegenüber den Gläubigern kriselnder Euroländer nun nicht mehr über alle Zweifel erhaben. Kreditausfallversicherungen für deutsche Staatsanleihen sind in den letzten Wochen deutlich teurer geworden. Man kann sich schnell in den Besonderheiten verlieren, die jede neue Stufe der Krise mit sich bringt. Daher lohnt es sich, einen etwas distanzierteren Blick auf die Krise zu richten, um diese besser einzuordnen zu können und einen Ausblick auf die zukünftigen Möglichkeiten zu erhalten.

Die Euro-Krise hat wie die meisten anderen ökonomischen Entwicklungen einen dreifachen Charakter. Im Grunde handelt es sich um eine singuläre Krise, die miteinander verwobene Aspekte besitzt: in finanzieller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Von diesen drei Aspekten ist die finanzielle Seite paradoxerweise am wenigsten bedeutsam, wenngleich sie am deutlichsten hervorsticht und jene Krise ist, die mit ernsthaften weiteren Konsequenzen außer Kontrolle zu geraten droht. Neben der Finanzkrise ist der wirtschaftliche Aspekt der am tiefsten verwurzelte und materiell bedeutsamste. Der politische Aspekt aber – also die Unfähigkeit der politischen Eliten, die beiden anderen Krisen im Griff zu halten – ist der ausschlaggebende und der Schlüssel zur Lösung der anderen beiden Krisen. Die im August erfolgte Fokussierung auf Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, deutet an, dass die Zeit für eine effektive Eindämmung der Krise davonläuft. Der Euro-Geist ist vielleicht schon aus der Flasche geschlüpft. Betrachten wir die drei angesprochenen Aspekte der Euro-Krise der Reihenfolge nach genauer und konzentrieren wir uns dabei auf Griechenland als Beschleuniger des europäischen Chaos.

Die Finanzkrise

Schauen wir zuerst auf die finanziellen Aspekte, also die hohe Staatsverschulung und die Fragilität der verschiedenen Banken, die Griechenland Geld geliehen haben. 2009 kämpfte Griechenland mit einem Staatsdefizit – also dem Unterschied zwischen Staatsausgaben und -einnahmen von 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das brachte die Staatsschuld auf 127 Prozent des BIP, nachdem sie zuvor etwa um 100 Prozent geschwankt hatte. Ungefähr 70 Prozent dieser Schulden werden von Ausländern gehalten (andere Staaten leihen sich größere Anteile im Inland), vor allem in Europa, was die Ängste beim Schuldenmanagement noch vergrößert.

Trotz der Einführung durchgreifender und äußerst unpopulärer Notstandsmaßnahmen beläuft sich das jährliche Budgetdefizit noch immer auf fast 10 Prozent. Folglich wird erwartet, dass die Staatsschuld von 142 Prozent im letzten Jahr auf 150 Prozent des BIP in diesem Jahr steigen wird – mit der Aussicht auf einen weiteren zukünftigen Anstieg. Mit hohen und steigenden Staatsschulden belastet, sieht kein Marktbeobachter, wie Griechenland irgendeine Art von Zahlungsausfall vermeiden kann. Entsprechend war der Zinssatz für zweijährige Staatsanleihen zwischenzeitlich auf 25 Prozent in die Höhe geschossen, was für die Aufnahme neuer Schulden eine utopische Größe darstellt.

Woher kommt die Verlagerung des Krisendenkens hin zur Staatsschuld? Seit der Finanzkrise 2008/09 erlebten wir viele westliche Regierungen, die versucht haben, die kurzfristigen Auswirkungen der Krise zu begrenzen. Sie taten dies, indem sie nochmals tiefer in die Wirtschaft eingriffen als das zuvor bereits der Fall war. Das ging von der Übernahme ganzer Banken über die Verantwortung für die Schulden in den ausgegliederten „Bad Banks“ bis hin zum Pumpen von Geld in die Wirtschaft, um den ökonomischen Schaden zu minimieren. Diese Form staatlicher Intervention ist allgemein bekannt als Nachfragesteuerung, staatliche Konjunktursteuerung oder keynesianische Ankurbelung der Wirtschaft: Die US-Administration war der Verfolgung dieses Ansatzes am stärksten zugeneigt.

Kurz gesagt: Als Ergebnis der staatlichen Krisenmaßnahmen ist die eine Kreditkrise in die nächste transformiert worden. Der Fokus hat sich im Westen im Verlauf der letzten drei Jahre von einem privaten Schulden- und Kreditproblem – verstärkt durch die Krise minderwertiger Schuldscheine in den USA – zu einem öffentlichen Schuldenproblem verschoben. Griechenland steht in der ersten Reihe, aber viele andere Regierungen sind zwischenzeitlich ins Rampenlicht gerückt: Angefangen mit anderen Mitgliedern der Eurozone, den neben Griechenland weiteren „PIGS“ – Portugal, Irland und Spanien – bis hin zu Italien, Großbritannien, Japan und dem größten Staatsschuldner von allen, den USA.

Im Verhältnis zur Größe der Volkswirtschaft ist die griechische Staatschuld sicherlich sehr hoch. So wie die Dinge politisch und wirtschaftlich liegen, kann man Griechenland als „insolvent“ bezeichnen: Es scheint nicht
in der Lage, genügend zu erwirtschaften oder mittel- und langfristig zu hinreichend niedrigen Zinsen leihen zu können, um die in den nächsten Jahren fälligen Kredite bedienen zu können. Nur die Realitätsverweigerung der europäischen Politik vermeidet gegenwärtig noch, dass dieser Umstand allgemein akzeptiert wird und als Handlungsgrundlage dient.

Dennoch gibt es eine nach wie vor gültige tröstliche historische Erfahrung: Relativ hohe Schulden führen nicht automatisch zu einer wirtschaftlichen Katastrophe. Viele Volkswirtschaften sind mit Schuldenbergen gut zurecht gekommen, die das Bruttoinlandsprodukt (BIP) überschritten haben. Japans Schuldenstand beläuft sich inzwischen auf 225 Prozent des BIP und dennoch gibt es kaum jemanden, der ernsthaft an der Fähigkeit Japans zweifelt, solch hohe Schuldenstände zu bedienen. Der britische Schuldenstand übertraf nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls die 200-Prozent-Marke, fiel aber kontinuierlich bis auf unter 50 Prozent in den frühen 70er Jahren. Entscheidend für die Erträglichkeit eines jeden Schuldenstandes ist das gegenwärtige und mehr noch das zukünftige Potential einer Volkswirtschaft, die Schuld zu bedienen und abtragen zu können.

Die wirtschaftliche Krise

Das bringt uns zum zweiten und bedeutsameren Krisenaspekt: Der düstere Zustand der wirtschaftlichen Fundamentaldaten. Griechenlands Staatsdefizit und damit die Staatschuld explodierte nach 2008 und zwar nicht, wie einige behaupten, wegen dubioser Ausgabenexzesse, sondern weil die Wirtschaft schnell kontrahierte. Rezessionsbedingte Sozialausgaben stiegen, während gleichzeitig die Einnahmen zurückgingen und die Wirtschaft schnell schrumpfte. Dennoch reichen Griechenlands Probleme lange vor den Ausbruch des gegenwärtigen globalen Rückgangs zurück und diese haben aus dem griechischen Schulden-Drama ein Krise gemacht.

Griechenland hatte im Moment seines Beitritts zur Eurozone im Januar 2001 nur eine kleine und kraftlose Wertschöpfungsbasis, die sich vor allem auf Tourismus und Schifffahrt gründete. Der Eintritt Griechenlands in die Eurozone wurde um zwei Jahre verschoben, so dass es erst zwei Jahre nach der Einführung des Euro beitreten durfte. Wegen seines Schuldenstandes erreichte Griechenland nicht die Mitgliedskriterien. Heute ist klar, dass es sich unter den gegebenen ökonomischen Rahmenbedingungen niemals wirklich für den Euro-Club qualifizieren wird. Seine schwache wirtschaftliche Basis ist bis heute geblieben.

Das Ausmaß dieses wirtschaftlichen Mangels wird beim Blick auf die Produktivität deutlich. Selbst am Ende des Jahrzehnt des Wachstums, das den Beitritt zur Eurozone begleitete, liegt die griechische Arbeitsproduktivität, gemessen als Output pro Arbeitsstunde, nur bei 60 Prozent des deutschen und französischen Niveaus und bei nur zwei Drittel des Durchschnittswertes der Eurozone. Die kostengünstige Finanzierung während der letzten Dekade, die durch den Beitritt zur Eurozone möglich wurde – eine Beihilfe für alle schwächeren und an der Peripherie liegenden Mitglieder der Eurozone – verschleierte die fortgesetzte Rückständigkeit des griechischen Produktionspotentials. Die Schuldenaufnahme, vor allem von französischen, deutschen und Schweizer Banken, finanzierte hartnäckige Budgetdefizite, die an fünf Prozent jährlich heranreichten und es der Wirtschaft erlaubten, kontinuierlich zu expandieren.

Die kaum wahrgenommene Kehrseite dieses lebhaften Wachstums war ein permanenter Anstieg des Zahlungsbilanzdefizits, was die Volkswirtschaft zunehmend von Kapitalimporten abhängig machte. Das Leistungsbilanzdefizit – im Endeffekt der Reichtum, den sich ein Land von der Zukunft leiht – stieg im Verhältnis zum BIP stark an. In den späten 90er Jahren lag das Leistungsbilanzdefizit zwischen drei und vier Prozent des BIP, was im Allgemeinen von den Märkten als vertretbar für ein entwickeltes Land angesehen wird, das etwa im gleichen Maß wächst. Während des letzten Jahrzehnts aber stieg das Defizit auf heikle sechs bis sieben Prozent. Der Anstieg auf zweistellige Werte seit 2006 hätte trotz des beeindruckenden Wirtschaftswachstums aber ein hinreichendes Warnsignal für den Verlust der inländischen Produktivität und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sein müssen. Griechenland importierte fortwährend und zunehmend mehr zum Leben als es an Waren und Dienstleistungen exportieren konnte. Dieses zunehmende Ungleichgewicht konnte nicht ewig fortgeführt werden.

Trotzdem wurde der faule Charakter des griechischen Wachstums erst verstärkt wahrgenommen, als die Rezession zuschlug, die der westlichen Finanzkrise von 2008 folgte. Das Zahlungsbilanzdefizit stieg 2008 auf 14,5 Prozent. Die Märkte für Staatsanleihen wie auch das Euro-Establishment fingen an sich zu sorgen, was die Ereignisse in Gang setzte, die zur ersten Rettungsaktion über 110 Milliarden Euro von IWF und EU im Mai 2010 führten.

Die politische Krise

Das führt uns zum dritten und kritischsten Krisenaspekt: Das politische Element. Das größte Problem dieser Krise und dasjenige, das am einfachsten hätte gelöst werden können – wobei der Zug dazu vermutlich inzwischen abgefahren ist – ist die Verdrehung von Tatsachen und das Herumgeeiere der politischen Eliten. Es ist nicht wirklich eine neue Erkenntnis, dass das Herauszögern der Lösung einer Finanzkrise diese nur noch schlimmer macht. Dennoch stellt das Anschwellen der Krise in der Eurozone fast ein Lehrstück für diesen Fehler im Management von Finanzkrisen dar.

Unter dem gegebenen Hang der Elite für Verschleppungstaktiken ist es vielleicht nicht überraschend, dass William Rhodes – Citi-Banker und weltenbummelnder Troubleshooter, der Regierungen bei einer Abfolge von
Finanzkrisen in den letzten 30 Jahren beratend geholfen hat – die elementare Notwendigkeit von schnellem, entschlossenem Handeln zur Kernlehre seiner kürzlich erschienen Memoiren Banker of the world, machte. Diese Botschaft haben die europäischen Führer noch immer nicht verstanden. Stattdessen gab es in den letzten zwei Jahren eine Verzögerungstaktik nach der anderen, was in einem ersten Rettungspaket im letzten Jahr und einem weiteren im Juli dieses Jahres gipfelte. Dass ein gebranntes Kind das Wasser scheut, scheint noch keinen Eingang in den europäischen Erfahrungsschatz gefunden zu haben.

Eine Erklärung für die Unentschlossenheit der politischen Führer Europas liegt darin, dass sie versucht haben, mit zwei Themen gleichzeitig umzugehen: Einerseits sollte die griechische Schuldenkrise im Zaum gehalten und andererseits vermieden werden, dass sie Turbulenzen in ganz Europa auslöst und dabei gleichzeitig für öffentliche Rückschläge im gesamteuropäischen Projekt sorgt. Diese zweifache Mission hat ihre Unentschlossenheit und Unsicherheit noch verstärkt und sie bislang davon abgehalten, entschieden zu agieren.

Technisch betrachtet sind diese beiden Ziele nicht unvereinbar: Ein griechisches Rettungspaket ist durchaus denkbar, ohne dass Griechenland den Euro aufgeben muss. Trotzdem aber scheinen die beiden Ziele für die Führer Europas nicht miteinander in Einklang zu bringen sein. Zunächst haben die europäischen Führer die ursprüngliche Schuldenkrise überzeichnet, was diese zu einer beängstigenderen Aufgabe gemacht hat als sie wirklich war. Zweitens ist das europäische Projekt, dem sie zumindest rhetorisch anhängen, bereits in einer Sackgasse gelandet. In Wahrheit war ihr fehlerhaftes Vorgehen zum großen Teil selbstgemacht. Es scheint in der westlichen Elite eine angeborene Tendenz zu geben, aus einer Krise mehr zu machen als nötig.

Währenddessen ist ihre andere Sorge kaum mehr zeitgemäß und sogar sinnlos: Der Schwung zur europäischen Einheit ist bereits erschöpft. Ironischerweise gab es seit dem Start der nun krisengeschüttelten Eurozone im Jahr 1999 keine ernsthafte pan-europäische Initiative mehr. Sogar die relativ kleinen Veränderungen, die die EU-Verträge von Nizza und Lissabon mit sich brachten, provozierten eine beträchtliche Gegenreaktion der Wähler. Das Unterfangen einer EU-Verfassung wurde ganz aufgegeben. Das alleine zeigt das Fehlen irgendeiner jüngeren Dynamik hinter der europäischen Integration. Die Arten und Weisen, in denen das griechische und andere Schuldenprobleme gehandhabt oder vielleicht besser misshandelt wurden, sind mehr Ausdruck für das Ausfransen des europäischen Projektes und weniger auf das Schuldenproblem selbst zurückzuführen. Natürlich zeigt die zugrundeliegende wirtschaftliche Unterentwicklung Griechenlands wie auch anderer Peripherieländer die inhärente Schwierigkeit, einer so ungleichen ökonomischen Gruppierung eine gemeinsame Währungsunion überzustülpen – und das sogar vor dem Hintergrund einer fehlenden politischen Geschlossenheit und ohne politische Legitimität in den Augen der Bürger.

Mit dem Verlust der nationalen Schlüsselwerkzeuge zum Management der Volkswirtschaft, wie die Festlegung der Zinsen und die Kontrolle der Geldmenge, und der zusätzlichen Abwesenheit einer allgemein anerkannten und akzeptierten Fiskalunion mussten die schwächeren Volkswirtschaften überproportional leiden, als die wirtschaftlichen Zeiten härter wurden.

Nicht nur die Kritiker des von Brüssel aus geführten Projekts der europäischen Einheit, das einen zunehmend autoritären und undemokratischen Charakter trägt, sahen diesen Konstruktionsfehler der EU. Viele Euro-Befürworter waren sich zum Zeitpunkt der Einführung des Euro dieses inneren Widerspruchs ebenfalls bewusst. Sie trösteten sich allerdings damit, dass in dem Moment, wo diese innere Spannung explodierte – was irgendwann passieren musste – die unausweichliche Krise eine Gelegenheit sein könnte, um mit der politischen Integration voranzuschreiten. Die Krise ist ausgebrochen, aber der größte Teil des politischen Willens voranzuschreiten ist in der Zwischenzeit aufgebraucht. Stattdessen sind nationale Interessen im letzten Jahrzehnt deutlicher zum Vorschein gekommen. Und diese Tendenz hat sich verstärkt, seit die Finanzkrise zugeschlagen hat. Sogar die Griechenlandrettung im letzten Jahr, die von Deutschland und Frankreich als ein Akt des europäischen Zusammenhalts verkauft wurde, diente eher dazu, der potentiellen Gefahr einer erforderlich werdenden Rettungsaktion zugunsten französischer und deutscher Banken beim griechischen Zahlungsausfall zuvorzukommen.

Hieraus resultierten all das Schwanken, die Verzögerungen und das wechselnde Gerangel, das wir während des letzten Jahres von den Hauptakteuren gesehen haben: von der französischen und der deutschen Regierung, der europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission. Ein vermeintlich hartnäckiges finanzielles Problem ist mit dem erschöpften politischen Projekt, das dem Bürger in verächtlicher Weise die politische Einheit aufzwingen will, vermengt worden. Das Ergebnis ist völlige Verwirrung und das Vertrödeln wertvoller Zeit durch Europas politische Klasse. Der öffentliche Unmut und die Feindschaft gegenüber Notstandsmaßnahmen und den verlangten Opfern in der gesamten EU, sowohl offen ausgesprochen als auch implizit gefordert, verstärken die Unsicherheit der Eliten darüber, was zu tun ist.

Die wichtigste Lehre aus dieser Angelegenheit ist die Bestätigung, dass die abgehobene und losgelöste europäische Elite ihre allgemeine Orientierung verloren hat. Insbesondere ist ihr auch der innere Antrieb abhanden gekommen, eine immer engere europäische Einheit, die von verschiedenen europäischen Verträgen vorgesehen ist, weiter voranzutreiben. Das Schreckensbild eines im Top-Down-Ansatz vereinten und integrierten Europas ist glücklicherweise zerbrochen. Leider ist der Rückfall zu Hickhack und potentiell größeren Konflikten zwischen nationalen Politikern auch nicht rosig.

Fassen wir die wirtschaftlichen Implikationen dieses Schlamassels zusammen. Zunächst ist die Art und Weise, in der die Restrukturierung der griechischen Schuld vollzogen wird, trotz der geschäftigen Diskussion darüber, von untergeordneter Bedeutung. Die Restrukturierung muss passieren und als deren Ergebnis werden die bestehenden Gläubiger in irgendeiner Form daran beteiligt werden. Bedauerlicherweise bedeutet dies, dass es keinen schmerzlosen Ausweg für die Griechen gibt. Vor dem Hintergrund einer Vermeidung der weiteren Verbreitung von Ängsten an den Märkten war und ist das Timing der Restrukturierung wichtig. Wie schon der US-amerikanische General des Zweiten Weltkriegs, George S. Patton empfahl: „Es ist besser einen guten Plan sofort knallhart durchzuziehen als einen optimalen Plan in der nächsten Woche.“ Im Fall Griechenlands wäre jeder hart durchgezogene Plan zur Restrukturierung der Schulden besser gewesen als die gegenwärtige Taktik, mit der man hofft, dass die finanziellen Herausforderungen sich mit der Zeit einfach von selbst auflösen.

Zweitens ist die von einigen unterstützte Abwertung einer wieder eingeführten Drachme, was nach einem möglichen Austritt Griechenlands aus der Eurozone möglich wäre, keine Lösung für die wirtschaftliche Schwäche. Die Abwertung der Währung macht die Exporte eines Landes billiger, die Importe aber teuer. Dadurch kann die Exportwirtschaft eines Landes wieder ein Standbein bekommen. Ökonomen empfehlen oft die Abwertung als einen Weg, aus einem wirtschaftlichen Tal herauszukommen, womit die realen Verhältnisse aber auf den Kopf gestellt werden. Währungskurse treiben nicht etwa die ökonomischen Fundamentaldaten, sie folgen ihnen. Sie tendieren dazu, den relativen Bewegungen der Produktivität von Volkswirtschaften untereinander zu folgen. Die Abwertung einer Wirtschaft mit relativ schwacher Produktivität ist oft das längst fällige Eingeständnis dieser Schwäche und nicht etwa ein Weg, um diese zu überwinden. Relativer wirtschaftlicher Niedergang ist im Allgemeinen keine Episode, sondern ein langfristiger Trend und es ist nicht wahrscheinlich, dass dieser plötzlich beendet ist. Sofern nicht andere, radikalere Schritte in Richtung wirtschaftlicher Restrukturierung und Neuaufbau unternommen werden, um den Niedergang der relativen Produktivität einzudämmen und umzukehren, bewirken Währungsabwertungen nur eine vorübergehende Atempause.

Dies bringt uns zur potentiellen Lösung, die sowohl am wenigsten diskutiert wird als auch am wichtigsten ist: Eine anhaltende und proaktive Wachstumsstrategie muss Teil des Auswegs aus einer jeden Schuldenkrise sein. Noch mehr Schulden zu machen, kann keine Lösung für hohe Schuldenstände sein. Wenn ein Land über seine Verhältnisse lebt, führt die weitere Schuldenaufnahme nur zu einer Verschiebung des Tags der Wahrheit. Die von IWF und den europäischen Oligarchien befürworteten Notstandsmaßnahmen für Griechenland sind sehr schmerzhaft und neigen dazu, eine Abwärtsspirale zu produzieren. Eine Verringerung der Staatsausgaben in Kombination mit fallendem Lebensstandard – in der Annahme, dass die Bürger diese nachhaltigen Rückschritte akzeptieren – kann rein mathematisch den Eindruck des Funktionierens erwecken. Dennoch ist ein Notstandprogramm ein Rezept für sich selbst verstärkenden Abstieg und Niedergang.

Wenn eine höhere Verschuldung ausgeschlossen wird und ebenso eine sich beschleunigende Spirale von Notstandsprogrammen abzulehnen ist, bleibt nur die Lösung, mehr Einkommen zu produzieren. Das bedeutet letzten Endes, dass die Wirtschaft mehr Reichtum erzeugen muss. Dazu bedarf es verstärkter Investitionen in die zukünftige Wertschöpfung. Wenn es gelänge, eine neue Dynamik für produktives Wachstum in Griechenland oder anderen Schuldenstaaten zu generieren – was seit vielen Jahren in den meisten Teilen der westlichen Welt schmerzlich fehlt – könnte dies den Gläubigern Griechenlands die Sicherheit geben, dass ihre Kredite zurückgezahlt werden. Das wiederum würde es Griechenland leichter machen, mehr Kapital für die benötigten wachstumssteigernden Investitionen zu leihen.

Schnelleres wirtschaftliches Wachstum ist aus der Mode gekommen und für viele ein unerschwingliches Ziel für die westliche Welt. Stattdessen wird uns verkauft, dass es eine neue Normalität gebe, der wir uns anpassen sollen. Diese ist durch abgeschwächtes Wirtschaftswachstum und stagnierende, wenn nicht gar fallende Lebensstandards gekennzeichnet.

Griechenland und der Westen generell liefern sich einer düsteren Zukunft aus, sofern wir diese fatalistische Stimmung nicht zurückweisen. Wir brauchen ein entschlossenes und radikales Programm, nicht nur um die Finanzen der Schuldenstaaten zu restrukturieren, sondern deren komplette Volkswirtschaften. Denn nur das kann eine expandierende Wohlstandserzeugung bewirken. Die „PIGS“ könnten wirtschaftlich abheben, wenn sie diese Gelegenheit nutzten. Andernfalls wird nicht nur die europäische Schuldenkrise weiter gären und sich ausbreiten, sondern sich auch die Divergenz zwischen einer niedergehenden westlichen und einer aufstrebenden östlichen Welt weiter verstärken.

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