12.12.2011

„Mein Freund ist Ausländer“ oder die „bunte Republik Deutschland“

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Die Trennung von Deutschen und Ausländern wurde durch Multikulti nicht infrage gestellt, sondern ideologisch untermauert.

In Deutschland hat sich etwas verändert: Einwanderung ist nicht nur zu einem der zentralen Themen der Politik geworden, sondern wird, auch von offizieller Seite, mit sozialen Schwierigkeiten gleichgesetzt. Was ist passiert? Erinnern Sie sich noch an die Kampagne „Mein Freund ist Ausländer“, die der DFB 1993 startete? An das Bild der „bunten Republik Deutschlands“? An Gerhard Schröders „Aufstand der Anständigen“? Früher galt, wenn von Immigration im Allgemeinen und Türken und Arabern im Besonderen die Rede war, eine klare Sprachregelung: Die „Anständigen“ vermieden vornehm Worte wie „zu viele“, um sich von Stammtischparolen abzugrenzen. Jetzt hat sogar Angela Merkel Multikulti für gescheitert erklärt. Heute ist Außenseiter, wer bestreitet, dass wir ein Immigrationsproblem haben.

Wer heute Immigration verteidigen möchte, befindet sich in der Defensive. Berlins Regierender Bürgermeister zum Beispiel streift durch seinen Kiez und schwärmt von den zahlreichen Beispielen gelungener Integration. Viele Berliner wohnen tatsächlich gerne in Neukölln oder Kreuzberg, und die türkische Mittelschicht gibt es durchaus. Auch ich möchte nicht in einem Berlin ohne Türken leben und schicke meine Kinder auf eine gemischte Grundschule in Tempelhof. Aber als Bekenntnis zur Immigration reichen solche Bekundungen nicht aus.

In mancher Hinsicht ist das Lob des bunten Treibens im multikulturellen Kiez selber Ausdruck des Problems. Das Feiern der Einheit in Vielfalt, also der Grundgedanke von Multikulti, hat die Probleme der deutschen Ausländerpolitik übertüncht und verfestigt. Denn dadurch wurde erstens Multikulti zum Ersatz dafür, die Zugewanderten wirklich als Teil der deutschen Gesellschaft zu sehen. Zweitens verhinderte die übergestülpte Politik der Toleranz eine offene Debatte über Immigration, die die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wirklich einbezogen hätte.

Die offizielle Politik, die das Image des neuen, toleranten Deutschlands durchaus pflegte, basierte jahrelang auf einer scharfen rechtlichen und sozialen Trennung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Die Kerngruppe der Einwanderer, die Arbeitsimmigranten der 60er- und 70er-Jahre und deren Nachkommen, wurde bis in die späten 90er-Jahre wie etwas „Provisorisches“ behandelt („Gastarbeiter“). Dadurch wurden selbst die hier geborenen Ausländer jahrelang von vielen Bereichen des Lebens und damit auch vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen (z.B. von Arbeitsplätzen, die die deutsche Staatsbürgerschaft voraussetzen). Diese Trennung zwischen Deutschen und Ausländern wurde durch Multikulti nicht infrage gestellt, sondern ideologisch untermauert. Multikulti trug dazu bei, dass die Unterschiedlichkeit zwischen den in Deutschland lebenden Gruppen in erster Linie als ethnisch oder kulturell wahrgenommen wurde. Nicht zuletzt auch im Zuge dieser Ideologie festigte sich die Meinung vieler Deutscher und Türken, sehr unterschiedlich zu sein, da man ja unterschiedlichen Kulturkreisen angehöre. Multikulti war eine Absage an das universalistische Menschenbild, das die Gemeinsamkeiten, die Interessen und Rechte aller, egal welcher Herkunft, in den Blickwinkel rückt. Sicher trug dies auch dazu bei, dass sich einige Gruppen tatsächlich in eigene Milieus zurückzogen und die eigene Herkunft zelebrierten. Wie oberflächlich die Beteuerung war, kulturelle Unterschiede seien doch schließlich gut, zeigte sich in dem Moment, in dem Probleme auftraten. Erstaunlich schnell sind viele ehemalige Multikultis zu dem Schluss gekommen, dass die Ursache der heutigen sozialen Misere nicht in strukturellen Problemen, sondern in der „Kultur“ der Türken und ihrer Kinder zu suchen sei.

Und noch aus einem zweiten Grund hat die Multikulti-Ideologie ganz entscheidend zur heutigen Stimmung beigetragen: Sie hat nicht nur die Differenzen zwischen In- und Ausländern verfestigt, sondern auch die Meinungsunterschiede innerhalb der Bevölkerung. Zur Romantisierung des „Kiez“ gehörte auch dessen Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft. Für viele Deutsche wurde die Ausgrenzung von Ausländern zu einer Quelle für Orientierung, Sicherheit und das Gefühl der kollektiven Zugehörigkeit. So wurde von den Freunden des multikulturellen Denkens die eigene Eingrenzung im bunten Kiez forciert – zumindest, bis die Kinder in die Schule kamen. Kritische Debatten über Einwanderung wurden aus Angst, ungute Emotionen zu schüren, lieber vermieden. Auch Kampagnen wie „Mein Freund ist Ausländer“ oder der „Aufstand der Anständigen“ dienten dem guten Gefühl und der Festigung des Selbstverständnisses und waren letztlich weniger ein Beitrag zur Gleichberechtigung als eine Demonstration korrekter Gesinnung oder kosmopolitischen Lifestyles.

Wer Immigration positiv verteidigen möchte, braucht neue Argumente. Egal, wie man zu dem Buch von Thilo Sarrazin steht (ich bin kein Fan), es wäre falsch abzustreiten, dass es wichtige Themen anspricht. Dazu gehört die Frage nach den Grenzen des Staates und seiner Sozialsysteme, die Widersprüchlichkeit unserer Armutsdebatte oder das Fehlen einheitlicher Werte, zu denen wir uns als Gesellschaft bekennen können. Auch nützt es wenig, die deskriptiven Befunde wie z.B. die Zahl der Schulabbrecher in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, die Statistik also, als falsch zu bezeichnen. Die Hypothesen allerdings, die der Analyse dieser Zahlen zugrunde liegen, lehne ich ab, allen voran die Vermischung der schlimmsten Auswirkungen deutscher Multikulti-Politik mit der Frage der Einwanderung.

Wer bestimmte Einwanderergruppen sowie deren Kinder und Enkelkinder für die sozialen, wirtschaftlichen und auch schulischen Probleme Deutschlands verantwortlich macht, kommt leicht zum Schluss, dass nur unmittelbaren Nutzen versprechende Immigration der „Hochqualifizierten“ wünschenswert sein könne und verfällt in partikularistisches und pessimistisches Denken. Eine solch defensive Sichtweise findet heute große Resonanz, da in weiten Teilen der Bevölkerung das Denken in Grenzen längst zu einer unreflektierten Gewohnheit geworden ist. Wir glauben, unsere sozialen Probleme seien natürliche Probleme, die festen Beschränkungen unterliegen. Diese weit verbreitete Sichtweise wurde nun auf das Thema Immigration übertragen. Bei Sarrazin stellt sie sich vor allem in der Annahme eines beschränkten Intelligenzpools innerhalb gesellschaftlicher Gruppen dar. Bei vielen anderen basiert sie auf der Vorstellung, dass es in einer Volkswirtschaft nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen gebe und dass diese, wenn sie von Einwanderern übernommen werden, nicht mehr für Deutsche zur Verfügung stünden. Sind diese jedoch schon an Deutsche vergeben, bliebe Ausländern nur die „Einwanderung in die Sozialsysteme“. All dies drückt aus, wie sehr wir den Blick dafür verloren haben, dass eine Gesellschaft dynamisch ist – oder zumindest sein könnte. Wir sehen unsere Mittel, wie das Geld im Portemonnaie, als begrenzt an und haben den Glauben an Wachstum verloren.

Um Immigration wieder als etwas Positives wahrnehmen zu können, müssten wir uns also sowohl von der Sichtweise multikultureller Politik als auch von dem Denken in Grenzen befreien. Wenn unsere Gesellschaft heute unsicher und gespalten wirkt, dann liegt dies nicht an den Immigranten. Jede Form der Immigration ist ein Ausdruck menschlicher Gestaltungskraft, weil damit der Wille nach einem besseren Leben verbunden ist. Wer seine Heimat verlässt und den Sprung ins Unbekannte wagt, zeigt, dass er sein Schicksal in die Hand nehmen möchte. Auch deswegen kann Einwanderung zu einer dynamischeren, offeneren und weniger selbstfixierten Gesellschaft beitragen.

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