05.10.2010
Die Rückkehr der Arbeit
Essay von Hartmut Schönherr
Überkommene Lebensphasenmodelle behindern die gesellschaftliche Entwicklung.
Zwei Diagnosen bestimmen die aktuellen Debatten um den Arbeitsmarkt. Die eine besagt, dass wir einen Arbeitskräftemangel haben, der die Entwicklung unserer Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bedrohe. Die zweite Diagnose besagt darüber hinaus, dass wir auch zur langfristigen Sicherung der Sozialsysteme mehr versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse benötigten. Angesichts erheblicher Rationalisierungsreserven nicht nur in den produzierenden Industrien, angesichts exorbitanter Erwerbslosenquoten, angesichts enormer Beschäftigungslust, die sich im arbeitsmarktnahen Hobbybereich nur unzulänglich auslebt, angesichts einer zur Unproduktivität verurteilten „Generation Praktikum“ und angesichts zunehmend aktiver Rentnergenerationen mutet die Behauptung des Arbeitskräftemangels keineswegs überzeugend an.
Höchst fragwürdig ist auch die Auffassung, das soziale Sicherungssystem sei nur durch mehr Geburten oder Einwanderung zu erhalten. Im 20. Jahrhundert galten Gesellschaften als rückständig, die eine Verbindung herstellten zwischen Kinderzahl und Alterssicherung. Der indische Reisbauer, der dem Entwicklungshelfer erklärte, er benötige die vielen Kinder – die er kaum ernähren konnte – für seine Altersversorgung, wurde zum Inbegriff dieser belächelten Rückständigkeit. Heute finden wir uns unversehens in der Rolle dieses Reisbauern wieder.
Lebenszeit und Arbeitszeit
Die kulturgeschichtliche Basis des gängigen Arbeitsmarktdiskurses ist ein Lebenszyklenmodell, das schon vor etwa 2000 Jahren im Hinduismus ausgeprägt wurde. Dieses Modell unterscheidet vier Lebensphasen, vier „Ashrama“: die Zeit der Ausbildung, die der Haushaltsführung, die des Rückzugs und die der Weisheit. „Produktiv“ im Sinne des Wirtschaftslebens sind dabei von angenommenen 100 Jahren Lebenszeit gerade einmal 25 Jahre, nämlich die Phase zwischen dem 26ten und 50ten Lebensjahr. Darin spiegelt sich ganz offenkundig die Lebenswirklichkeit einer sozial gesicherten Oberschicht. Umso bemerkenswerter, dass dieses Modell im modernen Sozialstaat als regulative Idee wieder auftritt.
Allerdings wird dieses Modell zunehmend von ganz unterschiedlichen Seiten aufgelöst: zum einen von Jungunternehmern, die schon während der Schulzeit die erste Firma gründen; des Weiteren durch einen Arbeitsmarkt, der manche Jugendliche unmittelbar im Anschluss an die Ausbildung an die Sozialfürsorge überstellt; am nachhaltigsten allerdings durch alternierende Lebensstile, in denen durch Teilzeitarbeitsverhältnisse oder im Wechsel von Beschäftigungsphasen mit Freistellungsphasen „produktive“ und „zurückgezogene“ Lebensphasen nebeneinander oder im steten Wechsel existieren – bisweilen erzwungen, bisweilen freiwillig. Auch die Forderung nach einem „lebenslangen Lernen“ verabschiedet sich von der starren chronologischen Einteilung der Lebensphasen.
Gleichfalls ausgehöhlt wird die mit diesem altertümlichen Lebensphasenmodell verbundene Verschränkung von Arbeitswelt und Sozialsystem, u.a. mit den oft zitierten „versicherungsfremden Leistungen“ im Bereich der Altersversorgung. Im Bereich der Gesundheitsversorgung unterläuft die kostenlose Mitversicherung nicht arbeitender Familienmitglieder die Koppelung an die Arbeitswelt. Auch die Mitgliedschaft in einer Privatversicherung hebt die Verschränkung mit dem Arbeitseinkommen auf. Das Bismarck’sche Sozialsystem wird in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts zunehmend dysfunktional, mehr noch: es behindert die Produktivität ebenso wie die Lebensqualität.
Die Erfindung von Kindheit und Alter
Im 18. Jahrhundert entwickelte sich im Kontext aufklärerischer Erziehungsideale eine bis in die Gegenwart wirksame Form gesellschaftsferner Schulbildung. Philippe Ariès bezeichnet diese in seinem Grundlagenwerk Geschichte der Kindheit 1960 als „Quarantäne“ der Kinder und Jugendlichen. Besonders prägnant wurde diese „Quarantäne“ nach Ariès in den französischen Internaten, die bis zur Aufhebung des Ordens in Frankreich 1764 unter jesuitischer Leitung entstanden. So war es dort zum Beispiel nicht erwünscht, dass die Schüler ihre Ferien bei den Eltern verbrachten. Die Zöglinge waren „Pensionäre“ – eine Bezeichnung, die sie verband mit den Pensionären am anderen Ende der Altersskala.
Natürlich kannten die Jesuiten die grundlegenden Texte des Hinduismus, mit denen sich ihr Orden spätestens seit der Missionierung Indiens in der Mitte des 16. Jahrhunderts beschäftigte. Und auch, als sie im Zuge der Aufklärung in Frankreich, Bayern und andernorts die Bildungshoheit verloren, blieb ihr Modell einer dem unmittelbaren Verwertungszweck entzogenen asketisch-humanistischen Bildung in Klassenverbänden weiterhin wirksam, abgesehen von den nun reformierten Unterrichtsinhalten. Für Ariès ist dieser Abkapselungsprozess nur ein spezieller Ausdruck dessen, was er allgemein als „Entdeckung“ der Kindheit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert bezeichnete. Unter seinen Rezipienten setzte sich dann sehr schnell der pointierte Begriff von der „Erfindung“ der Kindheit durch.
Es macht durchaus Sinn, von einer parallelen „Erfindung“ des Alters zu sprechen. Gerade der Autor, der Wesentliches beigetragen hat dazu, die Kindheit als eine Lebensphase eigener Regeln und Rechte zu begründen, Jean-Jacques Rousseau, hat auch die Besonderheit des Alters für die Moderne in wesentlichen Aspekten herausgestellt. Das Alter ist für ihn einerseits ein Rückfall in kindliche Schwächen, aber auch eine Rückkehr in einen Freiraum abseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Bildkräftig wird dies im Titel seines letzten Werkes Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Zu einem relativen Abschluss kam diese „Erfindung“ des Alters in Deutschland mit der Einführung der gesetzlichen Altersversicherung 1889 – deren sozialer Sinn in Zeiten kontinuierlicher harter und gesundheitsbelastender Arbeit hier natürlich nicht angezweifelt wird.
Rückkehr der Arbeit
Infrage gestellt werden soll allerdings der fortdauernde Anspruch eines 2000 Jahre alten Modells, welches die Lebensphasen nach dem Vorbild einer – wie auch immer hoch entwickelten – Agrargesellschaft bestimmt, in welcher körperliche Leistungskraft der Maßstab für die Teilhabe an gesellschaftlicher Produktion ist. Begründend für die spezifische Geringschätzung der produktiven Phase innerhalb des Ashrama-Modells ist darüber hinaus die implizite hinduistisch-christliche Auffassung von der „Mühsal“ der Arbeit. Die moderne „Freizeitgesellschaft“ ist nur eine spezifische Ausprägung des Bemühens, diese Folge der Vertreibung aus dem „Paradiesgarten“ zu kompensieren.
Wer die Mühen anschaut, denen der moderne Mensch sich in seiner Freizeit und nach seiner Verrentung unterwirft, sei es bei der Renovierung der eigenen Wohnung, im Kleingarten oder bei sportlichen Aktivitäten, der kann nur diagnostizieren, dass Mühsal und Freizeit längst keine Gegenbegriffe mehr sind. Die aus der Freizeitgesellschaft vermeintlich exilierte Arbeit kehrt mit Macht in alle Lebensbereiche zurück – als Anspruch auf ein erfülltes, gestaltend eingreifendes Leben. Eine avancierte Maschinentechnik sorgt komplementär dafür, dass gesundheitsschädigende Mühsal zunehmend aus der Arbeitswelt verschwindet.
Dass eine Gesellschaft, die Konsum und konsumorientierte Freizeitgestaltung als erste Bürgerpflicht zur Erhaltung der wirtschaftlichen Entwicklung ansieht, nicht zukunftstauglich ist, spricht sich allmählich herum. Die Neubegründung der Arbeitsgesellschaft steht an. Es hängt von politischen Weichenstellungen ab, ob dies primär mit Dienstbotenjobs für eine Kapitalaristokratie geschieht, als steuerfinanziert aufgeblasenes Vollbeschäftigungsprogramm nach DDR-Vorbild oder mit einem freiheitlichen Arbeitsmarkt, der die ohnedies längst durchlöcherte Verkoppelung von Arbeitsleistung und Sozialleistungen überwindet und die Dreiteilung des Lebens in Ausbildungszeit, Erwerbszeit und Rentnerparadies aufhebt.