18.02.2011

Wer hat Angst vorm fremden Mann?

Essay von Thilo Spahl

Thilo Spahl über die biologischen Grundlagen des Universalismus.

Fremdheit ist wieder ein Thema geworden. Viele Deutsche sind der Auffassung, die Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen sei eine Art kaum zumutbarer Herkules-, wenn nicht sogar Sisyphosaufgabe. Aber sind wir Menschen uns wirklich so fremd?

Der menschliche Körper ist ein Ergebnis der Evolution. Wir alle sind die direkten Nachkommen von Vorfahren, die wiederum Nachkommen ihrer unmittelbaren Vorfahren waren. Jeder von uns ist somit das Resultat einer ununterbrochenen Reproduktionskette, die bis zum Beginn des Lebens vor über drei Milliarden Jahren zurückreicht. Die Organe, Eigenschaften und Fähigkeiten unseres Körpers sind Resultat von Variation und natürlicher Auslese. Sie sind so, wie sie sind, weil sie sich in der Vergangenheit als vorteilhaft erwiesen haben.

Was für unseren Körper gilt, gilt auch für unseren Geist. Er ist Ergebnis der Evolution und kann daher nur als Ansammlung von spezifischen Anpassungen gesehen werden, die es uns ermöglicht haben, die Herausforderungen der Vergangenheit erfolgreich zu meistern. Wir können den Geist also in Analogie zum Körper als ein Gefüge von vielen mentalen Organen sehen, mit denen wir von Geburt aus ausgestattet sind.

Einheit und Vielheit

Die Evolutionspsychologen John Tooby und Lea Cosmides haben sich in dem Aufsatz „Über die Universalität der menschlichen Natur und die Einzigartigkeit des Individuums“ der alten Frage nach der Einheit in der Vielheit gewidmet und diese aus evolutionärer Sicht beantwortet. (1) Sie erklären, weshalb sowohl die alle Menschen vereinende identische menschliche Natur als auch die mannigfaltigen Unterschiede zwischen den Menschen Ergebnis der Evolution sind und nicht im Widerspruch zueinander stehen. Grundsätzliche Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensmuster und kognitive Fähigkeiten sind demnach Anpassungen, also das Ergebnis natürlicher Auslese in der Vergangenheit. Solche Anpassungen sind aber stets im Zusammenwirken einer großen Zahl von Genen festgeschrieben, sodass sie nicht in einzelnen Personen auftauchen können und in anderen nicht. Sie sind darauf angewiesen, weitgehend unbeeinflusst von interindividuellen genetischen Unterschieden stabil zu funktionieren. Denn bei jeder Empfängnis werden ja zwei Genome komplett durcheinander gewürfelt, wobei keine Chance besteht, dass Komplexe aus Hunderten von spezifischen Genvarianten zusammenbleiben. Anpassungen dieser Art sind generell unabhängig von einzelnen Genvarianten und als psychologische Mechanismen universell – vergleichbar etwa dem aufrechten Gang, der fünffingrigen Hand, usw.

Angeborene Unterschiede zwischen den Menschen sind deshalb nicht Ausdruck unterschiedlicher Anpassungen, sondern entstehen entweder zufällig oder als Beiprodukt anderer Anpassungen. Insbesondere sind sie Resultat des beständigen Kampfs gegen Parasiten, der die wesentliche Ursache für die genetische Vielfalt des Menschen (und auch anderer langlebiger Organismen) darstellt. Wenn wir nicht mithilfe der sexuellen Reproduktion in jeder Generation die Gene neu mischen würden, würde es uns schon lange nicht mehr geben. Denn all die kleinen Feinde (Viren, Bakterien und sonstige Schmarotzer), die sich aufgrund der kurzen Generationenfolge von wenigen Minuten schnell so weiterentwickeln, dass sie unsere Schwachstellen ausnutzen können, würden sonst nicht nur uns dahinraffen, sondern auch alle unsere Klonbrüder und Klonkinder.

Mit dem Sex haben wir einen Weg gefunden zu bewirken, dass sich unsere Nachkommen in Millionen zufälliger Details von uns unterscheiden. Diese qualitativen Unterschiede spielen sich jedoch auf der Ebene ab, auf der die Parasiten agieren, auf der mikroskopischen Ebene der Proteine. Sie spielen sich nicht auf der Ebene der körperlichen und mentalen Organe ab. Daher gibt es keinen Widerspruch zwischen der universellen menschlichen Natur und der hohen genetischen Vielfalt. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass wir Menschen in allen für uns bedeutsamen Funktionen identisch sind, denn sie sorgt dafür, dass Funktionsbeeinträchtigungen sich nicht verbreiten können. Sie hat gleichzeitig dafür gesorgt, dass wir für Parasiten sehr unterschiedlich sind. Ob wir also bei Betrachtung unserer Mitmenschen mehr Gemeinsamkeiten oder mehr Unterschiede sehen, hängt davon ab, ob wir die Perspektive eines Menschen oder die eines Parasiten einnehmen.

Weiße, Schwarze, Deutsche, Türken

Noch wichtiger wird diese Überlegung, wenn wir verschiedene Ethnien betrachten. Wer sich nur oberflächlich mit Evolution beschäftigt, kann leicht zur Sichtweise neigen, ethnische Gruppen müssten über kurz oder lang lokale Genpools herausbilden, die in sich recht homogen sind und sich gleichzeitig deutlich von denen anderer Gruppen unterscheiden. Dem ist nicht so. Tatsächlich ist die durchschnittliche genetische Differenz zwischen mir und einem meiner Nachbarn zwölfmal größer als die Differenz zwischen dem Durchschnittsdeutschen und dem Durchschnittschinesen oder Durchschnittsaborigine.
Warum ist das so? Da genetische Unterschiede in erster Linie dazu dienen, es den Parasiten schwer zu machen, begünstigt die Evolution große Unterschiede zwischen eng zusammenlebenden Menschen, da diese von den gleichen Krankheitserregern bedroht werden. Um diese hohe Variation zu ermöglichen, werden zudem gewissermaßen Erbgutvarianten von außen begierig aufgesaugt, sodass es gleichzeitig eine Tendenz gibt, die Unterschiede zwischen den Gruppen zu verringern. „Ein einziges gemeinsames Kind von Menschen aus zwei verschiedenen ethnischen Gruppen führt dazu, dass alle seine Nachfahren auf immer mit beiden Gruppen verwandt sind. So verknüpfen selbst seltene Verbindungen über ethnische oder rassische Grenzen hinweg Familienstammbäume, was erklärt, dass Menschen, als weit schweifende und sexuell „allesfressende“ Art, trotz der weltweiten Verbreitung genetisch recht homogen sind,“ sagt Steven Pinker, der sich über die in Mode gekommene genetische Abstammungsforschung lustig macht, mit der man letztlich nur zeigen kann, dass jeder mit jedem verwandt ist. (2)

Wie entstehen Unterschiede?

Wenn wir alle mit dem gleichen Geist ausgestattet sind, wie kommt es, dass wir uns in unserer Persönlichkeit und unserem Verhalten mitunter stark unterscheiden? Es liegt daran, dass die menschliche Natur nicht aus invariablen Eigenschaften besteht, sondern aus Entwicklungsprogrammen, die in Wechselwirkung mit der Umwelt die jeweilige Persönlichkeit des einzelnen Menschen erst hervorbringen.

Der Prototyp eines angeborenen Entwicklungsprogramms ist der „Sprachinstinkt“. Wir können ein Baby in jede beliebige sprachliche Umgebung setzen, und es wird die jeweilige Sprache – Japanisch, Schwäbisch oder Gebärdensprache – automatisch erlernen. Es wird die Grammatik schon während der Kindheit fehlerfrei beherrschen, obwohl es häufig selbst im Erwachsenenalter die Regeln nicht vollständig erklären können wird. Die Vorstellung, mit den ersten Worten, die an das Ohr des Babys dringen, träfe gewissermaßen Kultur (Sprache) auf Natur (Gehirn), ist falsch. Zu diesem Zeitpunkt sind beide längst eng verwoben. Das Erbgut selbst ist bereits das Ergebnis des Zusammenwirkens von Natur und Kultur. Denn einzelne Genvarianten setzen sich im Verlauf der Evolution nicht durch, weil sie eine besonders schöne DNA-Sequenz aufweisen, sondern weil sie in Bezug auf konkrete vergangene Umwelten vorteilhafte Eigenschaften oder vorteilhaftes Verhalten begünstigt haben. Die Umwelt kann mit unserem Geist nur dort in Interaktion treten, wo sie auf in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und für die Auseinandersetzung mit der Umwelt entstandene Mechanismen stößt. So können wir ein Objekt nur erkennen, wenn wir in unserem Geist ein System zur Objekterkennung haben – das Auge reicht dafür nicht, es detektiert nur Licht. Ein Gehirn, das nur eine Allround-Informationsverarbeitungsmaschine wäre, ist eine evolutionäre Unmöglichkeit. Als Ergebnis der Evolution kann es nur aus einer Vielzahl komplexer, funktionsspezifischer Informationsverarbeitungsmechanismen bestehen.

Wie sind also Unterschiede im Verhalten der Menschen zu interpretieren? Tooby und Cosmides schreiben: „Wenn man wie wir an eine universelle menschliche Natur glaubt, beobachtet man unterschiedliche, manifeste Psychologien, Merkmale und Verhaltensweisen zwischen Individuen und Kulturen und sieht sie als das Ergebnis einer allgemeinen, evolutionär entstandenen angeborenen Psychologie, die unter unterschiedlichen Bedingungen arbeitet.“ (3) Die beobachtbaren Unterschiede sind demnach lediglich quantitative Variationen einzelner Komponenten der komplexen universell menschlichen Mechanismen – das Äquivalent zur unterschiedlichen Nasenlänge. Kulturelle Fremdheit ist in Hinblick auf die menschliche Psyche ein ebenso oberflächliches Phänomen wie die unterschiedliche Hautfarbe in Hinblick auf den Körper.

Steven Pinker fasst zusammen, was wir über die Unterschiede zwischen den Menschen wissen: „Es gibt systematische artumfassende Universalien, begrenzte Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zufällige quantitative Variation zwischen Individuen und wenige oder gar keine Unterschiede zwischen Rassen oder Ethnien.“ (4)

Gleicher Geist, unterschiedliche Sitten, unterschiedliche Intelligenz

Die Rede von der Universalität der menschlichen Natur besagt nicht, dass es nicht große Unterschiede in Sitten und Gebräuchen gäbe. Sie besagt aber, dass diese Unterschiede nicht daran liegen, dass verschiedene Gruppen grundsätzlich anders ticken, sondern dass sich unter anderen Umständen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen, etwa Aggressivität oder stark reflektiertes Verhalten, verändert. Die Universalität der menschlichen Natur bedeutet ebenfalls nicht, dass wir alle gleich intelligent sind. Es gibt große, angeborene Unterschiede zwischen Individuen – aber eben nicht zwischen ethnischen Gruppen.

In Hinblick auf die Intelligenz sind manifeste Gruppenunterschiede zwar beobachtbar. Tatsächlich schneiden Schwarze in IQ-Tests in den USA durchschnittlich deutlich schlechter ab als Weiße. Es ist aber aufgrund der grundsätzlichen Gleichheit des geistigen Apparats kaum denkbar, dass diese Unterschiede genetisch bedingt sind. Sehr viel wahrscheinlicher ist die Ursache in Umwelteinflüssen zu sehen. Offenbar hängt das Ergebnis in IQ-Tests weniger davon ab, woher man stammt, als vielmehr davon, in welcher sozialen Situation man sich als Gruppe befindet. Koreaner schneiden in Japan schlecht ab, in den USA aber gut. Auch marginalisierte Untergruppen innerhalb einer Ethnie schneiden schlechter ab. Steven Pinker nennt als Beispiele Kinder, die in Großbritannien auf Schleppkähnen aufwuchsen, amerikanische Gebirgsbewohner und gälisch sprechende Kinder auf den Hebriden. Auch sie wiesen früher erheblich niedrigere IQs auf, die sich jedoch in wenigen Generationen an die Werte der Mehrheitsbevölkerung anglichen. (5)

Wenn die Rede davon ist, 50 bis 80 Prozent der Intelligenz sei erblich, ist das höchst missverständlich. Die Zahl bezieht sich nämlich auf folgenden Sachverhalt: 50 Prozent der Unterschiede im IQ zwischen zwei Individuen aus einer sozial einheitlichen Gruppe lassen sich durch angeborene Unterschiede erklären. Es heißt also nicht, dass sich der Unterschied zwischen einem deutschen Akademikerkind und einem türkischen Kind aus bildungsfernem Elternhaus zu 50 Prozent auf die Gene zurückführen lässt. Vielmehr ist der durchschnittliche Unterschied zwischen Personen aus zwei verschiedenen sozialen Gruppen fast vollständig durch Umwelteinflüsse begründet. Wenn also jemand schreibt: „Intelligenz ist aber zu 50 bis 80 Prozent erblich. Deshalb bedeutet ein schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potenzial der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt“ (6), dann hat er „leider auch“ einiges nicht verstanden.

Das wäre verzeihlich, wenn sich Thilo Sarrazin nur durch das mangelnde intellektuelle Durchdringen seines Gegenstands hervortun würde. Er leitet jedoch aus dem falsch verstandenen Sachverhalt auch Forderungen ab, nämlich die nach einer Steuerung des Reproduktionsverhaltens. Bei der einen Gruppe würde er die Geburtenrate gerne ankurbeln, bei der anderen einschränken: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.“ (7) Solche Vorstellungen sind das eigentliche Problem, und sie werden nicht besser, wenn der Autor versucht, Juden gegen Türken auszuspielen. Steven Pinker, der die Erforschung von etwaigen genetischen Unterschieden zwischen ethnischen Gruppen verteidigt, schreibt: „Was die gesellschaftlichen Folgen angeht, so hätte eine Korrelation zwischen Rasse und durchschnittlichem IQ (immer sofern man sie beweisen könnte) keinerlei Konsequenzen für die Gesellschaft – solange man nicht von einer rassistischen Gesellschaft ausgeht, in der jedes Individuum einer rassischen Kategorie zugewiesen wird und nicht als Individuum aus eigenem Recht, sondern als Repräsentant dieser Kategorie eingestuft wird.“ (8) Die eugenischen Forderungen Sarrazins basieren genau auf einer solchen Kategorisierung, die Pinker als Merkmal einer rassistischen Gesellschaft bezeichnet.

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