12.12.2011

Natur-Betrachtungen

Kommentar von Tobias Prüwer

Der Rekurs auf den Naturbegriff ist wenig geeignet, um in ökologischen Fragen wie dem Abwägen zwischen Ressourcennutzung und Umweltschutz Klarheit zu erreichen. Von Tobias Prüwer

Natur boomt: Alles ist gegenwärtig „natürlich“. Mit dem Hinweis „Ohne künstliche Stoffe“ werben die Discounterprodukte, und sogar Convenience-Food soll nur aus „natürlichen“ Inhaltstoffen gemacht sein. Der einstige Kampfbegriff insbesondere außerparlamentarischer Bewegungen der 70er-Jahre ist längst in der sogenannten Mitte der Gesellschaft angekommen. Selbst die Atomkraft wird damit beworben, umweltschonend und klimaneutral und damit zum Wohle der Natur zu sein. Rein und ein Heiligtum, verfügbar und ein Rohstoff – derzeit prallen zwei Naturverständnisse aufeinander. Auf verdrehte Weise kommt hier die Dialektik zwischen Herrschaft und Befreiung zum Vorschein. Was für eine Natur man wählt, ist nicht nur entscheidend für ethische oder politische Fragen, sondern darin zeigt sich auch die Frage nach dem Wesen – der Natur – des Menschen. Dabei erweist sich die Dichotomie Natur/Kultur als nicht zweckmäßig für ökologische Debatten. Dieser Beitrag beackert, um etwas Klarheit bemüht, das begriffliche Feld der Natur und fährt an der offen liegenden Bruchlinie zwischen Natur und Kultur entlang. Diese ist der Schlüssel für die divergierenden Vorstellungen vom instrumentellen Zugriff bzw. der Exploration und der behutsamen wie ganzheitlichen Produktion.

Skizzen an der Natur

Mit der Natur scheint es sich ganz so zu verhalten, wie Augustinus über die Zeit schrieb: Er wisse, was diese sei, solange er nicht danach gefragt werde; beim Versuch der Erklärung aber scheitere er. So selbstverständlich wir von Natur im Alltag sprechen, so seltsam okkult wird ihre Bedeutung beim Nachdenken über sie. Natur ist vieldeutig und ein alter Begriff. Zunächst ist das Werden, Wachsen, Gedeihen gemeint. Schließlich wird der Begriff weiter und weiter, bis er vor Abstraktheit alles und damit gar nichts mehr fasst. Die Natur braucht einen Gegensatz, um definiert werden zu können, wie oft Geist, Kultur, Sitte, Gott oder auch Technik. „Mit dem Begriff ‚Natur‘ vermitteln wir daher 1) die gewordene und gewachsene Eigenart eines Lebewesens ...; 2) die Wesensart jedes Seienden, wie ihm diese von seinem eigenen Ursprung her zukommt (Wesenscharakter); 3) den naturgesetzlichen Bauplan jedes Seienden im Naturzusammenhang; 4) die Gesamtheit aller Wesen, die eine werdende Natur haben und sich zu einer Naturordnung zusammenfügen.“ [1] Bei solchen Natur-Betrachtungen fällt auf, dass es in vielen europäischen Sprachen einen kollektiven Singular für Natur gibt, was global gesehen aber eher die Ausnahme ist. So gibt es in vielen Sprachen Einzelbezeichnungen für eben vorgefundene Dinge oder Landschaftselemente, aber eine solche Abstraktion, von der Natur zu sprechen, ist dort nicht vollzogen worden. Man braucht eine allgemeine Naturformel nur, um die im westlichen Denken tief verankerte konzeptuelle Kluft zwischen Natur und Kultur aufrechtzuerhalten.

Kleine „Natur“-Historie

Der Begriff „Natur“ stammt vom Lateinischen natura, das bedeutungslogisch zusammenfällt mit dem griechischen Wort physis. Diese wird dem Menschengemachten, der techné – also Kunst und Handwerk – entgegengesetzt, das als Nichtnatürliches gilt. In der Antike meinte der Begriff die Gesamtheit der Dinge, die ohne menschliches Zutun entstanden sind und unabhängig vom Menschen existieren. Das Ganze des Seienden und Werdenden bezeichnend, ist das organische Prinzip in der physis/Natur integriert. So wird der Organismus bei Platon als ein Abbild der lebendigen Welt gedacht. Bei Aristoteles ist die Natur das Werden der Materie, die Form- und Zweckursache. Bei den Stoikern dann wird physis auf das Äußerliche reduziert, welches eben von der höheren (Vernunft-)Natur des Menschen unterschieden ist: Die sittliche Ordnung tritt der natürlichen gegenüber. Im christlichen Mittelalter tritt Natur als Schöpfung Gottes auf, als eigenständig tätig, als lebendiges Grün. Die menschliche Natur besteht in ihrer Ebenbildartigkeit Gottes. Dieser wird zur schaffenden Natur (natura naturans), der die weltlichen Entitäten (natura naturata) erschaffen hat.

In Humanismus und Renaissance bildet sich der Gedanke des Eingreifens in und der Machbarkeit von Natur: Sei es als Arzt und Magier, Architekt, Mechaniker oder Alchimist – die Materie zeigte sich dem Menschen auf vielfache Weise verfügbar. An zwei Namen lässt sich der Wechsel zum modernen Naturverständnis, das mit der frühen Neuzeit aufkam, festmachen: René Descartes und Francis Bacon. „Macht euch die Erde untertan“ – ganz im Einklang mit dem biblischen Wort (hier: 1. Mose 28) setzt Bacon Naturerkenntnis mit Beherrschung gleich. Die Natur wird durch theoretisch gestützte Messung und Experiment befragbar, wird durch die Formulierung allgemeiner Naturgesetze zum autonomen Wirklichkeitsganzen. Déscartes trennt sie als Ausgedehntes (res extensa), vom mentalen Bereich abgegrenzt. Die dualistische Trennung zwischen Geist und Natur ist bis heute wirkungsmächtig. Zusammen mit technologischer Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Erkenntnissen hat sich dieser Naturbegriff weitestgehend durchgesetzt. Der an die ehemalige Schöpferstelle getretene Mensch feilt demiurgisch an der machina mundi, die als hochkomplexes, aber steuerbares Gebilde gedacht wird.

Typisch für die Moderne wird schließlich, dass, nachdem die Natur als etwas Manipulierbares betrachtet wird, auch die Problematisierung dieser Manipulation problematisiert und somit dieses Explorations-Verhältnis selbst zum Thema wird. So wird in der Vorromantik die Natur als schön respektive erhaben entdeckt, und Petrarcas Metapher vom Buch der Natur, das aufgeschlagen vor dem Menschen liege, zieht ihre Kreise. Bei Jean-Jacques Rousseau mischen sich aufklärerische Ideen mit Naturlob, und der Gedanke keimt auf, dass der Mensch sich von der Natur zu weit entfernt habe. Weitere Aufladung erfährt die Naturvorstellung bei den Romantikern, und auch Alexander von Humboldt bringt die physische und moralische Natur des Menschen zusammen. Dem zunächst ästhetischen Wert der Natur schrieb man später auch einen ethischen Wert zu – so wie es zuvor unter dem Vorzeichen der Religion mit der Natur als Schöpfungsprodukt geschah.

Heutzutage lassen sich zwei miteinander konkurrierende Konzepte der Natur ausmachen: das mechanistische und das organizistische. Das eine, das an der Maschinenmetapher orientiert ist, wird „erstens durch die Subjekt-Objekt-Spaltung“ charakterisiert, „zweitens durch die Mechanizität, drittens durch das Experiment und viertens durch das Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis“. [2] Das Organ dient beim anderen Konzept als Sinnbild, das „erstens den Gedanken der Ganzheit“ beinhaltet, „zweitens den der Organizität, drittens den der Sympathetik und viertens den der Gleichrangigkeit aller Lebewesen“. Der dritte Punkt, das zur kurzen Erklärung, meint eine gewisse Mitleidsfähigkeit gegenüber anderen Kreaturen, und die Gleichrangigkeit hat in den verschiedenen Konzeptausformungen immer ihre Grenzen. [3] Beiden gemeinsam ist das Festhalten am Naturbegriff, der ihnen jeweils unproblematisch scheint.

Kulturelle Konstruktion: die Entdeckung der Natur

Interessanterweise können die zwei antagonistischen Positionen einer naturbeherrschenden und einer ehrfürchtigen Kultur historisch als Idealtypen nachgezeichnet werden, die aufeinander prallen. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „town and country, cultivation and wilderness, conquest and conservation, and meat and mercy.“ [4] Die unverdorbene Natur, die reine, in die die Gesellschaft noch nicht hineingewirkt hat, die unberührt ist, gibt es nicht. Seit die Menschen existieren, verändern sie ihre Umwelt, wirken auf die Natur ein. Die vermeintlich so natürliche Landschaft müsste eigentlich Kulturlandschaft heißen. [5]

Und auch die Schönheit der Natur rührt aus einer kulturellen Praxis: Sie wird vermehrt seit 1800 erschaut. So ist die noch heute so beliebte touristische Lust an der Aussicht ein Kind der Aufklärung. Im Gepäck der Bildungsreisen des gehobenen Bürgertums erlebte sie ihren Durchbruch im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die „Seh-Sucht“, wie der Kulturhistoriker Stephan Oettermann das Verlangen nach Fernsicht nennt, wird vom neuen Naturverständnis geweckt. [6] An der eher schnöden Mutter Natur entdeckte man die landschaftliche Schönheit. Schroffe Steinaufwürfe waren plötzlich anziehend, Sonnenlichtspiele wurden romantisch. Wohl keiner hat den Grenzgang zwischen Kitsch und Erhabenem so pittoresk eingefangen wie Caspar David Friedrich, man denke nur an den „Wanderer im Nebelmeer“. Übrigens schlägt sich dies technisch in der Entwicklung des Aussichtturms als neuem Bautyp nieder. Als ältestes deutsches Bauwerk dieser Art gilt ein Turm, der 1772 auf dem Melibokus im Odenwald errichtet worden ist.

Problematisch zeigt sich auch die Romantisierung indigener und/oder historischer Kulturen. Es gibt Fälle zur Genüge, wo es mit dem „natürlichen“ Leben nicht funktioniert hat. Zudem ist solch eine essentialistische Zuschreibung abzulehnen, bildet sie doch nur die Doublette der rassistischen Rede vom „Primitiven“. [7] Offenkundig bleibt die Beherrschung der Natur durch die Vernunft nicht bei Pflanzen oder Tieren stehen, sondern schreibt sich vielfach auch am Menschen ein. Wurden z.B. psychisch Kranke und Gesunde aufgrund einer vermeintlich natürlichen Basis unterschieden, so wurde mit Beginn des naturmanipulierenden Denkens die Frau als angeblich unvernünftiges Wesen dem Naturbereich zugeschlagen und ihre Unterdrückung gerade durch die Kultur-Natur-Dichotomie legitimiert. Die Frau am Herd galt als natürliche Ressource. Auch in der Hexenverfolgung, die ab Mitte des 16. Jahrhunderts für rund 100 Jahre tobte, fand dieser misogyne Blick auf die Natur seinen Widerhall, auch wenn es zu einfach gedacht ist, sie monokausal auf das veränderte Naturverständnis zurückzuführen. Die sich im Paradigma der Naturbeherrschung vollziehenden Praktiken wurden zunehmend invasiv und den menschlichen Körper betreffend – ob sie auch auf seine Natur zugreifen, lässt sich in dieser Perspektive nicht mehr sagen.

Für und wider die Natur: sinnlos?


Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: Wir selber sind Natur, quand même. Folglich ist Natur etwas ganz anderes als das, was wir beim Nennen ihres Namens empfinden.[8]

Seit der Antike wurde selten von Kultur und Politik gesprochen, ohne auch auf die Natur Bezug zu nehmen. „Keine einzige Zeile wurde geschrieben – zumindest in der abendländischen Tradition –, in der auf das Wort Natur, natürliche Ordnung, Naturgesetz, Naturrecht, unerbittliche Kausalität, unantastbare Gesetze der Natur nicht einige Zeilen, Absätze oder Seiten später eine Feststellung zur Änderung des öffentlichen Lebens gefolgt wäre. ... [M]al bedient man sich der natürlichen Ordnung, um die menschliche zu kritisieren, mal der menschlichen Ordnung, um die natürliche zu kritisieren.“ [9]

Daraus wird ersichtlich, dass der zweifelhafte Natur-Kultur/Geist-Dualismus nicht einfach aufzulösen ist, um in eine vormoderne Ungeschiedenheit zurückzufallen – wie vielfach vorgeschlagen. An der Idee des Menschen ist ohne Frage festzuhalten, ohne weiterhin die Subjekt-Hypostase zu bedienen. Vielmehr sollte man – und das wäre dann eine Art spätmoderne oder postmoderne Haltung zur Natur – die vielfache Eingebundenheit des Menschen in Naturzusammenhänge anerkennen, ohne diese wiederum zu verabsolutieren. Das Konstrukt, welches ein jedes Naturverständnis darstellt, muss immer mitbedacht werden. In der Apostrophierung von Ulrich Becks berühmtem Diktum könnte man hier von einer Reflexivwerdung des Naturverständnisses sprechen.

So zeigt sich, dass nicht nur große Teile der grünen Bewegungen einem merkwürdigen Naturbegriff frönen, sondern genauso jene, die unreflektiert durch die instrumentelle Brille schauen. Es scheint in dieser Hinsicht sinnlos, weil unproduktiv, für oder gegen die Natur zu argumentieren. Vielmehr könnte es das Gebot der Stunde sein, sich Einzelphänomene anzuschauen und Probleme en detail zu diskutieren, anstatt immer auf die Natur als großen Zusammenhang zu verweisen. „Ist Natur das, was ist, ohne dass der Mensch es gemacht hat? Oder alles das, was man beobachten kann, ohne eine Bildermaschine dazwischen?“, fragt Georg Seeßlen in einem jüngst erschienen Text im Freitag. „Wenn man die Natur näher ansieht“, so fährt er fort, „schaut sie, nein, nicht: ferner, sondern eher kleinteilig zurück. Belebte und unbelebte Natur, natürliches und unnatürliches Verhalten, Naturschutzpark, natürlich gewachsene Weihnachtsbäume, naturidentische Inhaltsstoffe. Natur, könnte man vielleicht sagen, ist schon deswegen immer in Gefahr, weil sie zur Sprache gebracht wurde.“ [10]

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