11.05.2011

Jeder Mensch ein Journalist

Essay von Hartmut Schönherr

Mit den Kämpfen um die Verfügung über das Internet bricht sich eine „kulturelle Unruhe“ Bahn, die weit über alles hinausgeht, was der Buchdruck zu bedingen vermochte.

„Heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ – so klingt der allbekannte Traum des jungen Karl Marx, niedergeschrieben 1845.

Das Marx’sche Jugendideal, im Internet ist es verwirklicht: Dort geistern zu einer Person wechselnde Profile und Avatare durch die Leitungen, jagen morgens neben der Büroarbeit durch Urwälder ferner Planeten, fischen nachmittags nach Informationen, hegen am Abend den eigenen Bauernhof auf „My Farm“ und schreiben nach dem Essen an ihrem kritischen Blog, während andere Leute schlafen oder vor dem TV verdämmern. Heute kann daher jeder, der einen Internetanschluss hat, zum Marx’schen „Kritiker“ werden.

Nicht das Internet, soziale Verwerfungen haben die Blogger hervorgebracht

Die schreibende Zunft sieht sich bedroht, fest angestellte Profis sprechen den Bloggern die journalistische Kompetenz ab, Gewerkschaften bangen um das Berufsbild, und etablierte freie Journalisten fürchten um ihre letzten Verdienstmöglichkeiten. Denn Blogger schreiben in der Regel umsonst.

Und an all den Gefährdungen des herkömmlichen Journalismus sei entscheidend das neue Medium schuld. Nun wissen wir spätestens seit Harold Innis, dem weniger bekannten Mentor des schlagkräftig formulierenden Medientheoretikers Marshall McLuhan („The Medium is the Message“), „dass sich plötzliche Ausdehnungen des Kommunikationswesens in kulturellen Unruhen widerspiegeln“.(1) Das Bloggen hat sicherlich Anteil an diesen „Unruhen“ im Gefolge der elektronisch-digitalen Kommunikationstechniken – aber ist es auch wesentlich beteiligt an der „Krise des Printjournalismus“, die von Stephan Weichert in Hamburg wissenschaftlich bearbeitet wird? (2) Diese Krise, das haben Weichert und andere zur Genüge dargestellt, hat doch eher etwas mit wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu tun als mit einer vermeintlichen Internetkonkurrenz.

Soziale Verschiebungen, vor allem verursacht durch eine breitere Bildung und den allgemeinen Zugang zu Informations- und Wissensbeständen, haben zur Auflösung klassischer Berufsbilder in den Informations- und Kulturberufen geführt. Betroffen davon ist insbesondere der Journalismus, der nur schwach ausgeprägte Bestandssicherungssysteme entwickelt hat. Denn, um es burschikos zu formulieren: Schreiben kann jeder. Und Journalist nennen darf sich auch jeder. Was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es im Bereich der Festanstellungen durchaus klare berufsständische Selektionsmechanismen gibt. Außerhalb jedoch wundern sich manche Praktikanten, wenn sie für einen Beitrag in einer Publikation ihres Praktikumgebers honoriert werden – „das wär’ doch nicht nötig gewesen“. Dazu kommt eine anschwellende Anzahl an unterbeschäftigten und gut versorgten Rentnern, die als freie Mitarbeiter der Lokalzeitung völlig zufrieden sind, nur ihren Namen gedruckt zu sehen. Der Spitzweg-Poet schickt sich an, den Journalismus zu erobern. Auch ohne Netzanschluss.

Der erste Blogger war ein Buchdrucker

Als der Buchdruck mit beweglichen Lettern entwickelt wurde, führte dies nicht nur dazu, dass Bücher nun in großen Auflagen gedruckt werden konnten, statt von Mönchen in kleinen Stückzahlen abgeschrieben zu werden. Es führte auch dazu, dass Inhalte zuvor mündlicher Medien sich nun in den neuen Printmedien Handzettel und Flugschrift wiederfanden. Dabei entstand ein ganz neues Phänomen, das allerdings auf wenige Brennpunkte der Entwicklung und einzelne Persönlichkeiten beschränkt blieb: Autorschaft und mediale Distribution fielen zusammen. Waren die Vervielfältiger von Büchern zuvor höchst selten auch Autoren, so änderte sich dies mit der neuen Technik und dem Einsetzen der Reformation.

Der Basler Buchdrucker Pamphilus Gengenbach produzierte zeitweise fast täglich ein Flugblatt mit eigenen Reflexionen zur Reformation und zum allgemeinen Zeitgeschehen. Teilweise hat er sie wohl auch selbst verteilt. Er kann als einer der ersten Blogger der Geschichte gelten. Das heißt, er verfügte als Produzent von Meinungen zugleich über die Mittel, diese Meinungen zu vervielfältigen und unter die Leute zu bringen. Diese Mittel stehen heute mit den neuen Kommunikationsmedien wohlfeil und tendenziell jedem zur Verfügung.

Die entscheidende Kategorie für den Bezug zwischen den „Bloggern“ aus der Anfangszeit des Buchdrucks und den heutigen ist „Macht“ – die Macht der Verfügung über starke Produktionsmittel im Kommunikationsbereich. Eine Macht, die ihre Grenze primär an der inzwischen hart umkämpften Ressource „Aufmerksamkeit“ hat – und, damals wie heute, an Zensur. Was die heutigen Blogger von den reformatorischen unterscheidet, ist nicht nur, dass diese Macht nun jedem prinzipiell zukommt, sondern auch, dass ihr Produktionsmittel zugleich in rasendem Tempo zu einem maßgeblichen Produktionsmittel der materiellen gesellschaftlichen Basis wird. Nicht nur „Kritik“ kann gleichzeitig alle Punkte des Planeten erreichen – auch die Baupläne eines Getriebewerks und die Sicherheitscodes einer Bank.

Dies erklärt die Schärfe der aktuellen Kämpfe um die Verfügung über das Internet. Das hat nur in einem kleinen Segment mit Meinungsfreiheit und Copyright zu tun. Es bahnt sich eine „kulturelle Unruhe“ an, die weit über alles hinausgeht, was der Buchdruck zu bedingen vermochte. Dafür spricht auch, dass sich bereits eine Partei formieren konnte, deren Programm die politische Bewältigung dieser Unruhen und eine neue Verteilung von Macht als Aufgabe formuliert, die Piratenpartei. Auch wenn die meisten der Mitglieder vermutlich noch der Auffassung sind, es ginge primär um die Verteidigung von freiem Datenverkehr und Bürgerrechten.

Die neue Macht der Schrift

Heiner Geißler, Vermittler im Stuttgarter Bahnhofskonflikt, hat in der Bild am Sonntag ausgesprochen, was schon allen klar geworden war im vergangenen Stuttgarter Sommer: Mit herkömmlichen Entscheidungsprozessen ist kein Staat mehr zu machen, gesellschaftliche Akzeptanz wird zum neuen politischen Schlüsselwort. Die Sprengkraft von Stuttgart 21 liegt nicht in den technischen, ökologischen oder wirtschaftlichen Konfliktfeldern, sondern darin, dass diese verbunden sind mit neu formulierten Ansprüchen an politische Partizipation und auf bürgerliches Mitspracherecht. Nun treten die neuen Kommunikationsmedien auf den Plan und lassen Parteien, die sich des Themas annehmen, alt aussehen: Zur Durchsetzung des Themas werden sie nicht mehr gebraucht.

Ohne technische Vernetzung der Gegner von Stuttgart 21, ohne die raschen Videoclips auf Youtube wäre die Protestbewegung und die Welle nachfolgender print- und funkmedialer Anteilnahme gewiss nicht hoch genug geschwappt, um die Regierung in Stuttgart, gar die in Berlin zu erschüttern. Twitter-Nachrichten sind die Pflastersteine der neuen Bürgerbewegungen, Youtube-Accounts ihre subversiven Hinterzimmer. Das Bild des toten Benno Ohnesorg hat Tage gebraucht, ehe es um die Welt gegangen war. Das Bild des vom Wasserwerfer geblendeten Stuttgarter Demonstranten ging in Sekunden auf Reise.

Dabei war es – wider alles anderslautende Gerede vom Ende des Schriftzeitalters – die Schrift, welche wesentliche Inhalte transportierte, sei es via Twitter, sei es via SMS, sei es in den begleitenden Foren und Blogs. Dass in diesen Verkürzungen auf professionell ungeprüften Wegen Differenzierungen auf der Strecke bleiben, versteht sich. Hier hat guter Journalismus weiterhin sein wichtigstes Aufgabenfeld. Die Frage, die sich künftig stellen wird ist: Wer finanziert die Erfüllung dieser Aufgaben?

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